Das Tempolimit vermochte noch im Bundestagswahlkampf die Politiker:innen und Bürger:innen aufzuregen.2 So konnten die Parteien in das Thema „Freiheit des Autofahrens“ mit der polarisierenden Frage Bewegung bringen: Soll auf deutschen Autobahnen ein generelles Tempolimit kommen? SPD, Grüne und Linke waren dafür, CDU/CSU, FDP und AfD dagegen. Die einen waren der Meinung, dass ein Tempolimit “gut für den Klimaschutz” sei, während der damalige Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) den Standpunkt vertrat, dass ein generelles Tempolimit „für manche sogar ein Fetisch” sei. Er sagte: „Die Bürger können sich bei der Wahl entscheiden, ob sie die Freiheit bei der Mobilität haben wollen – oder Beschränkungen und Verbote.”
Für ein Tempolimit spricht, wie einige Befürworter*innen argumentieren, dass im Verkehr massiv Kohlendioxid (CO2) eingespart werden muss, um die Klimaziele für 2030 zu erreichen. Das bedeutete: 120 Kilometern pro Stunde (km/h) auf Autobahnen, 80 km/h außerorts und 30 km/h innerhalb von Städten und Ortschaften.
Schwierige Datenlage
Die Maßnahmen waren allerdings umstritten.3 Denn die immer wieder genannte Zahl, dass drei Millionen Tonnen CO2 pro Jahr bei einem generellen Tempolimit von 120 eingespart werden können, basiert auf einer Studie des Umweltbundesamtes (UBA), die 20 Jahre alt ist. Seit damals waren nicht systematisch neue Zahlen erhoben worden. Man wußte nur, dass 2017 der CO2-Ausstoß auf deutschen Straßen laut Statistischem Bundesamt bei 115 Millionen Tonnen lag – also ein Plus von sechs Prozent gegenüber 2010. Allerdings waren Autos im Schnitt im Verbrauch sauberer geworden und mehr Deutsche fuhren größere Autos im Schnitt über längere Strecken.
Die Datengrundlage für die Frage in der Wahlkampfdebatte, wie viel CO2 in dieser Zeit eingespart werden konnte, war nicht belastbar ermittelt worden, sondern nur überschlagend vom ADAC und vom Öko-Institut auf der Grundlage eines umfangreichen Zahlenwerks des Umweltbundesamtes errechnet worden. Das Öko-Institut hatte detailliert dargelegt, dass bei einem Tempolimit von 120 eine CO2-Einsparung im Straßenverkehr von zwei bis 3,5 Millionen Tonnen zu erwarten sei. Bei Tempo 130 werden nur 1,1 bis 1,6 Prozent, also grob gerechnet 1,5 Millionen Tonnen eingespart. Genau kannte das Einsparpotential niemand, aber man wusste, dass langsamer fahren weniger CO2-Ausstoß bedeutete. Bekanntlich ist bei einer Verdoppelung der Geschwindigkeit mit einer Vervierfachung des Luftwiderstands zu rechnen, der Spritverbrauch steigt und der Ausstoß von Kohlendioxid ebenfalls.
Für ein Tempolimit spricht, dass die Verkehrssicherheit zunimmt, weil langsameres Fahren die Sicherheit steigert und schnelleres Fahren das Gefahrenpotential erhöht. Außerdem scheint ein generelles Tempolimit den Verkehrsfluss zu verbessern, weil es die Geschwindigkeitsunterschiede verringert und die Staugefahr minimiert. Dem hielten die Gegner des Tempolimits entgegen, dass schon gegenwärtig an den meisten stauintensiven Strecken ein Tempolimit gilt und eine flexible, situationsgerechte Geschwindigkeitsregulierung zielführender sei. Das System der empfohlenen Richtgeschwindigkeit von 130 habe sich bewährt, allerdings müsse die Verkehrssicherheit auf Landstraßen verbessert werden.
“Bis sich die Experten einig sind”
Es haben sich also zwei Argumentationen für und wider ein Tempolimit heraus gebildet, die eine kurze und knappe Antwort fragwürdig erscheinen lassen. Die nicht bedingungslose und widerspruchsfreie Begründung für die Begrenzung freien Autofahrens vorzugehen, evoziert Einwände und Widerstände. Die Welt ist auch bei dieser Frage nicht flach, sondern hügelig. Es ist schwierig, sich mit denjenigen auseinanderzusetzen, die eine Einschränkung ihrer Freiheit beklagen. Eine geringere Belastung des Klimas ist evident, aber nicht, in welchem Ausmaß. Wer sein Auto ohne Geschwindigkeitsbegrenzung fahren will, wird dies so lange tun wollen, „bis sich die Experten einig sind.“
„Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.“ Der Satz stammt aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung aus SPD, Grüne und FDP, der Anfang Dezember 2021 geschlossen wurde.1 Damit wird auch die neue Bundesregierung die Höchstgeschwindigkeit beim Autofahren nicht pauschal und unabhängig von den Umständen wie der Verkehrsdichte festlegen.
Im neuen Koalitionsvertrag haben die Parteien der Bundesregierung diesen Stand an Wissen und der Diskussion aufgenommen. Dies scheint ein kluger Schachzug zu sein, weil daraus zunächst kein neuer verkehrspolitischer Konflikt entstehen dürfte.
Denn es ist ein anderes durchaus mächtiges Motiv am Werke, das der Allgemeinheitsanspruch dieser ökologischen, verkehrssicheren und zeitökonomischen Vernunft nicht gelten lässt. Es geht über die Vorstellung eines funktionalen und instrumentellen Verhältnisses zu der Maschine namens Automobil hinaus. Sie mag für bestimmte Teile der Bevölkerung, die im Auto vor allem ein Vorbewegungsmittel sehen, ihre Berechtigung haben, aber Teile der Bevölkerung entziehen sich ihm.
Um dieses Motiv genauer zu beschreiben, wollen wir auf die schon in den 1990er Jahren gemachten Vorschläge zurückkommen, das Auto durch den ÖPNV zu ersetzen. Damals standen sachlich-objektive Zielsetzungen im Vordergrund, um die Akzeptanz dieser Substitution zu ermöglichen: „Moderne telematische Verkehrsführungssysteme bergen ein erhebliches Potenzial zur effektiveren Nutzung knapper ökonomischer, ökologischer und psychischer Ressourcen.“4 Schon damals wurde argumentiert: sie bedeuteten „einen entscheidenden Zugewinn an Verkehrssicherheit und damit eine Reduktion der enormen materiellen und immateriellen Unfallfolgekosten für Wirtschaft und Gesellschaft.“ Dem Motiv, dass Autofahren auch ein Freizeitvergnügen ist, schenkte man nur am Rande Beachtung.
Navigations- und Verkehrsleitsysteme, die man abschalten kann
Das Jahr 1995 war eine Zeit, als Navigations- und Verkehrsleitsysteme eine „hohe Akzeptanz“ fanden. Der Reiz des Neuen bestand darin, dass die Autofahrenden ein Fahrtziel eingeben konnten und der „elektronische Beifahrer“ sie zum Ziel führte. Allerdings hatte die Akzeptanz der Bürger*innen bei der zweiten Stufe, den computergestützten Fahrzeugführungs- und Sicherheitssystemen, stark nachgelassen. Sie wollten nicht, dass Systeme bei unterschiedlichen Gelegenheiten automatisch in das Fahrgeschehen eingriffen: bei der Abstandswarnung, automatischem Bremsen, automatischem Überholen, Spurhaltung, Anpassung des Lenk-, Antriebs- und Bremssystems an die Fahrbahnbeschaffenheit, Überwachung des Fahrerzustandes mit Warnung bei Ermüdungsreaktionen, automatische Anpassung der Geschwindigkeit an die aktuelle Verkehrssituation. Die Autofahrer*innen in Deutschland waren schon damals sehr auf ihre Autonomie bedacht. Niemand und nichts sollte ihre Fahrweise einschränken. Schon damals fürchteten einige um den Verlust des Fahrabenteuers oder des Thrills bei einer ihrer liebsten Freizeitbeschäftigungen; und auch ängstliche Wenig-Fahrer*innen mochten sich nicht auf technische Systeme verlassen, denen sie wenig Vertrauen entgegenbrachten.
Für die Auto fahrende Bevölkerung war schon vor 25 Jahren wichtig, dass die Navigations- und Verkehrsleitsysteme abgeschaltet werden konnten. Sollten die Verkehrsplaner*innen jemals im Sinn gehabt haben, das gesamte Verkehrssystems vollautomatisch zu steuern und das Automobil zu einer fahrenden Kabine zu machen, dann wären sie auf den Widerstand gegen die Abschaffung der Fahrtätigkeit gestoßen. Die Vorteile des Individualverkehrs wie individuelle Routenplanung und Aufrechterhaltung der Privatsphäre hätten keine Rolle gespielt. Die Sorge um die Überwachung hätte keine Rolle gespielt. Damals überwogen die wahrgenommenen Vorteile der Ortbarkeit beim Diebstahlschutz und dem automatischen Notrufsignal einzelner Fahrzeuge.
Autonomes Fahren und unterschiedliche Grade an Autonomie
Vermutlich werden auch Menschen, die ihre Autonomie ständig im Munde führen, das Zugeständnis machen, dass sie als Personen nur „begrenzt Autonomie“ besitzen und nicht „völlig frei“ sind. Ihr Leben ist durch äußere und innere Determinanten wie Institutionen, Verträge, Regeln oder ihr Pflichtgefühl begrenzt, aber sie ermöglichen dadurch teilweise erst ihre Selbstbestimmung.5
Auch bei technischer Autonomie stehen die Unabhängigkeit und Selbständigkeit im Vordergrund. In der einfachsten Konstellation trifft ein autonomer Mensch auf eine mehr oder weniger autonome Maschine. Die Arbeitsteilung zwischen beiden muss so gestaltet werden, dass die menschliche Autonomie möglichst umfassend gewahrt wird.
Was aber bedeutet die „Autonomie der Maschine“ oder die „Autonomie technischer Systeme“? Sie kann sich selbst Regeln setzen und konkrete, verschiedene Fähigkeiten wie die, ohne externe Energie- oder Materialversorgung auszukommen, sich ohne Führung zu bewegen oder Aufgaben ohne Benutzereingriffe zu erledigen. Sie funktionieren autark, mobil oder automatisch. Die Systeme können ferngesteuert, halbautonom und (voll-)autonom sein. Dies habe ich am Beispiel von Schachcomputern und Übersetzungsmaschinen auf diesem Blog beschrieben.
Was ist ein “autonomes Fahrzeug“?6 Es gibt unterschiedliche Grade bzw. Level autonomen Fahrens: No Automation, Driver Assistance bis hin zu Full Automation. Mit zunehmender Autonomie nimmt die Häufigkeit und Dauer von Benutzerinterventionen ab.
Die deutsche Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) entwickelte 2010 eine “Benennung und Klassifizierung automatisierter Fahrfunktionen”. Darin fanden sich die fünf Stufen “Driver only”, assistiert, teilautomatisiert, hochautomatisiert und vollautomatisiert. Später arbeitete SAE International, eine Organisation von Ingenieuren verschiedener Transportbranchen, ein Definitionssystem mit sechs Stufen aus.
- Bei Level 0 (No Automation) lässt sich die lenkende Person durch Warnungen oder Interventionssysteme, die nur momentan eingreifen, unterstützen.
- Level 1 + 2: In bestimmten Betriebsarten übernimmt ein Assistenzsystem entweder die Lenkung oder die Be- und Entschleunigung, bei Partial Automation gibt aber stets einen Lenker, der ununterbrochen kontrollieren soll.
- Ab Level 3 (Conditional Automation) wird der Mensch in bestimmten Fahrzeugbetriebsarten auf eine Beobachterrolle reduziert. Er wird nur auf Zuruf seines Bordcomputers tätig und in Level 4 wird der Mensch zum Eingreifen aufgefordert. Wenn er etwas anderes zu tun hat, wenn er nicht reagiert, steuert sich das Auto weiter autonom.
- In Level 5 kann der Mensch noch etwas tun, wenn er denn möchte.
- Und schließlich das selbst fahrende Google-Auto auf dem imaginären Level 6.
Je höher wir die Stufen den Automatisierungsgrad des Autos hinaufsteigen, desto weniger bleibt für die fahrenden Menschen zu tun. Sie können entscheiden, auf welcher Stufe der abnehmenden Autonomie und Selbsttätigkeit sie Halt machen wollen. Über Entlastung, Verkehrssicherheit und optimales Umweltverhalten machen diese Gradationen keine Angaben, aber über das Auto als der Bedingung der Möglichkeit von Fahr- und Geschwindigkeitserlebnissen und der Wahrnehmung des individuellen Freiheitsverlustes. Die Intuition, sich körperlich frei bewegen zu können, darf nicht wegrationalisiert werden.
Teil II diskutiert das Erlebnis des Autofahrens und dessen Bedeutung.
1 Im Koalitionsvertrag der SPD, Grünen und der FDP von 2021 heißt es unter der Zwischenüberschrift „Verkehrsordnung“ auf den Zeilen 1689 bis 1695:
„Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen. Wir wollen eine Öffnung für digitale Anwendungen wie digitale Parkraumkontrolle. In Umsetzung der Vision Zero werden wir das Verkehrssicherheitsprogramm weiterentwickeln. Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.“
2 Scheuer zur Tempolimit-Debatte: “Für manche sogar ein Fetisch”, www.rtl.de 12. Juli 2021(E: 13-08-2021)
3 Vgl. Jan Eger, Was bringt ein generelles Tempolimit? 27.12.2019 www.zdf.de
4 Werner Grimmer, Peter J. Adelt, Ekkehard R. Stephan, Die Akzeptanz von Navigations- und Verkehrsführungssystemen der Zukunft. Eine AXA DIREKT Verkehrsstudie, Deutscher Psychologen Verlag, Bonn 1995, S.75-80
5 Vgl. Martin Seel, Sich bestimmen lassen, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt 2002
6 Daniel AJ Sokolov, Was ist der Unterschied zwischen einem autonomen Auto und einem autonomen Auto?, c´t-Magazin, 06-08-2015 (E: 26-11-2020) www.heise.de
Ich bin auf den zweiten Beitrag sehr gespannt. Denn das Ergebnis des ersten ist ein bisschen mager. Mit einem geistig nicht unbeträchtlichen Aufwand wird das Thema Auto quasi zu-tode-differenziert, um an einer ebenso banalen wie menschengerechten Maßnahme wie der folgenden argumentativ vorbeizukommen: Eine Gesellschaft, deren 80 Millionen (offensichtlich durchweg recht wohlhabenden) EinwohnerInnen es sich leisten und leisten können, für jeweils zehntausende Euro insgesamt 50 Millionen Autos zu kaufen, zu unterhalten und zu nutzen, und die es nicht schafft, in ihren komplett überfüllten Städten aus Gründen der Sicherheit (vor allem), der Ökologie und des Lärms Tempo 30 einzuführen, die hat buchstäblich einen Knall.
Vielleicht wird ja im zweiten Teil über diesen Aspekt ein bisschen differenziert.
Was heißt schon “mager”? “Mager”, weil für eine große Minderheit der Bevölkerung folgenlos, könnte auch die Wirkung von Appellen genannt werden, die immer wieder, im Namen des Wertes der Freiheit, an das Verhalten der Bundesbürgerinnen gesendet werden. Wenn man etwas für die Realverfassung der Freiheitsvorstellungen Wählerinnen erfahren will, ist es hilfreich, sich die Lebenswelten jenseits der politischen Klasse genauer anzuschauen.
Deshalb thematisiert der Beitrag, gewissermaßen als Beispiel, die Einstellungen der Bürgerinnen zum Autofahren. Niemand wird sie als irrelevant erachten. Die neue Bundesregierung hat die im Artikel vorgestellten Erkenntnisse zu diesem Thema in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Die Freiheitsvorstellungen der Bevölkerung auf diese Art ernst zu nehmen, könnte sich als wirksamer erweisen als die Fortführung der Tempolimitdebatte.
Erfreulich ist auch, dies als zweites Beispiel, dass in den Corona-Expertenrat der neuen Bundesregierung ein Fachmann wie Professor Ralph Hertwig aufgenommen wurde. Er forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zum Themenbereich adaptive Rationalität. Dabei geht es, grob gesagt, darum, den tatsächlichen Einstellungen der Menschen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es mag sein, dass die neuen Töne, die vom Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach seit einigen Tagen angeschlagen werden, Folge der größeren Gewichtung der lebensweltlichen Einstellungen sind. Der Minister sagt, dass er sich Sorgen um die Ungeimpften macht und dass sie möglicherweise nicht mehr wirkungsvoll gegen die Omikronvariante des Virus geschützt werden können. Das ist etwas anderes als speziell diesen Bürgerinnen zu sagen, was sie im Namen der Vernunft und der Verantwortung zu tun haben.