Aushöhlung der Demokratie in den USA und anderswo

Barbara F. Walter, amerikanische Politikwissenschaftlerin und Autorin des Weltbestsellers zur Gefährdung der Demokratie in der ganzen Welt, erwarb ihre Sensibilität für die Gefährdungen der Demokratie durch Ungleichheit, Ungerechtigkeit, mangelnde oder ganz fehlende Rechtsstaatlichkeit und Unsicherheit: von ihrer Mutter. Diese stammte aus dem Schweizer Halbkanton Appenzell Innerrhoden, wo eine männliche Mehrheit der Stimmbürger von nicht einmal 20 000 Einwohnern des kleinen Kantons bis 1991 erfolgreich verhinderte, dass Frauen politisch gleichberechtigt wurden, wie in den meisten anderen Kantonen seit immerhin seit 1972 und in den meisten Staaten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Der Abstimmungserfolg von1991 war übrigens nur möglich nach einer erfolgreichen Klage von 100 Bürgern und einem positiven Urteil des höchsten Schweizer Gerichts.

Die Autorin zeigt in ihrem Buch überzeugend, wie Staaten, bevor sie in offene Bürgerkriege hinein geraten, zuvor ein Stadium durchlaufen, in dem demokratische Rechte und Garantien systematisch aufgeweicht werden, um schließlich im offenen Autoritarismus zu stranden, der zum Bürgerkrieg führt. Dieser Prozess vollzieht sich schleichend, d.h. von den meisten Bürgern unterschätzt oder gar nicht wahrgenommen. Sie bemerken den Bürgerkrieg erst, wenn er da ist, was durch viele empirische Untersuchungen und Erfahrungsberichte eindeutig belegt wird.

Barbara F. Walter ist seit 2017 Mitglied in der Forschungsgruppe „Political Instability Task Force“ (PITF), die die US-Regierung berät, um optimal auf Tendenzen reagieren zu können, wenn Staaten in den Sog demokratiegefährdender Prozesse geraten, d. h. in das Stadium der Anokratie. Diesen Begriff prägte der Politikwissenschaftler Robert Gurr für Staaten „in der Zwischenzone zwischen Noch-Demokratie und ausgebildeter Autokratie, also für ein Zwitterwesen oder Übergangsregime mit noch einigen demokratischen Zügen, das jedoch bereits eine Regierung mit autokratischen Befugnissen“ zulässt. Ungarn unter Orbán, die Türkei unter Erdogan, Polen unter Kaczynski, Israel unter Netanjahu sind Beispiele für heutige Anokratien.

Während ihrer Mitarbeit in der Forschergruppe PITF war die Autorin „überrascht, dass viele Indikatoren für Bürgerkriege bzw. eine Anokratie in den USA sehr präsent“ sind und studierte die entsprechenden Analysen im Rahmen des „Polity Projects“ des „Center for Systematic Peace“ von Robert Gurr und Monty Marshall.

Journalistische Gemeinplätze werden erschüttert

Barbara F. Walter referiert auch Studien zu Bürgerkriegen in allen Teilen der Welt von Palästina, dem Libanon, dem Irak, dem Balkan, Nordirland, Ruanda und Simbabwe, aber ihr Hauptinteresse gilt den Prozessen der schleichenden Aushöhlung der Demokratie in den USA, was momentan sehr gut in die Landschaft passt, denn der Putsch auf das Kapitol in Washington jährt sich und das peinliche Remake bzw. Bolsonaros Kopie von Trumps Putschversuch liegt erst einige Tage zurück und verweist auf die Gefährdung der Demokratie in Südamerika, mit seinen putscherprobten Militärs.

Barbara F. Walter
University of California, San Diego

Vor allem interessiert die Autorin die Entwicklung und die Rolle des Internets und speziell der Social Media von Ländern und Gesellschaften in unterschiedlichen Stadien der Entleerung der Demokratie. Dabei kommt sie zu sehr aufschlussreichen, durchwegs empirisch sehr gut belegten Befunden. So kann sie zeigen, dass die Gefahr eines Bürgerkriegs in einem Land immer dann „am größten ist, wenn es sich auf die Demokratie zu- oder von ihr wegbewegt und nicht beim Grad an Demokratie“, der im Land zu einem Zeitpunkt herrscht. Hochgefährdet ist die Demokratie in Ländern, die den Prozess der Demokratisierung zu schnell oder zu radikal verfolgen. Sie landen eher in der „Zwischenzone, der Anokratie“, als bei einer substantielleren Form der Demokratie, denn: „Es gehört zu den unbequemen Wahrheiten der Demokratisierung, dass die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs wächst, je schneller die Reform ausfällt.“

Andere Befunde erschüttern weitherum als plausibel geltende journalistische Gemeinplätze robusterer Natur. So sind „nicht die ärmsten Länder am konfliktträchtigsten, nicht die mit der größten Ungleichheit, nicht die repressivsten und nicht jene mit der größten ethnischen Vielfalt.(…) Verhältnisse mit der partiellen Demokratie bringen Bürger dazu, zu den Waffen zu greifen“. Allerdings räumt die Autorin auch ein, dass „selbst mit den besten Daten sich die Zukunft nicht vorhersagen lässt.“

Die Versuche, solche Befunde in eine transhistorisch gültige Skala von Faktoren und Kriterien zu übertragen, die einigermaßen zuverlässige Prognosen über Bürgerkriegsgefahren für einen Staat zulassen, unterschätzen doch erheblich die Rolle und Bedeutung historisch, politisch, sozial von Fall zu Fall doch sehr unterschiedlich gelagerter Verhältnisse, die sich nicht mathematisch begradigen lassen.

Trump, das eindrücklichste Beispiel

Trump-Unterstützer an der Union Station Columbus Circle Washington DC am Mittwochmorgen, 6. Januar 2021
(Foto: Elvert Barnes auf wikimedia commons)

Als wichtigste Brandbeschleuniger von Konflikten bis zum Bürgerkrieg haben sich historisch die Mobilisierung ethnisch-nationaler und religiös-sozialer Gegensätze, Vorurteile und Ressentiments erwiesen. Eine regelrechte „Vorstufe zum Bürgerkrieg“ bilden nach den Forschungsergebnissen der PITF „faktionalisierte“ Gesellschaften, d.h. Gesellschaften, in denen sich ethnische und/oder religiöse Interessengruppen bzw. familienähnliche Clans zu homogenen Fraktionen verschweißen, die auf der Grundlage von ethnischen und/oder religiösen Zuschreibungen eine radikal identitätsbasierte Politik der Abgrenzung und Ausgrenzung propagieren und oft durchsetzen, sobald sie dazu in der Lage sind. Die Social Media haben die Bandbreite, Reichweite und Effizienz dieser „Faktionen“ schlagartig vervielfacht und beträchtlich erweitert. Das weltweit eindrücklichste Beispiel und Vorbild für Faktionalismus ist die flächendeckende nationalistisch und rassistisch unterfütterte Agitation bis hin zur Volksverhetzung mit Hilfe der Social Media durch den abgewählten US-Präsident Donald Trump. Er erreichte damit, dass sich für die Gründung bewaffneter Milizen und für Waffenverkäufe eine Hochkonjunktur einstellte.

Das letzte Kapitel des Buches von Barbara F. Walter handelt davon, „wie man einen Bürgerkrieg verhindert.“ Es ist bezeichnenderweise eines der längsten und dreht sich fast nur um die herkömmlichen Defizite der amerikanischen Demokratie. Denn diese ist für die Autorin in ernster Gefahr, wozu die seit 50 Jahren sinkenden Sozialleistungen und die Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch Rechtsradikale ebenso beigetragen haben wie das in vielfacher Hinsicht defizitäre Wahlsystem und das Fehlen einer zentralisierten Wahlkommission mit für demokratische Wahlen elementaren Aufgaben und Kompetenzen: die müsste Wahlen auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen, die Finanzierung der Wahlkämpfe kontrollieren oder die Manipulation der Wahlkreise durch falsche demographische Annahmen und Spekulationen („Gerrymandering“) verhindern, die Willkür bei der Zulassung und Erstellung von Wahlregistern unterbinden und die Lokalisierung und die Öffnungszeiten von Wahllokalen oder auch die Zuteilung der dem Wachstum oder dem Schwund der Bevölkerung entsprechenden Zahl von Abgeordneten nach der wirklichen und (!) registrierten Wählerzahl durchsetzen.

Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen.
Übersetzt von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann.
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2022, Seiten 320, € 26,00

Rudolf Walther
Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur und Autor des Lexikons »Geschichtliche Grundbegriffe« gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist für deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Seine Essays, Porträts und Kommentare liegen in vier Bänden unter dem Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen« vor.

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