„Europa, das sich zivilkulturell zum Teil von den USA unterscheidet, muss sich mit seinen Werten behaupten. Deshalb bin ich dagegen, dass wir die Zusammenarbeit mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern beenden. Ich bin auch gegen eine neue Form der Gesinnungsprüfung. Wir berufen Künstler und laden sie nicht ein als Repräsentanten ihres Landes, sondern weil sie herausragende Künstlerinnen, Musikerinnen, Dirigenten sind.“
Dem Philosophen und früheren Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin geht es um die zivilkulturellen Grundlagen der Demokratie, er kritisiert die triumphalistische Haltung, die sich im Westen nach dem Fall der Mauer breit gemacht hatte.
Welche Fragen stellt der Krieg in der Ukraine an die Kultur und an Künstler? Welche Antworten können sie darauf geben?
Julian Nida-Rümelin: Wenn man in die Geschichte zurückblickt, sieht man, dass Kriege oft mit kulturellen Mitteln vorbereitet und inszeniert werden. Das Vorspiel zum Ersten Weltkrieg war die kulturelle Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich. Aus deutscher Sicht hieß es damals: Die Franzosen haben nur eine Zivilisation, wir haben eine große Kultur. Aus französischer Sicht: In Deutschland fehlt es an der Kultur der Aufklärung. Am Ende rannte eine junge Generation begeistert in den Krieg, darunter eine Reihe kluger Köpfe bis auf ganz wenige Ausnahmen, auch Künstler und Schriftsteller.
Jetzt wiederholt sich dieser Generationenkonflikt ein wenig. Ältere bei uns wie Horst Teltschik und Klaus von Dohnanyi und ehemalige hochrangige Militärs erheben mahnend die Stimme und raten zur Vorsicht vor militärischen Eskalationen. Sie haben schon vorher den Westen vergeblich gemahnt, das Ende das Kalten Kriegs nicht zu triumphalistisch und offensiv auszunutzen. Bei Jüngeren jedoch gibt es fast unabhängig von der politischen Ausrichtung nun eine weitverbreitete Auffassung, der Westen müsse, nachdem der Krieg begonnen hat, zeigen, dass er zu seinen Idealen steht und sie mit militärischen Mitteln in der Ukraine zur Geltung bringen. Manche steigern sich sogar in die These hinein, wir seien schon in einem dritten Weltkrieg. Es gehe nicht mehr darum, ihn zu verhindern, sondern ihn zu gewinnen, um dem diktatorischen russischen Regime keinen Triumph zu gönnen.
Julian Nida-Rümelin war von 2001 bis Oktober 2002 Staatsminister für Kultur. Bis 2020 war er Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Seit Mai 2020 ist er stellvertretender Vorsitzender des Ethikrats.
Ist das so völlig abwegig, wenn man sieht, dass Putin den gesamten Westen bedroht?
Nida-Rümelin: Die, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, das sind nur noch wenige sehr Alte, und die Generationen danach haben bis zum Ende des Kalten Kriegs immer mit dem Schrecken des Krieges und der Angst vor dem Atomtod gelebt. Sie sind mit der Vorstellung aufgewachsen, es kann jederzeit das Ende sein, wenn sich die Welt in die Selbstzerstörung stürzt. Das Bewusstsein, dass die Großmächte immer noch über so viele Atomwaffen verfügen, um alles Leben auf der Erde auszulöschen, ist in den 30 Jahren seit 1990 verblasst. Deshalb tut sich sogar US-Präsident Joe Biden zunehmend schwerer, seiner Bevölkerung zu erklären, dass er keine Flugverbotszone über die Ukraine verhängen wird, weil das ein unmittelbarer Konflikt zwischen zwei Atommächten wäre.
Also ein Glück, dass in den USA nun ein Präsident regiert, der schon zur Zeit des Kalten Kriegs politisch aktiv war?
Nida-Rümelin: Ja. Und es geht nun auch um die kulturelle Entwicklung insgesamt. Nicht nur einzelner Künstler. Das auch. Sie können mit Kunstwerken aufklärend wirken. Es geht vor allem um die zivilkulturellen Grundlagen der Demokratie. Wir laufen auf eine Neuauflage einer bipolaren Weltordnung zu. Russland wird sich wahrscheinlich an den Wirtschaftsgiganten China anlehnen. Die Führung in Peking hat umgekehrt Interesse daran, die rohstoffreiche Atommacht Russland an sich zu binden. Dann steht der Westen wieder einem ökonomisch und militärisch mächtigen Block gegenüber. Europa, das sich zivilkulturell zum Teil von den USA unterscheidet, muss sich mit seinen Werten behaupten. Deshalb bin ich dagegen, dass wir die Zusammenarbeit mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern beenden. Ich bin auch gegen eine neue Form der Gesinnungsprüfung. Wir berufen Künstler und laden sie nicht ein als Repräsentanten ihres Landes, sondern weil sie herausragende Künstlerinnen, Musikerinnen, Dirigenten sind. Dabei sollten wir es belassen.
Die vielfältigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verbindungen nach Russland haben die Führung dort aber nicht daran gehindert, diesen Krieg vorzubereiten und zu führen.
Nida-Rümelin: Nicht nur die Politik des Westens seit 1990, auch die Entspannungspolitik war manchmal naiv. Begleitet zum Teil von einer Idealisierung der DDR und der Sowjetunion. Das habe ich schon damals kritisiert. Die DDR hat genauso wie jetzt die russische Regierung Dissidenten eingesperrt und kritische Künstler daran gehindert aufzutreten und zu veröffentlichen. Aber ohne diese Kontakte, ohne die KSZE-Schlussakte und die Bemühungen, gewisse Standards auch im Osten durchzusetzen, hätte sich der Warschauer Pakt wahrscheinlich nicht aufgelöst.
Sollte man die Verbindungen aufrechterhalten auch um auf Veränderungen innerhalb Russlands hinzuwirken?
Nida-Rümelin: Unbedingt. Deshalb sollte man auch immer klar sagen: Wir sind im Konflikt mit Putin, wir haben keinen Krieg mit dem russischen Volk, das ohnehin massiv unter den westlichen Sanktionen leidet. Gerade deswegen muss es klare Signale geben, dass wir differenzieren. Jetzt in einen neuen Kollektivismus zu verfallen und selbst Vorlesungen von Texten von Dostojewski abzusagen, widerspricht fundamental unseren westlichen Vorstellungen von der Freiheit des Individuums. Es gibt keine kollektive Verantwortung und Schuld. Individuen stehen zunächst mal nur für sich. Es gibt deshalb auch keinerlei Rechtfertigung, dass ein Volk ein anderes überfällt. Phasen des humanistischen Individualismus waren die besten Phasen der Menschheitsgeschichte. Im 19. Jahrhundert ist man dahinter zurückgefallen, noch schlimmer im 20. Jahrhundert. Das ist dann oft die Vorbereitung von Kriegen. Im Krieg sind die Gegner alle böse. Das darf uns jetzt nicht erneut passieren.
Schon in der Flüchtlingsdebatte und noch mehr während der Pandemie haben wir auch bei uns ein Freund-Feind-Denken erlebt. Wird sich das jetzt noch verstärken gegenüber sogenannten Putin-Verstehern und denen, die vor einer militärischen Eskalation warnen?
Nida-Rümelin: In der Corona-Zeit wurden selbst Wissenschaftler, die Zweifel geäußert haben, von denen sich viele bewahrheit haben, unter Druck gesetzt und nicht mehr eingeladen. Manche der Zweifler sind daraufhin zu denen gegangen, die wirklich problematisch sind, und in deren Sog geraten. Auch das darf sich jetzt nicht wiederholen.
Was kann die Kultur dazu beitragen, das zu verhindern?
Nida-Rümelin: Teile der Kulturszene haben in der Vergangenheit oft eine verheerende Rolle gespielt. Akademiker, Schriftsteller, Künstler haben das NS-Regime gefördert. Nicht alle, viele haben darunter gelitten und sind ausgewandert oder wurden umgebracht. Aber man kann leider nicht sagen, dass hohe Bildung und Kultur vor Ideologisierung und vor Kollektivismus schützen. Trotzdem habe ich die Erwartung, dass Intellektuelle und Künstlerinnen und Künstler, die schon von ihrer Lebensform her Individualisten sind, in der Lage sein müssten, die Gesellschaft immer wieder herauszufordern und zu sagen, das geht in eine falsche Richtung. Und mit künstlerischen Mitteln auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen und dafür Bewusstsein zu schaffen. Ich bin allerdings skeptisch, ob viele Künstler diese Verantwortung jetzt wahrnehmen.
Gehört also zu Wehrhaftigkeit von Demokratien nicht nur, den Wehretat aufzustocken, sondern gerade auch die innere Freiheit zu wahren, auch für die, die gegen die neue Regierungslinie gegenüber Russland sind?
Nida-Rümelin: Die Meinungsfreiheit und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sind existenziell für die Demokratie. Die darf man auch in Kriegszeiten nicht opfern. Differenzen auszuhalten und sie auch in den Medien abzubilden, gehört zur demokratischen Zivilkultur. Wenn die erodiert, ist die Demokratie als Ganzes gefährdet, selbst wenn die politischen Institutionen intakt sind.