Kapitalistische Variationen: Liberal, sozialdemokratisch, politisch-korrupt

Als vor etwas mehr als zehn Jahren die weltweite Finanzkrise ausbrach, sahen manche durchaus mit einem stillen Vergnügen, dass damit die „Kernschmelze“ des Kapitalismus eingesetzt habe, von dem er sich so schnell nicht mehr erholen werde. Die Finanzkrise habe zudem nun auch dem letzten bewiesen, dass dieses Wirtschafts- und Finanzsystem nicht überlebensfähig und ablösungsbedürftig sei. Nun, zehn Jahre danach, strotzt der Kapitalismus vor Kraft, so scheint es zumindest.

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Die Börsen boomen trotz Corona-Krise. Die Systemfrage stellt gegenwärtig kaum noch jemand. Gleichwohl hat der Kapitalismus seine toxischen Seiten nicht verloren. Ob das Finanzsystem nicht doch noch eines Tages zusammenbricht, wenn Zentralbanken und Regierungen nicht immer neue Rettungsmilliarden aufbringen können oder wollen, weiß keiner. Die Klimakrise hat ohne Zweifel auch etwas mit dem Kapitalismus und seinem inhärenten, endlosen Wachstumszwang zu tun. Und die weltweit anhaltend hohe Ungleichheit von Einkommen und Lebenschancen ist weiter auf dem Malus-Konto der Wirtschafts- und Gesellschaftsform zu verbuchen.

Andererseits hat sich der Kapitalismus als außerordentlich wandlungs- und anpassungsfähig gezeigt. Es gibt durchaus ernstzunehmende Stimmen, die ihm zutrauen, auch die von ihm selbst erzeugten Probleme, vom Klima bis zur sozialen Ungleichheit, einzudämmen und zu lösen. Dass es bereits ein dreiviertel Jahr nach Ausbruch der Corona-Pandemie hochwirksame Impfstoffe gab, hat nicht nur mit vielen Milliarden Staatsgeld zu tun, sondern auch damit, dass wagemutige kapitalistische Investoren frühzeitig in neue Technologien des Impfstoffdesigns investiert haben. Die Abmilderung der Pandemiefolgen durch digitale Kommunikationsmittel wäre ebenfalls ohne kapitalistische Innovationsdynamik kaum denkbar gewesen.

Branko Milanović, Professor an der City University in New York und zuvor lange Zeit Chef-Ökonom der Weltbank, hat nun eine originelle Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus vorgelegt. Siehe auch das Blog von Branko Milanović: globalinequality blog.

Die zentrale These seines Buches ist, dass es auf absehbare Zeit keine realistische Alternative zum Kapitalismus gibt. Dieser hat erst einmal gesiegt. Auch Länder wie China und Russland sind auf die Entwicklungslogik des Kapitalismus eingeschwenkt und auch sie tragen dazu bei, wie zuvor die westlichen Länder, dieses Wirtschaftssystem weltweit zu verbreiten. Die noch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehegte Hoffnung, dass sich mit dem Übergang zu einem marktwirtschaftlichen System in diesen Ländern auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie allmählich verankern, ist allerdings inzwischen gründlich enttäuscht worden.

Politischer Kapitalismus

Vielmehr hat sich in großen Teilen der Welt, wie Milanović überzeugend darlegt, eine durchaus vitale Variante des Kapitalismus herausgebildet, der die Modelle des klassischen liberalen Kapitalismus wie in den USA und sozialdemokratisch abgemilderten Kapitalismus wie in den meisten Ländern Europas herausfordert. Milanović spricht dabei vom „politischen Kapitalismus“, dessen Kennzeichen eine klare politische Steuerung der Wirtschaft, eine sehr eingeschränkte Rechtssicherheit und eine die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft durchziehende Korruption sind. Korruption sei dabei nicht unbedingt dysfunktional, sondern diene der politischen Führung auch dazu, in der Konkurrenz mit Eliten der Wirtschaft die Oberhand zu behalten und ein System von Abhängigkeiten zu schaffen, das die jeweiligen Machthaber schützt, in China die Kommunistische Partei, in Russland das System von Wladimir Putin. Allerdings gibt es auch hier ein bedeutendes Steuerungsproblem. Man muss die Korruption kontrollieren und verhindern, dass sie ihren Nutznießern an der Spitze über den Kopf wächst. Dabei hilft dann ein politisiertes, aber durchaus schlagkräftiges Rechtssystem, das immer dann hart durchgreift, wenn die politische Führung die Kontrolle zu verlieren droht.

Milanović geht davon aus, dass man diesen „politischen Kapitalismus“ gründlich missversteht, wenn man Erscheinungen wie Korruption und eine fehlende Differenzierung zwischen Politik und Wirtschaft als Pathologie betrachtet, die die Funktionsfähigkeit des Systems auf Dauer beeinträchtigt. Bisher zeigt er sich nämlich durchaus als leistungsfähig. China hat große Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und der Herausbildung einer Mittelschicht gemacht und versucht, sein System inzwischen auch und gerade in Entwicklungsländern als zukunftsweisend zu propagieren. Der Westen muss sich insofern auf eine Systemkonkurrenz ganz neuer Art einstellen, bei der noch keineswegs ausgemacht ist, wer die besseren Karten in der Hand hat.

Foto: Marcel Strauß auf Unsplash

Das wird sicher auch davon abhängen, wie weit es dem „liberalen Kapitalismus“ als Gegenmodell gelingt, seine toxischen Bestandteile in den Griff zu bekommen. Dazu gehört sicher in erster Linie das Problem der sozialen Ungleichheit. Milanović präsentiert auch zu diesem Aspekt sehr interessante und für den einen oder anderen sicher neue Befunde und Daten. So hat sich das Bild der „Klassenspaltung“ im Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert. Es ist nicht mehr so, dass es auf der einen Seite wachsende Kapitaleinkommen gibt, auf der anderen Seite stagnierende oder gar sinkende Arbeitnehmereinkommen. Inzwischen verläuft auch zwischen den Schichten ein tiefer Graben, die man formal als Arbeitnehmer bezeichnen würde. Die Einkommen aus Arbeit klaffen immer mehr auseinander. Dax-Vorstände werden mit Millionen-Einkommen pro Jahr vergütet. Auch immer mehr Spezialisten in Banken, bei IT-Unternehmen oder internationalen Anwaltskanzleien stoßen in extrem hohe Einkommenssphären vor. Folgt man den Daten Milanovićs, dann trägt dies inzwischen fast noch stärker zur Einkommensungleichheit bei als die unterschiedliche Beteiligung am Produktivkapital der Gesellschaft.

Klassen- und Privilegienstrukturen

Aber ähnlich wie beim klassischen Kapitalbesitz gibt es auch beim Zugang zu lukrativen Positionen zunehmend das Phänomen der Vererbung von Reichtum und Chancen auf der einen Seite und von relativer Chancenarmut auf der anderen Seite. Milanović spricht von einem „doppelten Gleichgewicht“ in der Erhaltung von sozialen Ungleichheiten. Zum einen rekrutiert sich die oberste Führungsschicht vor allem in der Wirtschaft, teilweise aber auch in Kultur und Politik, immer mehr aus sich selbst heraus. Wer aus einem privilegierten Elternhaus kommt, hat deutlich bessere Chancen, in extrem gut dotierte Positionen einzurücken als Kinder aus Mittelschicht- oder gar Arbeiterhaushalten. Für Deutschland bestätigt dies etwa der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann in vielen Untersuchungen. Hinter einem vordergründig „meritokratischen“ System, das nur auf Leistung abstellt, können sich dann in großem Umfang Klassen- und Privilegienstrukturen erhalten, die dafür sorgen, dass sich Reichtum und Privilegierung ebenso vererben wie Armut und Benachteiligung. Einzelfälle, bei denen es dann doch auch ein Arbeiterkind in einen Dax-Vorstand schafft, sind offenkundig eher die im Sinne der Legitimation des Systems willkommene Ausnahme, die die Regel bestätigt, als ein Zeichen der Verflüssigung von festgefügten Schicht- und Klassenstrukturen.

Neben der Vererbung von Ungleichheit durch Jobchancen macht Milanović zum anderen auf einen weiteren, oft übersehenen Treiber von Ungleichheit aufmerksam. Reichtum und soziale Distanz entsteht nicht nur durch individuelle Einkommensunterschiede, sondern in einem überraschend großen Umfang durch Verhaltensmuster im Heiratsmarkt. „Assortative Partnerwahl“ lautet der entsprechende Fachbegriff. „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ gilt auch im Hinblick auf die finanzielle Situation, das Vermögen, aber auch die Ausstattung mit Bildungs- und kulturellem Kapital. Auch die assortative Partnerwahl führt dazu, dass sich soziale Schichten voneinander absondern. Kombinierte Spitzeneinkommen und Zugang zu den sozialen Netzwerken der Einflussreichen und Mächtigen auf der einen Seite, Kombination von Niedrigeinkommen und begrenzte Berufschancen auf der anderen. Die Forderung, Frauen verstärkt in Spitzenpositionen zu berufen, hat hier einen paradoxen Nebeneffekt, führt dies im Ergebnis doch dazu, Einkommen und soziale Chancen innerhalb der Gesellschaft insgesamt noch ungleicher zu verteilen als bisher schon. Milanović beziffert den Beitrag dieses Musters zur Zunahme sozialer Ungleichheit in den USA mit einem Drittel, in der Gesamtheit der OECD-Länder auf rund elf Prozent.

Wie kann man solchen Tendenzen der Zementierung von Ungleichheit entgegentreten? Milanović gibt dazu relativ wenige Antworten. Und bei diesen bezieht er sich sehr stark auf die Situation in den USA. Ein gutes, wirklich Chancengleichheit schaffendes Bildungssystem gehört dazu und natürlich auch ein stärker auf Umverteilung setzendes Steuersystem, in dem vor allem Erbschaften höher besteuert werden. Das ist keine so ganz neue Erkenntnis. Aber sie bleibt ebenso richtig, wie es schwierig ist, daraus in der politischen Praxis die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Wenn der liberale Kapitalismus sich in der neuen intrakapitalistischen Systemkonkurrenz behaupten will, braucht es zudem einen ausgebauten, aber auch effektiven Wohlfahrtsstaat. In dieser Hinsicht ist Europa sicher deutlich weiter als die USA. Aber auch hier ist ständige Nachjustierung und Reform notwendig, um zu verhindern, dass der Wohlfahrtsstaat bürokratisch degeneriert und an Akzeptanz verliert.

Migration in großem Maßstab

Milanović beschäftigt sich ausführlich mit den Voraussetzungen des Wohlfahrtsstaats, die man kennen muss, wenn man über seine Weiterentwicklung diskutiert. Es ist unumstritten, dass der Wohlfahrtsstaat bis heute eng mit dem Nationalstaat verbunden ist. Er schöpft seine Legitimität in hohem Maße aus seiner Einbindung in nationale Normensysteme und ein gewisses Gemeinschaftsempfinden, mit dem man an Solidarität appellieren kann, um die mit dem Wohlfahrtsstaat verbundene erhebliche Umverteilung innerhalb der Gesellschaft zu rechtfertigen.

Diese richtig beschriebene Prämisse wird in Zeiten der Globalisierung und zunehmender Migration, auch sie ein Ergebnis des Siegeszugs des Kapitalismus, zunehmend in Frage gestellt. Keiner kann es Menschen verdenken, dass sie dorthin gehen, wo sie für sich und ihre Familien bessere Lebenschancen sehen. Bei nach wie vor hohen Einkommensdifferenzen zwischen verschiedenen Ländern und Regionen entsteht daraus zwangsläufig Migration in großem Maßstab. Interessanterweise scheint es auch hier Marktmechanismen zu geben, die die Migration beeinflussen. Für „High Potentials“, also besonders qualifizierte und am Arbeitsmarkt chancenreiche Menschen, ist es bei der Wahl des Migrationsziels wichtig, einen besonders großen Verdienstzuwachs zu erzielen. Sie gehen tendenziell eher dorthin, wo es gut bezahlte Jobs, aber auch niedrige Steuern gibt. Geringer Qualifizierte wissen um ihr Arbeitsplatzrisiko, das sie auch im Zielland tragen werden. Für sie ist der Zugang zu Sozialleistungen ein wichtigeres Kriterium. Auf diese Weise kann ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat dazu führen, dass Immigration die sozialen Risiken in der Gesellschaft erhöht, während Länder mit einem geringen Sicherungsniveau eher für Qualifizierte mit besseren Beschäftigungschancen interessant sein können. Diese Trends lassen sich etwa beim Vergleich der Immigrationsstrukturen von Deutschland und den USA bestätigen.

Clevere Konzepte statt moralisch aufgeladener Diskurse

Immigration kann für Aufnahmegesellschaften sehr nützlich sein. Sie kann aber Sprengstoff für den sozialen Zusammenhalt bergen. Deshalb ist die Bewältigung der Migrationsdynamik eines der zentralen Zukunftsthemen, wenn es um die Sicherung des Wohlfahrtsstaates und damit um eine demokratische und liberale Verfassung des Kapitalismus geht. Dabei sind clevere Konzepte meist wertvoller als moralisch aufgeladene Diskurse.

Milanović geht das Thema als Ökonom an und stellt fest, dass der Staatsbürgerstatus in einem Land mit Vorteilen verbunden ist, besonderen Bürgerechten, aber auch einem privilegierten Zugang zu Sozialleistungen. Er bezeichnet dies mit dem Begriff, den die Ökonomie für leistungslose Einkommen verwendet, als „Rente“, die ihren auch ökonomischen Wert vor allem daraus bezieht, dass eben nicht jeder diesen Status mit seinen besonderen Rechten hat. Milanović geht nun davon aus, dass es für die Akzeptanz von Immigration in einer Gesellschaft notwendig ist, diese „citizen-rent“ nicht über Gebühr zu entwerten, was auch heißt, Migranten nicht von Anfang an in den Genuss aller Rechte kommen zu lassen. Mit diesem Gedanken dürfte sich Milanović bei einigen durchaus unbeliebt machen. Dennoch – der grundlegende Befund ist richtig. Abgestufte Teilhaberechte können dazu beitragen, dass die Gesellschaft Migration akzeptiert. Freilich liegen auch darin ohne Zweifel Konfliktpotentiale und ökonomische Risiken. Deshalb wird man den Zugang zum vollen Bürgerstatus als Gegenleistung für erfolgreiche Integration nicht verwehren können.

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Der globale Kapitalismus birgt ohne Zweifel Risiken für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, auch für Demokratie und Rechtsstaat. Darin werden viele Kapitalismus-Kritiker mit Milanović einig sein. Nur – es gibt offenkundig keine wirklich gangbaren Alternativen. Der Kapitalismus ist, so der Titel der englischsprachigen Originalausgabe, mit sich „allein“. Aber er hat sich in seiner Entwicklung immer mehr verschiedene Gestalten gegeben, Kapitalismus in einer historisch gewachsenen Wahlverwandtschaft mit Rechtsstaat und Demokratie und Kapitalismus als politisch gesteuerte Marktwirtschaft mit nur begrenzter Rechtssicherheit und im Zweifelsfall auch ohne Demokratie. Beide können effektiv sein, beide können Wohlstand und Wachstum generieren, beide können möglicherweise auch Antworten auf die drängenden Fragen von Klima, Ökologie und Armut finden. Freiheit und Recht machen aber zweifellos nach wie vor einen Unterschied, für den es sich lohnt, politischen Gestaltungsehrgeiz zu entwickeln. Allerdings sollte man sich über die Schwierigkeiten dabei keinen Illusionen hingeben. Die Botschaft muss „rechts“ ebenso wie „links“ und natürlich auch in der aufgeklärten Mitte des politischen Spektrums verstanden werden.

Das wissenschaftlich sehr gut fundierte Buch von Milanović eröffnet neue Blicke auf den real existierenden Kapitalismus. Das ist schon mal nicht wenig. Dass es auch eine Reihe von politischen Vorschlägen enthält, die all denen, die sich hierzulande für eine soziale Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft ohne ideologische Scheuklappen einsetzen, nicht ganz fremd sein dürften, macht den Band rund.

Branko Milanović
Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht
Originaltitel: Capitalism Alone. The Future of the System That Rules the World
Hardcover, 404 Seiten, 26 Euro
ISBN: 978-3-518-42923-5 | Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

Unter dem Titel „Ohne Alternative?“ erschien die Rezension zuerst auf Faustkultur.

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

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