Was dem Planeten hilft, nützt nicht notwendig der geistigen Gesundheit der Beschäftigten und der Qualität ihrer Arbeitsbeziehungen. Eine Möglichkeit, ökologisch Richtiges und sozial Förderliches zu realisieren, ist ein ausgefeilterer Einsatz von Technologie, der virtuelle Arbeit verbessern kann. Viele Unternehmen, die im letzten Jahr online gehen mussten, stürzten sich darauf, Videokonferenzen für alles zu nutzen. Aber andere Tools funktionieren gut für verschiedene Aufgaben. Bei LeanIn.Org, einer Organisation, die sich der Förderung der Zusammenarbeit berufsrufstätiger Frauen widmet und die schon lange vor der Pandemie die Arbeit aus der Ferne förderte, arbeiten die Teams auf Google Docs. Das ermöglicht ein gemeinsames, aber „asynchrones“ Arbeiten. Die Frauen arbeiten dort zusammen, aber in ihrer eigenen Zeit an einer Aufgabe. Meetings beginnen mit einem stillen Brainstorming mit Jamboard, einem virtuellen Whiteboard. Ziel ist es, sagt Rachel Thomas, die Chefin der Gruppe, auf verschiedene Arten zu kommunizieren, um unterschiedliche Menschen einzubeziehen – langsame und schnelle Denker, verbale und visuelle Lerner, Introvertierte und Extrovertierte.
Gute Antworten auf die ökologische Frage sind nicht automatisch gute Antworten auf die soziale Frage. Videokonferenzen verbrauchen weniger als ein Zehntel der Energie, die für persönliche Meetings benötigt wird, wenn man die Reisekosten und die Ausrüstung berücksichtigt. Hingegen sind die Folgen für die mentale Gesundheit der Beschäftigten und für deren Beziehungen untereinander weniger eindeutig. Einige genießen es, über Bildschirme zu kommunizieren, während andere schon von der Unfähigkeit ihrer Kollegen, die Stummschalttaste zu beherrschen, erschöpft sind.
Die Britische Wochenzeitschrift The Economist hat unlängst die Ergebnisse einiger neuer empirischer Untersuchungen vorgestellt und die Nach- und Vorteile von Remote-Arbeit (Fern-Arbeit) in angelsächsischen Staaten beschrieben.[1]
An den Studien beteiligt waren das Virtual Human Interaction Lab“ der Stanford University, die Saïd Business School der Universität Oxford, die Georgetown University, die Harvard Business School, Microsoft, PWC und Zoom.
Nach einem Pandemiejahr leiden offenbar viele unter Zoom-Müdigkeit. Nach Forschungen der Stanford University war ein Problem bei Videoanrufen, dass sie die Menschen dazu zwangen, ihre Gesprächspartner:innen in Großaufnahme anzusehen. Wenn sie mit der Standardkonfiguration von Zoom mit jemandem an einem Laptop sprachen, erschien sein Gesicht so groß, als würden beide 50 cm voneinander entfernt stehen. In dieser Nähe erwartet das Gehirn eines Menschen aber entweder einen Schlag oder einen Kuss. Hinzu kam der lange Augenkontakt, der bei persönlichen Treffen seltener ist. Jeremy Bailenson, Direktor des Virtual Human Interaction Lab der Stanford University, verglich die Erfahrung bei Videotelefonaten mit Mitarbeiter:innen, die in einen Fahrstuhl gesteckt wurden und denen verboten war, den Blick abzuwenden.
Vertrauen aufzubauen, ist schwierig
Sowohl die Unternehmensbeispiele als auch die Lösungsansätze zur Verbesserung der Arbeit in Home Offices stammen aus dem angelsächsischen Raum. Deshalb ist viel von Arbeitskultur und psychologischen Aspekten der Arbeit die Rede, die die Kooperation und Kommunikation verbessern. Aber es fehlt ein weiterer wichtiger Schritt: die guten Ansätze für die Regulierung der Arbeitsverhältnisse auf die Stufe der Allgemeinheit zu heben. Deshalb ist die Gesetzesinitiative des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil zur mobilen Arbeit von Bedeutung, die die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Förderung und Erleichterung mobiler Arbeit schaffen will. Es braucht einen solchen rechtlichen Rahmen, um eine gute Idee und ihren Zeitkern zu verstetigen und Rechte zu generieren.
Der Aufbau von Vertrauen ohne die sozialen Hinweise der real Anwesenden ist schwierig. Jede verspätete Antwort auf eine E-Mail und jeder Blick zur Seite bei einem Videoanruf erweckt Misstrauen. Virtuelle Verhandlungen „geraten eher in eine Sackgasse“, sagt Paul Fisher von der Saïd Business School der Universität Oxford. Die Verhandlungspartner haben Mühe, die Emotionen des anderen zu verstehen und werden frustriert.
Videokonferenzen haben auch eine andere nonverbale Kommunikation. Menschen nicken dramatisch, um nonverbale Signale zu senden, die sie bei persönlichen Treffen ganz natürlich vermitteln. In realer Präsenz ist die Unruhe wahrnehmbar, wenn sich eine Präsentation in die Länge zieht. Online ist das weniger offensichtlich. Menschen sprechen bei Videoanrufen 15 Prozent lauter als bei persönlichen Treffen. Das ist anstrengend. Verzögerungen bei der Übertragung, die bei instabilen Internetverbindungen häufig auftreten, erschweren die Kommunikation zusätzlich. Schon eine Lücke von 1,2 Sekunden lässt die Teilnehmer:innen weniger aufmerksam, freundlich und gewissenhaft erscheinen.
Viele Menschen arbeiten härter
Das Jahr 2020 hat auch gezeigt, dass zur Überraschung mancher Chefs viele Beschäftigte härter arbeiten, wenn sie ihre Zuhause nicht zu verlassen brauchen, vielleicht sogar im Pyjama bleiben können. Eine Studie der Harvard Business School vom September letzten Jahres fand heraus, dass drei Millionen Angestellte in 21.500 Unternehmen länger arbeiteten. Sie bearbeiteten mehr E-Mails und nahmen an mehr Meetings teil (was ein eher zweifelhaftes Maß für Produktivität ist), nachdem die Pandemie zuschlug und sich die Arbeit erstmals online verlagerte. Das wird es Managern in Zukunft schwerer machen, abzulehnen, wenn Mitarbeiter:innen den Wunsch äußern, von zu Hause aus zu arbeiten. Die Leitung von Modern Work bei Microsoft hatte sich im März des letzten Jahres die Frage gestellt, ob die Beschäftigten im Grunde den ganzen Tag Netflix schauen würden; es scheint, dass sie das nicht tun.
Virtuelles Arbeiten hat durchaus eine demokratische Semantik. Bei Videogesprächen erscheint jeder als gleichgroßes, zufällig angeordnetes Quadrat. Statusmarker wie der Platz am Kopfende des Tisches oder neben dem Chef verschwinden. Je nach Zeitverschiebung können Mitarbeiter:innen überall auf der Welt in Massenmeetings direkt von ihren Chefs hören und mit weit entfernten Kollegen zusammenarbeiten. Außerdem gibt es eine Chance, dass sie sich untereinander kennenlernen. Eine Radiologin in Utah erzählte, dass vor Covid-19 ein Arzt in einem örtlichen Krankenhaus bei ihr vorbeikam, um ihr Scans zu zeigen. Seit sie von zu Hause aus arbeitete, rief er über Skype an und sie sah erstmalig sein Büro, das mit Schnickschnack gefüllt war. Sie hatte das Gefühl, ihn jetzt besser zu kennen. „Früher hatte man eine Persona für die Arbeit und eine Persona für zu Hause. (…) Während der Pandemie gibt es nur eine Persona.“ (Krish Ramakrishnan von BlueJeans/ Verizon Communications)
Allerdings sagten nach einem Jahr Heimarbeit über 40 Prozent der in 31 Ländern Beschäftigten, dass ihnen noch immer Büroutensilien wie ein Drucker fehlten. Jeder Zehnte verfügte nicht über eine ausreichende Internetverbindung.
Fomo: fear of missing out oder die Angst, etwas zu verpassen
Die Formlosigkeit des Arbeitstages scheint für die Beschäftigten ein größeres Problem zu sein. Um dem Tag eine Struktur zu verleihen, ersann Microsoft Teams einen „virtuellen Pendelverkehr“, der die Nutzer mit Fragen über die zu erledigenden Aufgaben in den Tag führt. BlueJeans ging einen anderen Weg. Das Unternehmen richtete es bei Videoanrufen so ein, dass Schlüsselmomente des Gesprächs hergehoben und für andere Mitarbeiter:innen aufgezeichnet wurden. Sie können später darauf zurückgreifen. Nicht über wichtige Arbeitsprozesse auf dem Laufenden zu sein, ist etwas, was viele bewegt. Es gibt dafür sogar einen Neologismus: Fomo, die „fear of missing out”, zu Deutsch “Angst, etwas zu verpassen“. Die Angst, durch die Maschen des Kommunikationsnetzes zu fallen und beruflich ins Hintertreffen zu geraten, grassiert unter Remote-Mitarbeiter:innen.
Die Technologie wird helfen, dass sich diejenigen, die weiterhin von zu Hause aus arbeiten wollen, mehr einbezogen fühlen. Die Zoom Rooms-Funktion für Konferenzräume wird mit einem „Smart Gallery“-Tool höher gestuft. Kameras erkennen die Gesichter der physisch Anwesenden in Meetings und zeigen sie nebeneinander auf den Bildschirmen derjenigen, die virtuell teilnehmen.
Drei Gründe, warum sich virtuelle Meetings durchsetzen werden: Zum einen aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs von Zoom während der Pandemie. Videokonferenzplattformen wie Microsoft Teams und Zoom machten Remote-Arbeit möglich für viele Arten von Tätigkeiten, die früher persönlich stattfanden – von Yogastunden bis hin zu Arztterminen. Die tägliche Anzahl der Teilnehmer:innen an Zoom-Meetings stieg von etwa zehn Millionen Ende Dezember 2019 auf mehr als 300 Millionen vier Monate später.
Der zweite Grund: Eine Umfrage der Beratungsgiganten Price-Waterhouse-Coopers (PWC) Ende 2020 ergab, dass mehr als 80 Prozent der Arbeitgeber der Meinung sind, dass Remote-Arbeit ein Erfolg ist. Etwa 70 Prozent der Führungskräfte planen, ihre Investitionen in Tools für die virtuelle Zusammenarbeit zu erhöhen. Fast 65 Prozent planen, Geld in die Schulung von Managern im Umgang mit einer virtuellen Belegschaft zu stecken.
Drittens schließlich die Einstellung der Beschäftigten. Eine Beschäftigte wie Georgina, die in Genf im Finanzdienstleistungsbereich arbeitet und dies die meiste Zeit des vergangenen Jahres von zu Hause aus getan hat, hat es nicht eilig, wieder ins Büro zu kommen. So konnte sie das Pendeln auslassen und ungewollte Gespräche über ihre Schwangerschaft vermeiden. Ihre Sorge ist, dass die Unternehmen nach den Beschränkungen der Pandemie wieder zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren und das Arbeiten von zu Hause aus wieder die Ausnahme sein wird.
Die guten Seiten erhalten, für die schlechten Lösungen finden
Wie auch immer die Menschen sich fühlen, die virtuelle Arbeit wird bleiben, so Tsedal Neeley von der Harvard Business School. Alles wird darauf ankommen, die guten Seiten zu erhalten und für die schlechten Lösungen zu finden.
Video- bzw. Webmeetings gehören jetzt zur Alltagskommunikation.
Klaus West hat sich ihnen auf bruchstücke schon in mehreren Essays genähert:
Illusionen von Ort- und Zeitlosigkeit,
Vom Faszinosum zur Routine oder Wie realisierte Phantasien ihren Zauber verlieren,
Ausgerechnet der Tango
[1] Vergleiche Virtual insanity, The Economist April 10th 2021, p.47-48