„Wir“: Seiner Suggestion auf der Spur                                

Wir sind Weltmeister
(Foto: Marcello Casal Jr/ Agência Brasil, wikimedia commons)

Benutzen sprechende Menschen die Wir-Perspektive, kann dies suggestive Wirkungen haben. Die Adressat:innen fühlen sich angesprochen, beteiligt und aufgefordert, wenn es im Falle einer Krise um das Durchhalten geht („Wir sitzen alle in einem Boot“), oder bei einer Naturkatastrophe darauf ankommt, Geld zu spenden. Im Falle des Erfolgs, sind „wir“ Teil desselben („Wir sind Weltmeister“, „Wir sind Papst“). Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist attraktiv und erzeugt sogar spontane, gegenseitige Hilfe, solange Wir erwarten können, dass die Hilfe die Hilfsbedürftigen erreicht.
Dieser Beitrag lädt die geneigten Leser:innen dazu ein, die Suggestion des Wir durch Differenzierung zu entkräften. Wir, diese temporäre Gemeinschaft, werden uns auf die Suche nach einem vereinnahmenden, abgrenzenden und handlungsfähigen Wir machen, werden Nah- und Fernhorizonte besichtigen, das Oberklassen-Wir kritisch unter die Lupe nehmen und die Problemlösungskomptenz des Generation-Wir in Frage stellen.

Über das Verhältnis von Sprache und Realität ist schon alles gesagt und auch sein Gegenteil. Seit die Geistes- und Sozialwissenschaften Mitte des 20. Jahrhunderts ihre sprachkritische Wende (Linguistic Turn) vollzogen, wird der Sprache eine noch größere, (fast alles) entscheidende Bedeutung zuerkannt. Sprache bekommt beinahe den Charakter von Zaubersprüchen: Weil ich etwas ausspreche, verwandelt sich die Realität. bruchstücke setzt sich – beginnend mit dem Beitrag über „Alte weiße Männer“ – in loser Folge mit Begriffen und Formulierungen auseinander, weil wir den Zusammenhang zwischen Sprache und Realitäten wichtig nehmen. Der gängigen Bedeutung von Begriffen andere Sinndimensionen entgegenzusetzen, selbstverständlichen Sprachgebrauch in Frage zu stellen, dem Mainstream der Sinnstiftung zu widersprechen, kann zu Klärungen, vielleicht sogar zu Aufklärung beitragen. (at)

Das Phänomen der Wir-Diffusion

Nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2014 in Brasilien erschien ein Dokumentarfilm über die Deutsche Fußballnationalmannschaft mit dem Titel „Die Mannschaft“. Damit wurde das Kollektiv in den Vordergrund gerückt, vermutlich auch, um sich von starzentrierten Ensembles wie Argentinien („Messi“), Brasilien („Neymar“) oder Portugal („Ronaldo“) abzugrenzen. „Die Mannschaft“ war Ausdruck eines funktionierenden Zusammenspiels des Wir, das den maßgeblichen Erfolgsfaktor für den gewonnenen Weltmeistertitel darstellte. Die in Interviews befragten Spieler haben damals unisono formelhaft den Erfolgsfaktor Wir in den Vordergrund gerückt.

Ein Wir von dieser Art kann sich jedoch auflösen. Das ist der Fall, wenn ein Kollektiv mehrere Spiele lang keines mehr gewinnt. Dann beginnen im Umfeld einer Mannschaft Sportreporter:innen und Expert:innen, bisweilen schon unmittelbar nach einem Spiel, auf dem Platz und in den Fernsehstudios darüber zu räsonnieren, ob es dieser Mannschaft nicht doch an Führungspersönlichkeiten im Team fehlte, die ein auf der Kippe stehendes Spiel „herumreißen“ konnten. Von hier ist es nicht weit zu der Überzeugung, dass das Kollektiv nicht nur „Mitläufer“, sondern „Persönlichkeiten“ braucht oder sogar „Leitwölfe“, also hervorragende Einzelkönner mit einer gewissen Portion an Animalität.

Nun ist das Phänomen der Wir-Diffusion keine Besonderheit des Fußballs, sondern auch innerhalb großer Unternehmen wie der Lufthansa AG anzutreffen. Auch dort gibt es dieses situationsabhängige Floaten des Wir. Eine Insiderin beschreibt: „Mir ist irgendwann bei Lufthansa aufgefallen, wie relativ dieses Wir-Gefühl ist. Es gibt das Wir aller Flugbegleiter und Piloten weltweit, dann das Wir unter den beiden Berufsgruppen weltweit, dann das der jeweiligen Fluggesellschaften („Wir sind Lufthansa”), dann das der in Frankfurt oder München stationierten (bis vor ein paar Jahren etwa noch die dezentralen Stationen Berlin oder Hamburg), dann das derjenigen einer jeweiligen Crew während eines Fluges (tatsächlich ist die andere LH-Crew, die zeitgleich im selben Hotel übernachtet, die „Fremdcrew“), dann die Kollegen, die während eines Fluges zusammen in einer Klasse arbeiten (Businessclass etc.) sowie auch da wieder einerseits die Cockpit-Crew und anderseits die Flugbegleiter. Die Beschäftigten nehmen das Wir immer sehr ernst, jedoch gebrauchen sie es wenig reflektiert und bewusst, und deshalb kommt es durchaus zu Konflikten.“ Dies kann zu einem generellen Identifikationsproblem in Bezug auf Gruppen führen.

 

Die grammatisch klar definierte erste Person Plural der Konjugation ist es in der Realität nicht, der reale Gebrauch ist schillernd und uneindeutig. Ist das Wir tatsächlich eine Kategorie des Zufälligen, Unsteten, der Momentaufnahme, nichts weiter als ein Ausdruck der momentanen Situation? Dann ähnelte das Wir den unterschiedlichen Aggregatzuständen des Wassers, flüssig, gefroren oder als Dampf, nur vielgestaltiger.

Das Wir der „Oberklassen“

Lassen wir die Geschichte des Wir im Jahr 1885 beginnen. Damals hatte Deutschland noch einen Kaiser namens Wilhelm II., und der hatte einen Schutzbrief unterzeichnet, der mit den Worten begann: „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden, Deutscher Kaiser und König von Preußen, tun kund und fügen hiermit zu wissen“.1 Damit war der Gesellschaft die Erlaubnis für die deutsche Kolonisation neuerworbener Gebiete in Ostafrika gegeben worden. Beim Pluralis majestatis, der Rede von einer Person in der Mehrzahl, hatte noch die Vorstellung eine Rolle gespielt, dass der Kaiser für seine Untertanen oder Untergebenen sprach oder zu sprechen glaubte, einer für alle. Es gab dieses vereinnahmende Wir, damals im Deutschen Kaiserreich, und mit dem öffentlichen Auftreten des Kaisers nahm es Gestalt an, die das Ganze einer streng hierarchischen Klassengesellschaft repräsentierte.

Mit dem Abdanken des Kaisers und dem Ausrufen der demokratischen Republik wurde mit diesem Repräsentationsanspruch durch eine einzige Person gebrochen und die Legitimationsgrundlage des Wir folgenreich verändert. Aus freien und demokratischen Wahlen hervorgegangen, konnten sich Reichspräsident und -kanzler darauf berufen, an der Spitze einer Mehrheit zu stehen, die sich jedoch als sehr fragiles Wir einer Klassengesellschaft erwies, weil ihr starke antidemokratische Kräfte aus Adel und Großbourgeoisie entgegenstanden.

Kaiser Wilhelm II. weiht 1913 die “Kaiser-Wilhelm-Brücke” in Trier ein. (Foto: unbekannt, wikimedia commons)

Bis auf den heutigen Tag ist es eine Art politischer Selbstverständlichkeit der Gewählten zu betonen, dass sie Bundespräsident:in, Bundeskanzler:in, Ministerpräsident:in oder Bürgermeister:in aller Bürger:innen eines Landes oder einer Stadt sein werden, und nicht nur derjenigen, die sie gewählt haben. Nur ist es in der Gegenwart schwierig, sich die Bevölkerung eines Nationalstaates als etwas Homogenes, als „Volk“ vorzustellen.2 Eine Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland besteht aus wirtschaftlich, sozial und kulturell klassifizierten Bürger:innen mit ungleichen Lebenschancen.

Ist die „Oberklasse“3 – der Soziologe Pierre Bourdieu sprach von der Classe dominante – Teil dieses Wir? Die Frage scheint berechtigt, denn diese Gesellschaftsklasse stellt bis in die Gegenwart noch immer, auch wenn die frühere Exklusivität eines Universitätsabschlusses der Erwerbstätigen verloren gegangen ist, eine relativ abgeschlossene Sozialwelt dar aus Großaktionären, hohen Managern aller Bereiche, Richtern und Anwälten. Ihre Selbstrekrutierungsrate ist hoch und ihre Rekrutierungsmechanismen und -merkmale sind erheblich stabiler als vielfach angenommen. Soziale Aufsteiger bleiben die Ausnahme. Der klassenspezifische bürgerliche Habitus ist nach wie vor das ausschlaggebende Rekrutierungskriterium für das Topmanagement und hat all die Jahrzehnte mit ihren vielfältigen Veränderungen relativ unbeschadet überdauert.

Die „Oberklasse“ scheint noch immer das dominante Muster als Orientierungspunkt für die Mittelklassen vorzugeben und einen maßgeblichen Einfluss auf den Rest der Gesellschaft zu haben.4 Die Senkung der Spitzensteuersätze, ein wichtiger Indikator für die Verringerung des Wir-Beitrages dieser Klasse, spielte in so gut wie allen Industriestaaten eine entscheidende Rolle, so dass die Spitzenverdienste zu erheblich höheren Nettoeinkommen führten. Sie hat, wie Thomas Piketty gezeigt hat5, maßgeblich zur drastischen Erhöhung der Bruttoeinkommen am oberen Ende der Einkommensskala beigetragen.

Die führende Klasse hat nicht das Wohl der Allgemeinheit im Blick, sondern ihren eigenen Vorteil. Dies lässt sich beispielhaft an der Deregulierung der Finanzmärkte in den USA ablesen, die maßgeblich für die Finanzkrise verantwortlich war. Der Finanzminister der Clinton-Administration Robert Rubin, der aufgrund seiner fast 30-jährigen Tätigkeit für Goldman-Sachs beste Verbindungen zu den großen Finanzkonzernen hatte, setzte sich gegen Brooksey Born, den Vorsitzenden der Commodity Furtures Trading Commission für die durchgreifenden Deregulierung der Finanzmärkte durch. Hier wurde der Einfluss eines wesentlichen Teils der „Oberklasse“ auf die politischen Entscheidungen sichtbar.

Die starke Einflussnahme der Gesellschaftsspitze für ihre partikularen Interessen stellt den Sinn für das Allgemeine und ein Allgemeinheits-Wir zweifellos in Frage. Es lässt sich annehmen, dass sie sich als Elite wahrnimmt, die nicht Teil derselben Gesellschaft ist, in der sie lebt, sondern eine Sonderstellung einnimmt. So lassen sich beispielsweise die Äußerungen des ehemaligen Spitzenmanagers Thomas Middelhoff bei Bertelsmann und Arcandor nach seinem Fall in Folge von Untreue und Steuerhinterziehung verstehen.

Das Abgrenzungs-Wir von Generationen

Zunächst erscheint klar, was mit dem Wir gemeint ist: eine definierte Gruppe, die Mannschaft, elf Spieler und Ersatzspieler, und dann noch der Trainer und sein Stab. Dieses Wir ist im Falle des Erfolges stabil. Aber Misserfolg lässt die Frage nach der Verantwortung das Wir sofort ausfransen: so fragen Sportjournalist:innen, wer die Verantwortung für das vorzeitige Ausscheiden bei einer Welt- oder Europameisterschaft trägt. Die Suche nach dem oder den Schuldigen erscheint gewissermaßen wie eine eigene, dem Fußballspiel nachfolgende Phase des Wir.

Eine Sonderstellung anderer Art ist das Wir, das sich mit der Zugehörigkeit zu einer Generation definiert. So gesehen ist die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als eine Generationenabfolge der Boomer (bis 1965), der Generation Z (bis 1980) und der Generation Y erzählen. Zu der letztgenannten werden Menschen gezählt, die zwischen den frühen 1980er und späten 1990er Jahren in Europa und Nordamerika geboren wurden.

Nach dieser Sichtweise werden die Dispositionen von Menschen mit einem bestimmten Geburtsdatum in den Vordergrund gerückt. Genauer gesagt ihre Ansprüche, Wünsche, Bedürfnisse, Antriebe, Motive und Ziele. Und nochmals genauer die Ansprüche derjenigen, die sie definieren und zwischen ihnen wählen können, die Kandidat:innen für den Führungsnachwuchs. Nebenbei gefragt: gibt es eigentlich eine Generationsdefinition für Schul- und Ausbildungsabbrecher, junge Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger?

Über die Generation Y heißt es, dass ein technikaffiner Lebensstil für sie charakteristisch sei und sie die erste Generation sei, die größtenteils in einem Umfeld von Internet und mobiler Kommunikation aufgewachsen ist. Dieser Typus Mensch wolle nicht mehr das gesamte Leben dem Beruf unterordnen, sondern fordere eine Balance zwischen Beruf und Freizeit und strebe eine Erwerbsarbeit an, die ihm einen Sinn bietet.

Bild: wikimedia commons

“Wir sind nur einmal jung. Ihr seid es nicht mehr!”

Es kommt vor, dass Angehörige dieser Generation die Beschreibungsversuche der Sozialwissenschaftler:innen für ihre Selbstbeschreibung übernehmen. Dann lautet die Wir-Botschaft: „Wir sind nur einmal jung. Ihr seid es nicht mehr!“ In diesem Fall dient das Generationen-Wir den Mitgliedern der Abgrenzung, kann aber auch zu einem Kompetenz- und Argumentationsersatz werden, wenn selbst komplexe Fragen wie die nach der Zukunft unseres Planeten vereinfachend zu einem „Generationenproblem“ deklariert und Nicht-Angehörigen dieser Generation die Teilhabe an der Diskussion von Lösungen verwehrt wird.

Generell erscheint eine Problemlösungskompetenz, die sich auf ein „biologisches Grenzdatum“ beruft, nicht sehr anspruchsvoll. Es besteht die „Gefahr der Unausgelebtheit und Verflachung der Lebensgehalte“6, wenn die Begründung für einen Standpunkt auf das biologische Faktum, den Organismus ihrer Angehörigen dieser Generation reduziert wird.

Das Wir, das sich aufgrund von Geburtsdaten, guten Erwerbschancen und sozialem Status abgrenzt, unterscheidet sich markant von dem einer „Oberklasse“, die sich nicht zu einer nationalen Gesellschaft oder zur Weltgemeinschaft zugehörig zählt. Denn sie weiß ihre Interessen gegenüber dem Rest der Gesellschaft durchzusetzen. Das Generationen-Wir kämpft allenfalls gegen die Älteren, um deren Plätze einzunehmen.

Das „Oberklassen“-Wir vermag Nahhorizont und Fernhorizont seiner Interessen effektiv zu verbinden, das Generationen-Wir ebenfalls, nur mit generell geringeren Chancen. Diese beiden Horizonte beschreiben zum einen den nahen, relativ engen und relativ abgeschlossenen Gesichtskreis, der durch die Ordnung der Primärgruppen wie Ehe, Partnerschaft, Familie, Arbeitsplatz und Freundeskreis bestimmt wird. Der Fernhorizont dagegen ist der offene Gesichtskreis, der durch die Ordnung der Sekundär- oder Großgruppen bestimmt wird: das sind Völker, Staaten, Stände, Klassen, politische Parteien, Religionsgemeinschaften, kommerzielle Betriebe.7

Meinungsstarke Zuschauer:innen

Die Frage nach der effektiven Verbindung von Nah- und Fernhorizont führt uns zu einem anderen Wir, dem von Zuschauer:innen. Sie sind, im Unterschied zur „Oberklasse“, als große Mehrheit der Gesellschaft auf das ethische Verhalten in Kleingruppen, sprich: „unmittelbare Sittlichkeit“ beschränkt. Und sie beschränken sich selbst darauf, denn aus ihrer Sicht haben Großgruppen nur die Aufgabe, die äußere Möglichkeit der Kleingruppen zu gewährleisten. Ihre innere Gestaltung soll ihnen aber selbst belassen werden. Zugleich aber suchen sich die Kleingruppen gegen Großverbände „abzudichten“, und gegen die Gesellschaft, das ist die Öffentlichkeitssphäre, die von den miteinander verflochtenen Mächten von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik bestimmt wird. Ein Denker wie Arnold Gehlen war der Auffassung, dass sie sich nicht gestalten ließen.8 Fast jeder ist ihren Zwängen unterworfen und davon frustriert. Befriedigung und Glück lässt findet man deshalb nur noch im privaten Raum. Dieser soll, in Gestalt der Familie, all das an Glück und Halt ersetzen, was andere gesellschaftliche Institutionen nicht zu bieten vermögen. Diese Entwicklung trägt nicht zur Förderung des politischen Engagements bei, sondern viele Menschen praktizieren einen Rückzug in das „Glück im Winkel“ (Hans Paul Bahrdt). 9

Diese Teile der Bevölkerung sind Zuschauer:innen von Fernhorizonten, die die „Wirtschaft“, „Politik“, „Fußball“ oder sonst wie heißen mögen. Die Programmproduzent:innen haben eine Angleichung politischer Programme an Unterhaltungs- und Konsumangebote vorgenommen, um die Bürger:innen als Verbraucher*innen anzusprechen. Dies ist als Tendenz der Entpolitisierung interpretiert worden.10 Teile der Bevölkerung wehren dissonante Informationen ab und ziehen assimilierend konsonante Stimmen in den eigenen, Identität wahrenden begrenzten Horizont des vermeintlichen, doch professionell ungefilterten „Wissens“ ein. Dies scheint der Grundmechanismus der Likes der Follower zu sein.

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Problematik der qualitätskriterienlosen Aneignung von Wissen sich in Gestalt meinungs- und überzeugungsstarker Zuschauer:innen während der Corona-Pandemie zeigt. Die politischen Institutionen haben nur begrenzte Möglichkeiten, auf kommunikativem Wege die Impfgegner:innen zu erreichen. Obwohl die Pandemie unbarmherzig nüchtern auf die Abhängigkeit der Individuen von ihren Naturgrundlagen verweist, halten diese Bevölkerungsgruppen die Impfungen für eine rein persönliche, nur auf ihre Person bezogene Entscheidung, die keine Folgen für die Gemeinschaft habe.

Auch hier lässt sich ein allgemeines vernünftiges Wir-Verhalten nur schwer erzeugen. Die Evidenz der physisch-psychischen Grundlage des Wir, die allen Menschen gemein ist, reicht nicht aus, dass dieses Wir die Individuen in ihrem Fühlen, Denken und Handeln so begleitet, dass sie in einem Fall wie Covid-19 gemeinsam handelten, obwohl die physische Seite der Freiheit aller nicht wegtheoretisiert werden kann.11

Der Ausstieg der „Oberklasse“ aus dem globalen Wir

In der Klimapolitik hat ein gewichtiger Teil der führenden Klasse den Horizont einer allgemeinen vernünftigen Ordnung der Welt schon vor Jahren verlassen. Der ehemalige Präsident der USA, Donald Trump, hatte sich am 1. Juni 2017 vom Pariser Klimaabkommen verabschiedet. Mit seinem Rückzieher hat er explizit einen Krieg um die Festlegung des Schauplatzes der Operationen ausgelöst: „Wir Amerikaner gehören nicht mehr zu derselben Erde wie ihr. Eure mag bedroht sein, unsere nicht!“12 Damit waren die politischen und bald militärischen, jedenfalls aber existenziellen Konsequenzen dessen gezogen, was Georg Bush senior 1992 in Rio vorhergesagt hatte: „Our way of life is not negotiable!“ Die Dinge lagen klar: das Ideal einer gemeinsamen, auch vom bisher so bezeichneten „Westen“ geteilten Welt gab es nicht mehr.

Nun ist allerdings festzuhalten, dass der neue Präsident der USA Joe Biden, die Rückzugsentscheidung vom Pariser Klimaabkommen revidiert hat. Damit hat die Haltung der USA, sich selbst als absoluten Bezugspunkt auf der Erde zu setzen, zumindest ein vorläufiges Ende gefunden. Bidens Entscheidung bedeutet, dass sein Land die Klimapolitik als Fernhorizont wieder anerkennt.

Dennoch, auch aufgrund der Präsidentschaft eines Jair Bolsonaro in Brasilien, ist zu fragen, ob Machthaber vom Typ Donald Trumps zu dem Schluss gelangt sind, dass es nutzlos war, vorzugeben, die Geschichte strebe weiter auf einen gemeinsamen Horizont zu, auf eine Situation, in der „alle Menschen“ im gleichen Maße zum Wohlstand kommen würden. Scheinbar ging es seit den achtziger Jahren der führenden Klasse der USA nicht länger darum, die Welt zu führen, sondern außerhalb dieser Welt Schutz zu suchen.

Wenn diese Haltungen und Tendenzen latent oder manifest vorhanden sind, erscheint es klimapolitisch wenig erfolgversprechend, das in der Öffentlichkeit häufig verwendete Wir der gesamten Menschheit mit moralischen Appellen einzuklagen. Mehr Wirkung könnte sich erzielen lassen, wenn zwischen unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, die aus Einfluss, Macht und Herrschaft resultieren, und Wir-Gefühlen unterschieden wird.

Nah- und Fernhorizont

Es geht darum, handlungsfähig zu bleiben. Dies erscheint vergleichsweise einfach, wenn wir unser handlungsfähiges Wir in einer Ethik im Nahhorizont verwenden. Dazu ein Beispiel. Anfang des Jahres erhielt ich eine Email, in der mir mitgeteilt wurde, dass der Neujahrsempfang einer Organisation, der ich angehöre, abgesagt wurde. Darin hieß es: „Es war zu erwarten. Wegen Corona müssen wir auch unseren Neujahrsempfang absagen. Wir haben alles getan, um gewappnet zu sein. Es reicht nicht. Unsere Gesellschaft funktioniert nicht, wenn einzelne Stationen in Lieferketten ausfallen, Krankenhäuser überfüllt sind und Schulen schließen müssen. Im Mai dachten wir, das Ende des Tunnels zu sehen. Wir haben uns getäuscht. Schade! Bleiben wir gelassen. Gehen wir frohen Herzens in das neue Jahr.“

Schon das kollektive Handeln in einer Organisation ist nicht selbstverständlich. Daran hat der Philosoph Ernst Bloch am Anfang seines Buches Spuren aus dem Jahr 1930 erinnert: „Wie nun? Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Die Menschen müssen sich das Wir erst erarbeiten, und dies schien im Fall des Nahhorizontes „Organisation“ Zustimmung zu finden. Aber schon der beiläufige Übergang zu „unserer Gesellschaft“, von der in der Email auch die Rede ist, stellt einen Wechsel zum Fernhorizont mit unklarer Wir-Referenz dar.

Klimapolitik ist ethisches Engagement im Fernhorizont.13 Die Tatsache, dass die USA vorübergehend das Prinzip der indirekten Vermittlung der Klimapolitik aufgekündigt hatten, macht deutlich, wie sehr auch eine globale Klimapolitik von einer Dialektik von Macht und Ohnmacht betroffen ist. Die zeitweilige fehlende klimapolitische Verantwortung der „Oberklasse“ der USA, aber auch Chinas, zeigte sich in ihrem klaren Nicht-Engagement und führte dem Rest der Welt die eigene Ohnmacht vor Augen. Macht lässt sich nur generieren, wenn verantwortliches Handeln konkret verifiziert wird. Als maßgebende Maxime ist die Mehrung der Wohlfahrt in ökologischer Verantwortung herauszustellen, und die Vernunft ist die Instanz, die für verantwortliches ökologisches Handeln verbindlich ist.

Bild: Project Apollo Archive auf wikimedia commons
 

In der öffentlichen Auseinandersetzung über die Klimafrage zeigt sich der große Einfluss eines ökologischen Holismus: Ein beeindruckendes Bild, wie die Aufnahme aus der Apollo-8, das den aufgehenden Blauen Planeten zeigt, bringt ihn auf den Punkt. Allerdings folgt aus diesem großartigen Bild noch keine große Handlungsfähigkeit.14 Zwar gebrauchen die ökologisch Engagierten zu Recht das umfassende Wir, schließlich ist die gesamte Menschheit von der ökologischen Krise betroffen. Allerdings ist die Menschheit kein handlungsfähiges politisches Subjekt. Nicht nur die natürlichen Kapazitäten der Erde sind knapp und nur begrenzt belastbar, sondern auch die Kapazitäten der Gesellschaft, auf Störungen und Herausforderungen angemessen zu reagieren. Die klimapolitischen Akteure haben es mit Immunisierungsstrategien und Trägheiten des Gesellschaftlichen zu tun. Auch politische Beschlüsse, Programme und Geld sind nicht hinreichend, um zu konkreten Maßnahmen und zu fassbaren Ergebnissen zu kommen.

Wie gelangen wir zu einem handlungsfähigen und ökologisch verantwortlichen Wir? Erst die Arbeit des Interessenausgleichs der strategisch relevanten Akteure führt zu einem Wir, das zu praktischen Lösungen gelangt, die von allen getragen werden. Vielleicht ist das eingangs gewählte Beispiel aus der Welt des Fußball auch hier nicht verkehrt: auch bei den großen europäischen Fußballclubs macht das Geld für sich genommen noch keine Spitzenmannschaft, sondern erst, denn die Vereine das Geld investieren und das Management, der Trainer, die Mannschaft und die Organisation gut zusammenarbeiten, kann dies gelingen.

Auch in der Politik erscheint ein operatives, stabiles und lernfähiges Wir erforderlich. Damit es sich bilden kann, muss die ökologische Frage im Zusammenhang mit der ökonomischen und sozialen Frage beantwortet werden. Dies wäre unter anderem die Aufgabe einer nachhaltigen Industriepolitik, die für Investitionen in reale Fortschritten sorgt. Die Umsetzung des Green Deals in der EU erfordert konkrete Fantasie, ausdauernde Arbeit und Geduld im Umgang mit anderen Interessengruppen.


1  Kaiserlicher Schutzbrief der Gesellschaft für Deutsche Kolonien von 27. Februar 1885, in: Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten. 1. Band 1849 – 1906 2 Zur Semantik des „Volkes“ und seiner „Spaltung“ siehe demnächst ein Artikel in diesem Blogg. 3 Vgl. Michael Hartmann, Die „Oberklasse“ – ein blinder Fleck bei Andreas Reckwitz, in: Leviathan, 49. Jg. , 3/2021, S.297-308 4 Vgl. Hartmann (2021) 5 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, Ch.H. Beck, München 2014 6 Vgl. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie, Luchterhand Verlag, Berlin 1964, S. 509-511 7 Vgl. Walter Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Neske Verlag Pfullingen, 1980 (1972), S.781ff. Der Begriff des Horizonts, der einst von Hans-Georg Gadamer ausgearbeitet wurde, ist der Sichtskreis, der für das sich orientierende Verstehen wesentlich ist. 8 Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. 2007, 1. Auflage 1957 9 Vgl. Schulz (1980, 794) 10 Vgl. Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit, in: M. Seeliger, S. Sevginani (Hrsg.), Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Sonderband Leviathan 37/2021, S.494ff, Nomos Verlag und die Rezension von Hans-Jürgen Arlt „Die Demokratie verkümmert in den Schluchten zwischen Anspruch und Alltag“ vom 9.2.2022 auf diesem Blogg. 11 Vgl. Christoph Möllers, Freiheitsgrade, edition suhrkamp, Berlin 2020 12 Vgl. Bruno Latour, Das terristrische Manifest, edition suhrkamp, Berlin 2019, S. 11 13 Schulz (1980, 781ff) 14 Vgl. Armin Nassehi, Alles, sofort? Das geht nicht. Warum es für eine moderne Gesellschaft so schwierig ist, die Klimakrise zu bekämpfen, Zeit online, 26.10.2019, (E: 5.11.2019)

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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