(IV) Demokratische Parteien und ihre fatale Lage

Berlin Lustgarten, 1933 (wikimedia commons)

Politikverdrossenheit im allgemeinen und Parteienschelte im besonderen kennzeichnen das gesellschaftspolitische Klima demokratisch regierter Länder; mal mehr, mal weniger. Je nach aktuellen ökonomischen, sozialen und kulturellen Zuständen sind Verdruss und Vorwürfe stärker oder schwächer ausgeprägt, verschwunden sind sie nie. Zeitungsarchive legen beredtes Zeugnis davon ab. Warum findet braune Politik positive Resonanz, wenn sie verspricht, eine Partei zu sein, die keine Partei ist, die das Ganze verkörpert, statt Teilinteressen zu vertreten? Weshalb findet sie Gehör, wenn sie beansprucht, den Volkswillen zu repräsentieren, im Bestfall in Gestalt einer Führerfigur, die mit jedem Wort dem Volk aus der Seele spricht?

IV              Partei und Gemeinwohl

  Nur auf Basis der Entscheidungen privater Personen und Organisationen ist Zusammenleben nicht möglich. Es bedarf gemeinsam akzeptierter Regeln. Zwar bilden sich im Zusammenleben Strukturen heraus, die als Leitplanken des Verhaltens funktionieren, indem sie sich als stabile Erwartungen etablieren, so dass man weiß, man macht erst einmal nichts falsch, wenn man sich an diesen allgemeinen Erwartungen orientiert, also nicht damit rechnet, in der Konditorei Fischbrötchen zu bekommen. Aber darüber hinaus geht es nicht ohne einen – im weitesten Sinn staatlichen – Ordnungsrahmen mit kollektiv verbindlichen Geboten und Verboten, deren Nichtbeachtung auch sanktioniert werden kann. Wer ist befugt, solche kollektiv bindenden Entscheidungen zu treffen?

Das Basislager des Rechtsextremismus ist unser Alltag. Die Übergänge zwischen normalen Lebenswelten und rechtspopulistischen bis -extremistischen Sicht- und Verhaltensweisen sind fließend, die „Brandmauer“ ist künstlich (und deshalb umso wichtiger). In einer Bruchstuecke-Serie mit den fünf Teilen „Selbstverantwortung“, „Soziale Unterschiede“, „Meinungsfreiheit“, „Partei und Gemeinwohl“, „Krisen und die Überforderung der Politik“ wird für diese These argumentiert.

Solange die Vorstellung herrscht, dass es überirdische Mächte sind, die hier mit Hilfe irdischer Stellvertreter schalten und walten, gelten Recht und Gesetz als weitgehend unanfechtbar. Nur Ketzer, die den Scheiterhaufen oder andere Wege des vorzeitigen gewaltsamen Ablebens riskieren, wagen es, Änderungen zu verlangen. Die französische Revolution gilt als der Wendepunkt, von dem an sich staatliche Herrschaft in Regierungspolitik zu verwandeln beginnt mit dem Output „kollektiv verbindliche Entscheidung“. Recht und Gesetz gehen jetzt auf politische Entscheidungen zurück und können deshalb nicht verbergen, dass an ihrer Stelle auch ganz andere Ge- und Verbote gelten könnten.

„Alle“ bekamen den Namen „Volk“

Kommen die kollektiv bindenden Entscheidungen nicht von einer überirdischen Instanz, verschärft sich die Frage, welchen Menschen das Recht und die Macht zugebilligt werden soll, sie zu treffen. Soll dabei niemand bevorzugt werden, soll gelten, dass im Grundsatz alle gleich sind, lautet die Lösung: Alle zusammen nehmen an dem Entscheidungsprozess teil, alle zusammen entscheiden. „Alle“ haben den Namen „Volk“ bekommen, das gemeinsame Entscheiden aller „Volksherrschaft“.

Historisch haben sich aus praktischen Gründen, länderspezifisch modifiziert, Formen einer repräsentativen Demokratie herausgebildet: Alle Wahlberechtigten wählen die Personen aus, die befugt sein sollen, Gesetze zu erlassen und durchzusetzen sowie eine Regierung zu bilden, die die Staatsgeschäfte führt. Ebenfalls aus praktischen Gründen formieren sich in der Konkurrenz um Staatsämter politische Parteien, die sich ein programmatisches Profil zu geben versuchen, indem sie Themen fokussieren, Positionen formulieren und Interessen artikulieren, die darauf hinweisen sollen, wie künftige kollektiv bindende Entscheidungen aussehen könnten, falls die Partei Wahlen gewinnt und Regierungsmacht übernimmt.

Wie können diejenigen, die gewählt werden wollen, begründen, dass gerade sie die besten Gesetze machen werden? Indem sie versprechen, dass ihre kollektiv bindenden Entscheidungen dem Wohle aller dienen werden. In der öffentlichen Arena konkurrieren parteiliche Definitionen des Allgemeinwohls miteinander. Das gemeinsame Beste existiert nur als Streitthema – ein Zustand, der nicht so leicht auszuhalten ist, wie sich sofort nachvollziehen lässt, überträgt man ihn auf kleinere soziale Einheiten wie Familien, Vereine, Bürgerinitiativen, die sich bei keinem Thema einigen können, was sie gemeinsam wollen sollen. Es ist damit zu rechnen, dass sich Mitglieder verdrossen abwenden. Dass das Gemeinwohl chamäleonartig sein Aussehen wechselt, dass es kein greifbares, definierbares Ziel ist, das sich als Maßstab einsetzen lässt, um zu bestimmen, wie nahe ihm eine Partei kommt, ist eine Nebenwirkung der Demokratie, mit der auch noch im 21. Jahrhundert schwer zurecht zu kommen ist.

Screenshot: Pexels

Durchaus vergleichbar mit dem widersprüchlichen Stellenwert der freien Meinung – im Entscheidungsfall als Wahrheitsersatz dienen zu müssen, aber den Aushilfscharakter nicht verbergen zu können – befindet sich auch jede Partei im Zwiespalt. Denn einerseits ist sie eben nur eine Partei, die (wie schon der Name sagt pars, lateinisch „Teil“) nur Teilaspekte im Blick haben, keine übergeordnete 360-Grad-Perspektive einnehmen kann, andererseits soll sie aber für das Wohl aller stehen. Ihre herausgehobene Funktion müssen politische Parteien deshalb einnehmen, weil modernes Regieren keinen übergeordneten Halt hat, kein „roma locuta causa finita“ kennt, sondern sich zu seinen Entscheidungen nur im Widerstreit durchringen kann – zu Entscheidungen, die im Prinzip und oft durchaus auch praktisch schon wieder zur Disposition stehen, kaum dass sie beschlossen wurden, wie die Opposition selten vergisst zu betonen. Der Horizont anderer Möglichkeiten bleibt in der Demokratie stets offen.

Ein breites Einfallstor des Rechtspopulismus

Der schlechte Ruf, den politische Parteien haben, hat viel mit dieser inneren Widersprüchlichkeit ihrer Funktion zu tun, der sie in eine fatale Lage bringt: Als Regierungspartei soll sie für den Willen des Volkes stehen und kann doch nur eine bestimmte Sichtweise einnehmen und partikulare Interessen bedienen; vermisst wird die Partei, die die Gesellschaft als Ganzes vertritt . Diese Enttäuschung löst ein Unbehagen aus, das weit über rechtspopulistische Empörung hinaus tief in die Gesellschaft hinein reicht, die mit den Unsicherheiten, Unübersichtlichkeiten und Ungewissheiten umzugehen versuchen muss und ein richtungweisendes Zentrum vermisst. Frankreich, bekannt für seine Protestkultur, wünscht sich im Herbst 2023, wenn man den Demoskopen glauben darf, „einen echten Chef zur Wiederherstellung der Ordnung“. 82 Prozent der repräsentativ Befragten hätten gerne eine autoritäre Führung, die sagt, also weiß, wo es lang geht.

Das Dilemma demokratischer Politik, in Regierungsverantwortung für das Allgemeinwohl zuständig zu sein, aber immer nur behaupten zu können, dass ihre Entscheidungen dieser Verantwortung gerecht werden und dabei dem Widerspruch und der Kritik jeder anderen Partei, ja jeder Bürgerin und jedes Bürgers ausgesetzt zu sein, ist ein besonders breites Einfallstor des Rechtspopulismus. Er nützt die Möglichkeit, die Demokraten nicht haben, weil sie Demokraten sind: Für sich umstandslos, mit aller Entschiedenheit, ohne Rücksicht auf irgendeine andere Position und notfalls jenseits von Fakten in Anspruch zu nehmen, den Königsweg zum Gemeinwohl zu kennen und somit den Willen des Volkes zu repräsentieren. Dieser Alleinvertretungsanspruch, der sich mit dem exklusiven Besitz der Wahrheit schmückt, übt in unsicheren Zeiten einen Reiz aus. Er kann für Orientierung Suchende wie eine Befreiung wirken. Hier übernimmt jemand die uneingeschränkte Verantwortung für alle und alles – und wenn es in einer Katastrophe endet, sind wir es nicht gewesen.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

1 Kommentar

  1. Ein guter Artikel, der von einem gewissen argumentativen Idealismus geprägt wird. Indes (provokativ): Was tun, wenn das Lemmata „demokratische Partei“ sich dem näheren Blick auflöst (egal ob S…, C… oder Gr…) in ein parteiisch, aber nicht am Gemeinwohl orientiert agierendes, größeren Teils von fachfremden, inkompetenten und ihren jeweiligen gelegentlich sogar halbseidenen Partialinteressen (Stichwort Lobbyismus, Cum-ex, etc.) getriebenes Häufchen von Lautsprechern, Egomanen oder schlicht Wirtschaftshörigen auflöst? Interessant ist, dass im Zusammenhang mit Demokratie immer sogleich auch von Parteien die Rede ist, so, als ob es denn gar keine anderen, vielleicht auch neu zu denkenden Formen parlamentarischer Selbstbestimmung geben könnte als eben dieses Konstrukt. Vielleicht utopisch – aber es könnte ja auch sein, dass gesellschaftliche Selbstverwaltung langsam zu einem Modell jenseits der jetzigen Parteienstruktur, die sich ja als fatal anfällig zeigt für die im Artikel genannten Tendenzen, sich weiterentwickeln muss. Nicht von ungefähr, so könnte man sagen, sind nicht zuletzt die von Parteiensystemen getragenen ‚Demokratien‘ auch jene, die uns auch die schlimmsten Kriege der letzten Jahre bescherten (im Namen der „Freiheit“ und „Demokratie“), die die größten Widerstände gegen anstehende Reformen der gesellschaftlichen Wirtschaftsstrukturen aufrecht erhalten und die erstaunlich resistent sind gegen komplexere, dezentrale, macht“verteilende“ anstatt „zentrierende“ Formen der Organisation – aber erheblich anfällig für autokratische, personen(kult)zentrierte, rechtspopulistische, nationalistische Ideologien und korrupte Praktiken (so jetzt wieder unser Verteidigungsminister, der, wie schon so oft gehört in der Geschichte!, die Deutschen wieder „kriegsfähig“ machen will). Es könnte sein, dass das überalterte Konstrukt „Partei“ gerade die offenen Horizonte verschließt und jenen ‚Bewegungen‘ ein Einfallstor bietet, die nicht nur diese dann, sondern auch das Parlament und schließlich die Gesellschaft usurpieren könnten.

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