Die Tiefeninterviews der Agentur concept m, über die der Beitrag von Dirk Ziems „Ostdeutsche Enttäuschungen, westdeutsche Ohnmachtsgefühle“ berichtet, enthalten interessante und wichtige Hinweise über die Gefühls- und Geistesverfassung der Wählerinnen und Wähler der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Aber die gängigen Deutungen der Abkehr von demokratischen Regeln und Werten haben wenig Erklärungskraft.
Insbesondere die Textpassagen, in denen der AfD-affine Teil der Bevölkerung seine geschlossene „alternative Realitätskonstruktion“ relativiert und Zweifel an Gewissheiten einräumt, sind aufschlussreich. Man ist versucht zu sagen: sobald andere Menschen ihnen Aufmerksamkeit schenken, räumen sie Widersprüche ein zwischen den politischen Aussagen, denen sie zustimmen, und dem, was sie denken und fühlen. Dies ist mit Blick auf die Praxis der Demokratie bedeutsam. Denn viele der Wählerinnen und Wähler der Partei AfD folgen nicht den „nationalistischen Verherrlichungen“ und dem rassistischen Weltbild eines Politikers wie Björn Höcke. Also sind panische und alarmistische Reaktionen von demokratischen Politikerinnen und Politikern auf die Wahlerfolge dieser Partei definitiv verfehlt. Die Bewertung einer „schweren Gefährdung der Demokratie“ ist unzutreffend.
Angezeigt ist vielmehr eine nüchterne und abgeklärte Analyse. Selbstverständlich ist eine Wahl, die von Protestmotiven bestimmt ist, ein legitimes Mittel politischen Verhaltens. Aber gegenüber den Zeiten der „alten Bundesrepublik“ hat sich etwas Grundlegendes geändert. Damals bewegte sich der Protest der Bürgerinnen und Bürger in einem demokratischen Spektrum. Gewählt wurde im wesentlichen zwischen den Parteien CDU/CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Wem beispielsweise die Entspannung im Osten nicht passte oder wer den Ausbau des Sozialstaats als zu weitgehend empfand, konnte einem Slogan wie „Freiheit statt Sozialismus“ folgen. Der Protest in unserer Gegenwart ist davon grundverschieden. Teile der Bevölkerung bringen ihr politisches Missfallen und Unbehagen in der Wahl einer nicht-demokratischen Partei zum Ausdruck. Dies aus demokratischer Perspektive ist ein schwerer Fehler politischen Wählens. Die Stimmen entfallen auf eine Partei, die, käme sie an die Macht, demokratische Freiheiten, angefangen mit der Unabhängigkeit der Justiz und der Medien, beenden würde.
Demokratie bedeutet mehr als freie Wahlen
Die Partei AfD ist keine demokratische Partei. Sie ist allerdings technisch-organisatorisch, sprich über ein demokratisches Verfahren in den Bundestag und die Landesparlamente gelangt. Die AfD ist nicht als demokratische Partei anzuerkennen, weil sich das Demokratische nicht allein an einem rechtmäßigen Wahlverfahren bemisst, sondern notwendig an die Grund- und Menschenrechte und heute an die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Vereinten Nationen gebunden ist. Das Leben der Demokratie besteht nicht nur in der Legitimation durch freie, gleiche und geheime Wahlen, sondern braucht auch die lebendige Substanz demokratischer Werte.
Das Forschungsteam von concept m sah sich Anfeindungen ausgesetzt. Ihm schlugen während seiner Tiefeninterviews „Wut“ und ein „unausgegorenes Grollen“ der Sympathisantinnen und Sympathisanten der Partei AfD entgegen. Wut und vielleicht auch Hass sind die emotionalen Quellen für das Gewirr an abstrusen Behauptungen über die Welt, aber sie sind kaum grundlegende Erklärungen. Sie befinden sich allenfalls auf einer mittleren vermittelnden Erklärungsstufe. „Wut“ ist nichts Ursprüngliches, sondern produziertes Produkt. Woher stammt die Sympathie für die AfD, wie kommt sie zustande?
Auch hier führen Instant-Deutungen nicht weiter. Die öffentliche Verwendung reflexartiger Vokabeln wie „Ungewissheiten“, „Verunsicherungen“ und „Ängste“ der Menschen, und zwar angesichts „grundlegender Veränderungen“, erklärt nichts. Dieses Vokabular gibt keine Auskunft darüber, dass irgendetwas im Leben einer großen Minderheit in der Bevölkerung nicht gut gelaufen ist. Möglicherweise waren es überfordernde Erwartungen der „Gesellschaft“ an sie, sprich der Familie, der Schule, des Freundeskreises oder der Arbeitgeber. Vielleicht waren es auch überzogene Erwartungen an das eigene Leben und unrealistische Einschätzungen der eigenen Möglichkeiten. Dem „Unbehagen an der Moderne“ (Charles Taylor) wäre mit aller Sorgfalt nachzugehen. Oder, wenn wir über die unmittelbare Gegenwart reden: dem „Unbehagen an der ökologischen Transformation“.
Vermutlich liegen die Probleme woanders
Ebenso wenig zufriedenstellend ist das Erklärungsmuster, das mit der Unterscheidung „einfach / komplex“ arbeitet. Damit wird das mutmaßliche Missverhältnis zwischen dem Wunsch nach „einfachen politischen Lösungen“ und der Existenz „komplexer Realitäten“ zum Ausdruck gebracht. „Einfache Menschen“ oder „einfache Gemüter“ sollen angeblich nicht mit der Komplexität der Gesellschaft und ihrer politisch-parlamentarischen Praxis zurecht kommen. Dies erscheint wenig plausibel. Schließlich erfüllen die Menschen, die einfache Deutungen des Politischen verwenden, nicht selten erfolgreich die Anforderungen qualifizierter oder hochqualifizierter Berufe. Und sind sie in der Lage, über Jahre und Jahrzehnte unzumutbare Umstände im Arbeitsleben auszuhalten: zum Beispiel unerträgliche Vorgesetzte oder nicht funktionierende Technik am Arbeitsplatz. Vermutlich liegen die Probleme woanders. Das Interesse für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen und für eine demokratisch legitimierte Politik ist irgendwann erlahmt oder der Sinn dafür konnte sich nie entwickeln.
Was tun? An dieser Stelle nur eine Andeutung, was sofort getan werden könnte: die Verwendung einer besseren, sach- und praxisorientierten politischen Sprache. Es wäre hilfreich, wenn uns Politikerinnen und Politiker in politisch verantwortlichen Funktionen nicht mit ihren politischen Glaubenssätzen behelligen würden, wo praktische Problemlösungen gefragt sind. Und es würde helfen, wenn sie uns politische Metaphern wie „Dammbruch“, „Fünfvorzwölf“, „Amrandedesabgrundes“ usw. usf. ersparen würden. Wie wäre es, wenn sie ein Problem und seine Ursachen verständlich und genau benennen würden? Anscheinend scheuen aber viele Politikerinnen und Politiker davor zurück, für offenkundige Probleme klare Worte zu gebrauchen (oder, worst case, sie haben gar keine).
Es ist mein Eindruck, dass der Text von Klaus West so etwas wie eine Gegenrede zu den (auch empirischen) Analysen von Dirk Ziems sein soll. Ich verstehe jedoch den West-Beitrag eher als Bekräftigung der Thesen und Ergebnisse von Ziems. Ich kenne quantitative (nicht qualitative) Umfragen von seriösen Meinungsforschungsinstituten, die unverändert davon ausgehen: 40 Prozent der AfD-WählerInnen wählen diese Partei aus Gesinnung, etwa 60 Prozent eher aus Protest. Klar ist: Auch der oder die, die die AfD aus Protest wählen, sind vermutlich bedenkenlos, politisch ohne Moral und für die Demokratie eher eine Gefahr. Trotzdem: Diese Zahl muss sehr beachtet werden.
Deshalb ist der Rat von Ziems, der letztlich auch der von West ist, der einzig richtige: diese AfD-WählerInnen nicht denunzieren, sondern mit ihnen im Gespräch bleiben, am Ende bis “zum Erbrechen”.
Ziems im O-Ton: “Diese Haltung setzt viel Geduld und Beharrungsvermögen voraus, erscheint aber alternativlos. Die aktuell aufkommende Panik beim Umgang mit der AfD ist dagegen der falsche Ratgeber.”
Nun komme ich zu der eigentlichen Position von Klaus West, aus der ich recht deutlich eine recht überhebliche Position herauslese.
Meine Lesart von West: Wut, Unsicherheit, was soll das, wieso stellen die sich so an, das sind doch alles keine Beweggründe, um zur Protestwahl zu greifen, erst recht nicht, um AfD zu wählen.
Dazu folgendes: Ich denke schon, wir haben allmählich eine besondere Situation. Der Grund: Wir haben ZEITGLEICH mehrere Krisen, die sich wechselseitig verstärken und die zudem EXISTENTIELL sind. Das hatten wir, seit ich politisch denken kann, so noch nicht.
Ich rede von den sattsam bekannten alten Krisen (Finanzmarktkrise, übrigens nur am Rande erwähnt: immer noch ungelöst) plus Corona plus Geflüchtetenkrise plus Klimakatastrophe.
Das Besondere: Alle diese Krisen sind täglich greif- und sichtbar, also sehr nahe und nicht ferne. Der Flüchtling läuft neben mir in der Fussgängerzone, die Maske ist überall, die Impfspritze ist griffbereit, die Sonne brennt am kommenden Wochenende mit 35 oder40 Grad, die Rasenfläche ist braun, Laubbäume wurden wegen Trockenheit schon im vergangenen Jahr reihenweise gefällt.
Und auch die potentiellen Lösungen greifen direkt in den Alltag ein und sind für viele deshalb eine Bedrohung, weil sie ihre Normalität (eine heilige Angelegenheit) gefährden: Der Autofahrer stößt am neuen Morgen auf eine Fahrradstraße und soll im dichtbesiedelten Wohngebiet nur noch Tempo 30km/h fahren — was soll das denn? Wer fliegt, Fleisch isst, muss sich kritischen Fragen stellen. Man(n) soll auch noch anders reden ( “Liebe FrauInnen und Frauen….”).
Ich finde im Gegensatz zu Klaus West: da wäre es eher unnormal, wenn nicht wahlweise Wut und/oder Unsicherheit entstehen würde.
Und das Ganze “unter” einem Bundeskanzler, der von sich behauptet, er habe alles im Griff, wisse, wo es langgeht, und der zudem behauptet, er erkläre vor allem alles wunderbar, ein Bundeskanzler, der aber aufgrund seines Werdeganges nicht einmal ein Politiker ist, sondern bestenfalls ein politischer Beamter und der die Dimension der Herausforderungen, vor der er und wir stehen, viel weniger begriffen hat als viele seiner Mit-BürgerInnen, von denen er behauptet, er sorge doch so gut für sie. Wen, lieber Klaus West, soll ich wählen, um auszudrücken, dass meiner Meinung nach ziemlich viel schief geht?