Die Agenda 2030 braucht radikale Politik und echte Kompromisse für Übergänge  

Anthropozän Collage (Treisijs auf wikimedia commons)

In einer globalen moralischen, wissenschaftlichen und ökologischen Umbruchsituation wie der gegenwärtigen kann es keinen Plan oder kein Handeln geben, auf deren Boden eine relativ übersichtliche „Landkarte“ von klugen Strategien und Handlungsoptionen entfaltet werden könnte. Ambitionierte Ratschläge für das Gelingen eines Gesamtentwicklungsvollzugs sind daher abzuschwächen. Angezeigt erscheinen stattdessen Ratschläge für die Möglichkeit des Gelingens einer Politik, welche uns in der dynamisierten Situation des Unterwegseins auf der vom Menschen überformten Erde ein Weiterkommen ermöglicht.

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Die Weltozeankonferenz drückt ihr Bedauern aus.

Im Juni 2022 hatte sich die Staatengemeinschaft in Lissabon getroffen, um darüber zu beraten, ob sie Ziel 14 der Agenda 20301, die Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu erhalten und nachhaltig zu nutzen, nähergekommen sei. Wieder einmal waren sich die Vertreterinnen und Vertreter der Staatengemeinschaft einig, dass der Schutz der Ozeane „dringend“ und „energisch“ verbessert werden muss.

Die Weltozeankonferenz in Lissabon hatte in ihrer gemeinsamen Erklärung das bisherige kollektive Versagen beim Schutz der Meeres- und Küstenökosysteme „zutiefst“ bedauert.2 Die Staatengemeinschaft wollte alles daransetzen, die Ziele zum Schutz der Meere „so bald als möglich“ zu erreichen. Verbindliche Maßnahmen gegen die Vermüllung der Meere, gegen Überfischung und die Zerstörung maritimer Lebensräume vereinbarte sie aber nicht, sondern überließ sie freiwilligen nationalen Maßnahmen zum Schutz der Meere. Es gab nur gute Einzelinitiativen wie die Forderung nach einem Moratorium für Tiefseebergbau.

Bild: Rilsonav auf Pixabay

Der unbestimmte G7-Gipfel verlangt nach Konsistenz und Kohärenz

Wenige Tage nach der Ozeankonferenz kündigten die führenden Industrienationen auf dem G7-Gipfel im bayerischen Elmau ein 600-Mrd.-Dollar-Programm für die Seidenstraße des Westens an. Sie wollten dem wachsenden Einfluss Chinas in der Welt etwas entgegensetzen, das im Rahmen seiner Neuen-Seidenstraße-Offensive viel Geld in die Infrastruktur afrikanischer und südosteuropäischer Länder, in den Bau von Häfen, Straßen und Bahnstrecken investiert. Es hat Minen gekauft, in denen Lithium und Kobalt gefördert werden. Beide Rohstoffe braucht Europa für die Produktion seiner Elektroautos.

Immerhin ergab der Gipfel eine Reihe von konkreten Schritten. Es wurde die Verteilung der Beiträge verbindlich vereinbart: die EU wird 300 Mrd. Euro für den Ausbau der Infrastruktur in ärmeren Ländern bereitstellen und 200 Mrd. Dollar die USA. Japan steuert 65 Mrd. Dollar bei, Kanada 5,3. Die Staatschefs entschieden auch über die Quellen der Finanzierung: das Kapital soll nicht allein aus staatlichen Töpfen kommen, sondern auch von privaten Investoren. Allerdings blieb die Frage offen, wer genau welchen Anteil tragen soll. Die Programme sind vielgestaltig. Ein Beispiel ist ein Aktionsfonds, der in Schwellenländern privates Kapital für eine nachhaltige Infrastruktur mobilisieren soll.3

Die G7-Staats- und Regierungschefs haben auch die Gründung eines offenen und integrativen Climate Clubfür den Klimaschutz beschlossen. Es werden Verhandlungen über Energiewendepartnerschaften (Just Energy Transition Partnerships) mit Indien, Indonesien, Senegal und Vietnam geführt, um sozial ausgewogene energiepolitische Reformen mit dem Ziel der Dekarbonisierung der Energiesysteme und Steigerung der Energieeffizienz zu unterstützen. Die Staaten wollen auch beim Thema klimabedingter Schäden und Verluste wie bei Ernteausfällen zusammenarbeiten, um einen globalen Schutzschirm gegen Klimarisiken zu schaffen sowie die Klima- und Katastrophenrisikofinanzierung und -versicherung ausbauen. Der Schirm soll beispielsweise mit Versicherungen oder sozialen Sicherungssystemen Klimarisiken abwehren bevor die Krise eintritt.4

Wenn die Beschlüsse von Elmau zu einer Seidenstraße des Westens eine nachhaltige Wirkung erzeugen sollen, werden weitere Schritte der Konkretisierung folgen müssen. Wenn der Westen Tatkraft ausstrahlen will, sind entwicklungspolitische Konsistenz und Kohärenz gefragt. Mit der Rede von Partnerschaften, Koordinierung und der Gründung eines Klima-Clubs ist die Initiative nicht gegen Folgenlosigkeit und Misserfolge gefeit.

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Eine Roadmap nach pragmatisch-provisorischer Moral

Wie könnte effektives und effizientes Handeln die Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne nachhaltiger Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen? Wenn die bisherige Politik darin bestand, Ziel 14 der Agenda 2030 mit freiwilligen Initiativen und Selbstverpflichtungen einzelner Staaten zu erreichen, sind die Grenzen dieser Strategie deutlich geworden.

Die Selbstverpflichtung kann grundsätzlich ein wirksamer Faktor für die Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie sein. Aber Selbstverpflichtungen müssen an Bedingungen geknüpft werden: an substantiierte und detaillierte Regelungen sowohl in den Unternehmen als auch mit Wirkung über sie hinaus. Selbstverpflichtungen von Institutionen und Organisationen sollten für ihre Mitglieder ein Anreizsystem darstellen. Sie können Gratifikationen wie Vertrauen oder Entlastung bei partikulär misslichen Operationen erzielen. Dies käme einer langfristig orientierten Unternehmensstrategie zugute. Aber die einem koordinierten und verbindlichen Handeln im Wege stehenden Interessendifferenzen sind zu stark.

Sicherlich liegt die Lösung auch nicht in kontextfreien politischen Narrationen. „Gerechte Handelspolitik“, „technische Quantensprünge“, „Traktoren für Afrika“, „globaler Fleischverzicht durch Verbote, Nudging, Ökoabgaben“, oder „mehr Geld gegen den Hunger“. Es gibt keine allgemeingültigen Antworten auf Fragen wie „Gentechnik oder nicht?“ oder „Kleinbauer oder finanzstarker Investor?“. Erst die Einordnung in regionale, lokale und persönliche Kontexte zeigt, dass es viele Antworten auf die Welternährungsfrage gibt. Sie überzeugen oft nur, wenn die Frage auf einen konkreten Ort, ein konkretes Produkt, ein konkretes Saatgut etc. bezogen ist.5

Als Alternative kommt der Entwurf einer Roadmap in Frage, die dem globalen Werte- und Interessenpluralismus von Staaten und Regionen Rechnung trägt. Eine Roadmap kann heutzutage nicht mehr schlicht Top-down erfolgen. Eine an den grünen Tischen in Washington, Brüssel, Paris oder Berlin entworfene Strategie würde kaum die notwendige Legitimation finden. Oder anders gesagt: In Mumbai und Sao Paulo, Singapur und Dakar, Johannesburg und Kairo wird man bestreiten, dass die Laboratorien in den Vereinigten Staaten und Europa, die mit wirtschaftlicher, kultureller Macht ausgestatteten finanziellen und politischen Institutionen ausreichend sind.

Olympische Winterspiele in Nagano 1998, russische Briefmarke (Russian Post/Ilyukhin B., painter auf wikimedia commons)

Ein aktuelles Beispiel, in dem Top-down mit Prestigedenken verknüpft ist, sind die Olympischen Spiele und ihre verschwenderischen Bauprojekte. Hieran hat sich längst eine wachsende Kritik entzündet, die zum Widerstand der Bürger:innen geführt hat. So hat die Internationale Alpenschutzkommission (CIPRA) unlängst die Pläne für Italiens vermeintlich grüne Winterspiele von Mailand und Cortina 2026 kritisiert und vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) gefordert, die geplanten Bauprojekte für Cortina zu überdenken und zu verkleinern. Viele Bürger:innen erinnern sich an die Folgen der Winterspiele 2006 in Turin, als die Alpenregionen mit hohen Schulden und ungenutzten Sportstätten zurückblieben. Volksbefragungen in den Schweizer Kantonen Wallis und Graubünden, im österreichischen Tirol sowie in Salzburg und in der Hauptstadt Bayerns zeigten, dass große Teile der Alpenbevölkerung nicht mehr bereit sind, die negativen Folgen der Olympischen Winterspiele hinzunehmen. Italien hatte den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2026 erhalten, ohne ein Referendum durchgeführt zu haben. Die lokale Bevölkerung wurde in kolonialem Stil wie ein unmündiges Alpenvolk behandelt.

Deshalb muss das Top-down im kooperativen Zusammenwirken mit einem Bottom-up realisiert werden, um die Betroffenen in den Regionen tatsächlich zu beteiligen. Im Kontext von Entwicklungspolitik steht ein überlegenes technologisch-organisatorisches Wissen der entwickelten Staaten den weniger entwickelten Staaten gegenüber. Es kann nicht ohne weiteres übertragen werden. Die finanzielle, technische und organisatorische Handlungsfähigkeit der Geberländer trifft auf die Geschichte, Kulturen und Traditionen der Nehmerländer, die ihre „Vermächtniswerte“ verteidigen.

Die globalen Institutionen und Geberländer können für eine Roadmap allenfalls ein Tableau entwickeln, das die verschiedenen Optionen einer auszuhandelnden Systembildung enthält. Dies trägt der Verfasstheit der Welt Rechnung: in einer moralischen und wissenschaftlichen Umbruchsituation wie der gegenwärtigen kann es keinen Plan oder kein Handeln geben, auf deren Boden eine relativ übersichtliche „Landkarte“ von Handlungsoptionen und klugen Strategien entfaltet werden könnte.

Ambitionierte Ratschläge für das Gelingen eines Gesamtentwicklungsvollzugs sind daher abzuschwächen. Angezeigt erscheinen stattdessen Ratschläge für die Möglichkeit des Gelingens einer Politik, welche uns in der dynamisierten Situation des Unterwegseins ein Weiterkommen ermöglicht. Dem entspricht eine pragmatisch-provisorische Verfassung der Roadmap, die einfach handhabbaren Descartesschen Regeln folgt. 6 Die Strategie sollte sich an bestehenden Möglichkeiten orientieren, sich für die erfolgversprechende Problemlösung entscheiden, nichts erstreben, was jenseits der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten liegt, das eigene Beurteilungsvermögen weiter vervollkommnen. Alle Regeln stehen konfligierend nebeneinander und eröffnen einen Suchraum.

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Die Welternährung

Hungersnot. Gedenkstätte in Dublin (Foto: AlanMc auf wikimedia commons)

Eine pragmatisch-provisorische verfasste Roadmap hat auch mit Blick auf die Welternährungspolitik ihre Berechtigung. Denn der am 6. Juli 2022 veröffentlichte UN-Welternährungsbericht zeichnete ein düsteres Bild der Ernährungslage auf der Welt. Im Jahr 2021 waren zwischen 702 und 828 Millionen Menschen von Hunger betroffen – im Mittel 46 Millionen mehr als im Zeitraum von 2019 bis Ende 2020. „Vorhersagen zufolge werden im Jahr 2030 immer noch 670 Millionen Menschen von Hunger betroffen sein – 8 Prozent der Weltbevölkerung und damit genauso viele wie 2015, als die 2030 Agenda aufgelegt wurde“, heißt es in diesem Bericht. Das Ziel zwei der Agenda 2030, den Hunger in der Welt bis 2030 zu beenden, ist derzeit so weit entfernt wie nie zuvor.

Die Ursachen für dieses Scheitern sind rasch benannt: die durch die Corona-Pandemie gestörten Lieferketten, gestiegene Lebensmittelpreise und der Klimawandel, aber auch die zunehmende Zahl von Konflikten auf der Welt. Außerdem tragen fehlgeleitete staatliche Investitionen in Entwicklungsländern zum Welthunger bei. „Viele von Hunger stark betroffene Länder haben zu viel in die Erschließung von Rohstoffen wie Öl anstelle des Agrarsektors investiert und in Kauf genommen, dass landwirtschaftliche Produkte importiert werden müssen“, hat dazu Dominik Ziller, Vizepräsident des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung der Vereinten Nationen, gesagt. Außerdem fehle es an Geld. Die Vereinten Nationen und die Weltbank berichten, dass zwar jährlich mehrere Hundert Milliarden Euro im Kampf gegen den Hunger ausgegeben werden. Aber weitere 350 Mrd. US-Dollar im Jahr sind nötig.

Hilfe muss ankommen

Kürzlich haben die G7-Entwicklungsminister:innen das Bündnis für globale Ernährungssicherheit7 beschlossen, um sicher zu stellen, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie am dringendsten benötigt wird. Dabei hat die G7 die Unterstützung der Global Crisis Response Group der Vereinten Nationen, die Hilfsmaßnahmen koordiniert, der Weltbank, der Afrikanischen Union, des UN-Welternährungsprogramm (WFP) und des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD). 

Effektive und effiziente Hilfe ist ein radikales entwicklungspolitisches Ziel. Aktuell muss sie die Versorgung der hungernden Bevölkerungen mit Grundnahrungsmitteln wiederherstellen. Mittel- und langfristig müssen aber die globalen Agrar- und Ernährungssysteme umgestaltet werden, um sie resilient und nachhaltig zu machen. Dafür sind die lokale Produktion und der regionale Handel zu stärken und die Entwicklungsländer müssen in die Lage versetzt werden, sich stärker selbst zu versorgen, um ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt zu reduzieren. Sie würden zukünftig von Naturkatastrophen wie Dürren und Starkregen und vom Wegfall einzelner Importländer weniger stark getroffen.

Wenn für die Agenda 2030 eine pragmatisch-provisorische Moral zur Anwendung kommen soll, müssen andere Kriterien gelten: Flexibilität, Stabilität, Sturm- und Krisensicherheit sowie Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Erfordernisse und Situationen. Sie würden den Bauern die Möglichkeit geben, auf dem Land und in ihrer Heimat zu bleiben. Effektive Hilfe könnte beispielsweise einfaches technisches Gerät bringen, nicht immer sind komplexe technologische Anlagen auf dem neuesten Entwicklungsstand der Situation angemessen. So könnte beispielsweise mit einem Traktor oder vielleicht einem Ernteroboter Hilfe geleistet werden, aber mit Sicherheit auch mit Wasserpumpen und Bewässerungssystemen im kleinen Ausmaß; schließlich auch mit praktischen Dingen wie Holz-Lagerhäusern oder vakuumierbaren Plastiksäcken. Sie wären Teil des grundlegenden Wandels der Ernährungssysteme. Aber die Transformation müsste den Bauern auch Marktzugang für ihre Produkte verschaffen und sie in die Lage versetzen, Allianzen von Handel und Erzeuger-Genossenschafen zu bilden. Das Spektrum der Maßnahmen für eine Alternative zur althergebrachten Industrialisierung der Landwirtschaft alten Stils ist groß.

Der Welt-Hunger Index 2021 zählt weitergehende konkrete Ziele und transformative Maßnahmen auf: Resilienz von Ernährungssysteme zu stärken, lokal geführte Initiativen zu fördern, flexible, bedürfnisorientierte Planungen und Finanzierungen, Konflikte politisch zu lösen und den grundlegenden Wandel der Ernährungssysteme. Die Komplexität dieses Tableaus von Entwicklungszielen lässt nicht zu wünschen übrig.

Ein grundlegender Wandel der Ernährungssysteme

Die Welthungerhilfe fordert mit ihrem Welt-Hunger Index 2021 den radikalen Wandel der Ernährungssysteme. Die multilaterale Ernährungspolitik muss auf Menschenrechten und der Beteiligung von Zivilgesellschaft und Gemeinden beruhen, und es müssen Ungleichheiten, Marktversagen, Gesundheits-, Umwelt- und Klimarisiken der Ernährungssysteme bewältigt werden.

2021 hungerten weltweit bis zu 828 Mio. Menschen. Das heißt jede 10. Person litt chronischen Hunger. © Welthungerhilfe

Schließlich werden zum Jahr 2050 zwischen 50 und 70 Prozent mehr Nahrungsmittel produziert werden müssen, um möglicherweise neun oder zehn Milliarden Menschen ausreichend mit dem zu ernähren – also auch mehr Fleisch und Milchprodukte. In den Entwicklungs- und Schwellenländern muss der Ertrag der Ernten mit dem Bevölkerungswachstum deutlich steigen. Man wird mehr Nahrung brauchen.8 Deshalb sind innovative Projekte zur Lebensmittelgewinnung und zur klimaresistenten und diversifizierten Anbaumethoden in der Diskussion: Permakulturen und Kreislaufwirtschaft. Die Lebensmittelproduktion spannt sich von Algenzucht in China über problematische Aquakulturen in Norwegen bis zum einfachen Leben der Bäuerinnen in Sambia und Ghana.

Die Welthungerhilfe hat klargestellt, dass die bewährten Problemlösungen der Welternährungspolitik sich nur noch in eingeschränkter Form fortschreiben lassen. Die Komplexität der Welt, die durch die Erfordernisse des Umweltschutzes noch zugenommen hat, verlangt andere Reaktionen und Alternativen. Dazu bietet die Fortsetzung der Brachial-Industrialisierung keine Perspektive.9 Schließlich würde eine „grüne Revolution“ nach dem Vorbild der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts die globale Landflucht fortsetzen. Die Bauern beispielsweise im Senegal müssten vom Land in die Stadt gehen.

Ein konkretes, in vielen Einzelheiten beschriebenes Beispiel steht auf Bruchstücke unter dem Titel „Ein Bauer im Senegal“. Ein großer Teil der Zielsetzungen des Welt-Hunger-Indexes findet sich dabei in nuce versammelt. Es zeigt sich, dass selbst dort, wo es an Idealen, Ideen, Geld und gutem Willen nicht mangelt, die Umsetzung des Projektes komplizierte Fragen aufwirft. Zwischen privaten Projektgebern und Projektnehmern entstehen Dissense, die echte Kompromisse erfordern.
Vorausgegangen ist eine Reflexion über „Kompromiss und Radikalität„.

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Probleme der Übergänge gehören ins Zentrum einer Roadmap

Um die Resilienz von Ernährungssystemen zu stärken, müssen Regierungen und Geldgeber klimaresistente und diversifizierte Anbaumethoden fördern und lokale Märkte stärken. Die Forderung nach einer Richtungsänderung – wie radikal, „völlig neu“ muss die Produktion von Nahrungsmittel gedacht werden? – darf die kritischen Erfahrungen mit der Praxis der politischen Steuerungsinstrumente nicht übergehen. Denn selbst wenn der reiche Norden die Forschungs- und Förderpolitik und die staatliche Entwicklungshilfe konsequent am Ziel der Kreislaufwirtschaft ausrichten und eine Präzisionslandwirtschaft die der Verschwendung ersetzen wird, werden die Umsetzungsprobleme, die von politisch kaum durchsetzungsstarken Staatsapparate, Bad Governance und Kooperationsproblemen entstehen, nicht aus der Welt sein. Schließlich sollen global 70 Prozent der Bauern Kleinbauern sein, die oftmals ohne Technik ihren Beitrag zur Welternährung leisten. Und es sei in Erinnerung gerufen, dass zentrale Steuerungselemente sich ineffizient erwiesen haben: Verbote sind schwierig zu realisieren, Steuern unbeliebt und wenig wirksam. Für die zunehmend ordnungspolitischen Bemühungen wie Limonadensteuern oder die kritische Thematisierung von Essstilen in den Schulen gilt dies gleichermaßen.10

Dies rückt die Probleme der Übergänge ins Zentrum einer Roadmap. Sie betreffen nicht nur die neuen Ernährungssysteme, sondern auch die Kommunikations- und Kooperationsformen, die den lebensweltlichen Erfahrungen der Adressaten aufnehmen müssen. Lösungsansätze müssen sowohl global als auch regional gesucht werden und Strukturen vor Ort dürfen nicht einfach von außen geändert werden. Die Akteure in den Ländern und Regionen des globalen Südens müssen selbst darüber entscheiden, welche Maßnahmen für ihre Landwirtschaft sinnvoll sind. Und sie müssen selbst aktiv werden und Privatinvestoren anlocken.11

Nur echte Kompromisse können Übergänge schaffen. Sie werden die Probleme nicht lösen, aber können Zeit gewinnen und eine Atempause verschaffen. Schon bei anderen Kompromissen wie dem Energiemix, dem Verkehrsmix oder dem sanften Tourismus konnten einige Nebenfolgen vorübergehend gemildert werden, aber es treten Verspätungseffekte sowie fortwährende Reaktionszwänge ein.

Aus der Perspektive des Übergangs sollte auch das vielfach kritisierte Landgrabbing betrachtet werden. Die Aneignung von insbesondere agrarisch nutzbaren Flächen kann Vorteile vor Ort haben kann, wenn höhere Ernteerträge durch industrielle Landwirtschaft entstehen und Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber auch die Verwundbarkeit der globalisierten Landwirtschaft mit ihren Monokulturen ist kritisch in Betracht zu nehmen. Es wird Kreisläufe in der Nahrungsmittelproduktion brauchen. Das bedeutet nicht biologischen Anbau immer und überall, aber einen sorgsamen Umgang mit den Grundlagen unserer Ernährung. Auch hier ist ein Kompromiss gefragt.

Echte Kompromisse sind schließlich beim Management von Dissensen zwischen den Akteuren gefragt. Anregungen für eine entwicklungspolitische Kommunikation, die auf Akzeptabilität / Akzeptanzfähigkeit ausgerichtet ist, finden sich beim Verein Deutscher Ingenieure.12 Die Kommunikation mit den Stakeholdern sollte die Ebenen der Information, der Konsultation und der Kooperation umfassen. Sie sollte dem Projekt vorgeordnet sein, es begleiten und offen sein für Aushandlungsprozesse von der Planänderung bis hin zu Kompensationen für zugemutete Lasten. Der Sinn des Projekts sollte in verständlicher Sprache und mit Blick auf Interessenlagen aller Beteiligten dargestellt werden. Ein kontinuierliches Monitoring während des Verlauf und nach der Beendigung, in dem Leistungen, Schwächen und Fehler bilanziert werden, sollte die Kommunikationsprozesse in institutionalisierter Form fortführen. Und die gewonnene Expertise aller Beteiligten sollte in unternehmensinterne und externe Bildungsprozesse einfließen.

Radikale Politik beendet den Hunger. Dies schließt Innovationsprozesse ein. Das Konzept einer dreidimensionalen Nachhaltigkeit, die ökologische, ökonomische und soziale Interessen in eine Balance bringt, wird dem gerecht. Radikale Politik bemisst sich nicht an Selbstüberbietung und Aufstieg in einer hierarchischen Stufenfolge, sondern an der Herstellung von Zusammenhängen.


1  Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung: Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, verabschiedet am 25. September 2015 2 Vgl. „Ozeane ohne Schutz“ Die Staatengemeinschaft verspricht auf der Weltozeankonferenz einen besseren Schutz der Meere gegen Verschmutzung und Raubbau. FAZ 2-7-2022 3 Vgl. Julia Löhr, Manfred Schäfers, Das 600-Milliarden-Luftschloss, FAZ 28-06-2022 4 Vgl. „Ministerin Schulze: Ergebnisse des G7-Gipfels tragen starke entwicklungspolitische Handschrift“, Pressemitteilung des BMZ vom 28. Juni 2022, www.bmz.de (E: 11-07-2022) 5 Vgl. Jan Grossarth (Hrsg.), Future Food. Die Zukunft der Welternährung, wgb Theiss, Darmstadt 2019, S.303f 6 Hier lässt sich an die Überlegungen des Philosophen René Descartes (1596-1650) anknüpfen. Er ging davon aus, dass wir über kein fest gebautes „ethisches Haus“ mehr verfügen. Vgl. dazu Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen Bd. II, transkript Verlag, Bielefeld 2007, S.133f 7 Vgl. „Bündnis für globale Ernährungssicherheit gestartet“, Pressemitteilung des BMZ vom 19. Mai 2022, www.bmz.de (E: 11-07-2022) 8 Vgl. Jan Grossarth (Hrsg.), Future Food. Die Zukunft der Welternährung, wgb Theiss, Darmstadt 2019, S.8, S.310f 9 Vgl. Grossarth (2019, 307f) 10 Vgl. Grossarth (2019, 309) 11 Vgl. „46 Millionen Menschen mehr hungern“ (FAZ 07-07-2022) Gegen den Hunger in der Welt verabredeten die G7 eine gemeinsame Zusage, über bereits gewährte Hilfen hinaus 4,5 Mrd. Dollar aufzubringen. (FAZ 29-06-2022) 12 Vgl. Verein Deutscher Ingenieure, VDI 7001, Kommunikation und Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planung und Bau von Infrastrukturprojekten, März 2014

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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