(III) Demokratische Politik – offen für jede Stimme und jede Stimmung

Berlin Lustgarten, 1933 (wikimedia commons)

Drei Merkmale gelten gemeinhin für eine Demokratie als konstitutiv, nämlich Bürgerrechte wie Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit, aktives und passives Wahlrecht bei fairen Wettbewerbsbedingungen der Parteien sowie Rechtsstaatlichkeit mit unabhängigen Gerichten, vor denen alle gleich sind. Dort, wo sie die Macht dazu hat, hat braune Politik diese demokratischen Merkmale stets abgeschafft. Solange sie in der Opposition agiert, parlamentarisch und außerparlamentarisch, greift braune Politik real existierende Demokratien an, sie würden diese drei Merkmale nicht erfüllen, würden die Meinungsfreiheit einschränken, Wahlbetrug betreiben und politische motivierte Gerichtsurteile nicht nur zulassen, sondern forcieren. Die freie Meinung gerät in der Demokratie in eine Doppelrolle als Aschenputtel und Prinzessin – was der Rechtsextremismus für sein Ziel ausnützt, sie zu beseitigen, bei Bedarf auch mit Gewalt.

III               Meinungsfreiheit

Ohne Zweifel haben sich in vielen Ländern für die meisten Menschen die Gelegenheiten stark vermehrt, zwischen Alternativen wählen zu können (und zu müssen). Welche Entscheidungen treffen die Personen? Ihrer Meinung nach die richtigen! Offenbar existiert ein Zusammenhang zwischen Entscheidungsfreiheit und Meinungsfreiheit. Ohne die Möglichkeit, sich über die wählbaren Alternativen eine Meinung zu bilden, sich zu informieren, was für und was gegen die verschiedenen Alternativen spricht, würde die Entscheidung zur Farce.

Aber es ist eben nur eine Meinung, ein „unzureichendes Fürwahrhalten“ (Kant). Historisch hat es die Meinung nie über diesen Status hinaus gebracht, nur die kleine dumme Schwester des sicheren Wissens um die Wahrheit zu sein. Dieser schlechte Ruf haftet ihr nach wie vor an. Gleichwohl ist sie zur letzten Entscheidungsinstanz aufgestiegen.

Der grundlegende Zusammenhang zwischen Entscheidung und Meinung beruht auf dem Abschied von absoluten Wahrheiten. Dieser Abschied wird an der Rolle der Wissenschaft in einer demokratischen Öffentlichkeit besonders deutlich. Sobald sie sich in die Öffentlichkeit wagt, verwandeln sich die „wahren Erkenntnisse“ der Wissenschaft in Meinungen unter anderen. Das war bei der Corona-Pandemie drastisch zu erleben und beim Thema Klimawandel ist es auch nicht zu überhören.

Das Basislager des Rechtsextremismus ist unser Alltag. Die Übergänge zwischen normalen Lebenswelten und rechtspopulistischen bis -extremistischen Sicht- und Verhaltensweisen sind fließend, die „Brandmauer“ ist künstlich (und deshalb umso wichtiger). In der Bruchstuecke-Serie mit den fünf Teilen „Selbstverantwortung“, „Soziale Unterschiede“, „Meinungsfreiheit“, „Partei und Gemeinwohl“, „Krisen und die Überforderung der Politik“ wird für diese These argumentiert.

Ein Thema, viele Meinungen

Die Freiheit, die mit der Möglichkeit zu entscheiden gewonnen wird, wird mit Ungewissheit „bezahlt“. Wer entscheidet, weiß nicht, was richtig ist, sonst wäre keine Entscheidung notwendig, man könnte ohne weiteres Kopfzerbrechen das Richtige tun. Doch es steht kein wahres Wissen, sondern nur eine Meinung darüber zur Verfügung, welche Option die bessere sein könnte. Das Risiko, enttäuscht zu werden, lässt sich nicht abschütteln. Das ist ihr modernes Schicksal: Die Meinung soll als Ersatz für Gewissheiten und Wahrheiten dasselbe leisten wie diese und kann doch nur Risiken und Wahrscheinlichkeiten bieten.

Es ist zu viel verlangt, sich im Nebeneinander von (richtiger und falscher) Meinung, Information, Wissen, Fakten, fake news, Lüge, Wahrheit zurechtzufinden. Für unseren Zusammenhang kann genügen: Eine Meinung ist eine Meinung über etwas. Dieses Etwas existiert somit mindestens als Thema der Kommunikation. Themen, zu denen Personen ihre Meinung äußern oder zu denen sogar Meinungsumfragen stattfinden, zu denen es vielleicht sogar eine „öffentliche Meinung“ gibt, sind die Promis unter den Themen. Sie sind bekannt, sie scheinen wichtig zu sein. Meinungsfreiheit vorausgesetzt, ist davon auszugehen, dass sich zu allen bekannten Themen unterschiedliche Meinungen artikulieren. Das heißt, es herrscht Unsicherheit, man weiß erst einmal nicht, worauf man sich verlassen kann und soll. Vertrauen, bekanntlich eine riskante Vorleistung, avanciert deshalb zu einer Schlüsselkategorie. Das Unbehagen darüber, zu kaum einem Thema über sicheres Wissen zu verfügen, es fast nur mit sich widersprechenden Ansichten zu tun zu haben, ist im Alltag weit verbreitet. So wenig auf die freie Meinung, ein geschätztes Gut, verzichtet werden soll, so sehr werden andererseits ihre desorientierenden Folgen beklagt, Missbrauch und Manipulation vermutet.

Eine andere Möglichkeit (neben Vertrauen schenken), um der Unsicherheit entgegenzuwirken und scheinbare Gewissheiten zu schaffen, besteht darin, die Trennung von Thema und Meinung aufzuheben, also das Thema strikt an eine bestimmte Meinung zu koppeln. Wer Berlin sagt, sagt damit zugleich „tolle Stadt“, jede andere Meinung über Berlin gilt als falsch, gehört verboten. Diese Methode favorisiert der Rechtspopulismus. Er bestärkt die negativen Erfahrungen mit der Meinungsfreiheit und ist zugleich ein großer Verfechter seiner Meinungsfreiheit; allerdings nicht, um den Meinungsaustausch zu beleben und auf mögliche Alternativen aufmerksam zu machen, sondern um den Lügen der anderen die Wahrheit entgegen zu schleudern. Er versteht seine Ansichten nicht als Meinungen unter anderen, sondern als die Wahrheit, die weit über dem Meinungsstreit der anderen steht. Die Themen, die der Rechtspopulismus stark zu machen versucht, fesselt er gleichsam an die Auffassung, die er dazu vertritt. Jede Abweichung davon wertet er als Verrat an der Wahrheit ab. Diese Unabdingbarkeit schlägt auch in die eigenen Reihen durch, braune Politik kann andere Meinungen auch in der internen Kommunikation noch viel schwerer als andere Parteien aushalten, wie häufige Zerwürfnisse und, im Fall der AfD, Parteiaustritte zeigen.

Bild: CDD20 auf Pixabay

Strategisch, nicht verständigungsorientiert

Über die Unsicherheit hinaus, die aus dem Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Meinungen zum selben Thema resultiert, ist mit der Meinungsfreiheit ein weiteres Problem verbunden. Meinungsunterschiede behindern oder verhindern sogar gemeinsames Handeln. Immer wenn Kooperation gefragt und kollektives Handeln angesagt ist, also bei jeder Form der Zusammenarbeit, entsteht Einigungsbedarf. Die gewöhnliche pragmatische Lösung erspart sich den Einigungsprozess, weicht einfach auf Hierarchie aus, funktioniert mit Über- und Unterordnung. Soll auf Gleichberechtigung nicht verzichtet werden, sollen demokratische Praktiken der Willensbildung und Entscheidungsfindung gelten, müssen sie aber über den Austausch von Meinungen und über Einigungen laufen. Gespeist werden diese Praktiken von der Idee, dass sich im freien Meinungsaustausch eine gemeinsame Auffassung herausbildet, die informierter und aufgeklärter ist als die Einzelmeinungen.

Das Ideal des „rational motivierten Einverständnisses“ (Jürgen Habermas), dem eine sachliche Debatte vorausging, in der alle zu Wort kamen, die etwas dazu sagen wollten, ist von den Erfahrungen mit realen politischen Entscheidungsprozessen zu weit entfernt, als dass es sich nicht permanent blamieren würde. Statt verständigungsorientiert wird in der Regel auch von demokratischen Parteien/Politikern strategisch kommuniziert, also mit gewaltfreien, (gerade noch) vertretbaren Mitteln versucht, die eigene Meinung zur Geltung zu bringen. Diese so entstehenden Lücken zwischen demokratischem Anspruch und vorgefundener Praxis wirken wie Aufputschmittel für den Rechtspopulismus, solange er Oppositionsbewegung bzw. -partei ist. Sie dienen ihm als kommunikative Waffe für seine Angriffe auf das „bestehende System“, etwa mit dem Appell, es sei an der Zeit, dass sich „die schweigende große Mehrheit dieses Landes“ die Demokratie wieder zurückholt.

Der widersprüchliche Stellenwert der Meinung, einerseits möglicherweise nur auf minderwertigem Wissen zu beruhen, andererseits als letzte Berufungsinstanz von Entscheidungen zu dienen, macht sich in der Politik in besonderer Weise bemerkbar. Meinungsbildung bedarf der Informationen. Ob und wie sie sich informieren, wie viel Aufwand sie betreiben, um zu ihrer Meinung zu gelangen, bleibt in der Politik den Einzelnen überlassen. Auf welchem Informationslevel beispielsweise jemand seine Stimme bei nationalen und kommunalen Wahlen abgibt, macht keinen Unterschied für die Gültigkeit der Stimme. Ob jemand Gutachten liest und ausführlich recherchiert, einer momentanen Stimmung nachgibt oder sich von einem Gefühl leiten lässt – worauf die Meinung gründet, die ausgedrückt wird, spielt keine Rolle. Das gilt ganz offenkundig für das politische Publikum, aber es trifft auch auf parlamentarische Entscheidungen zu, selbst wenn die Exekutive hochqualifiziert vorgearbeitet hat.

Das Publikum soll hören, um zu gehorchen

Auf anderen gesellschaftlichen Feldern ist das anders. Dort herrschen Wissensstandards, die auch mit Berufung auf die freie Meinung nicht unterschritten werden dürfen. Bildungs- und Arbeitsprozesse verlassen sich nicht auf bloßes Meinen, sondern setzen Maßstäbe, die freilich ihrerseits auf revidierbaren Entscheidungen fußen, aber temporäre Gültigkeit besitzen. Ohne Qualifikationsprozesse, die in die Lage versetzen, solchen Maßstäben gerecht zu werden, ist eine Beteiligung in der Regel ausgeschlossen. Bei den Beteiligten wiederum bleibt durchaus intransparent, was für ihre Entscheidungen den Ausschlag gibt. Die vorgetragenen Argumente und die ausschlaggebenden Motive brauchen sich nicht zu decken, aber es kann eben nicht Jeder und Jede voraussetzungslos mitreden.

Die Offenheit demokratischer Politik für jede Stimme und jede Stimmung im Namen der Meinungsfreiheit senkt die Standards politischer Auseinandersetzungen. Politik als „schmutziges Geschäft“, als „Quasselbude“ etc. begegnet uns als Sichtweise und Einstellung in der Alltagsroutine sehr häufig. Rechtspopulismus und -extremismus nehmen es auf und nützen diese schlechte Meinung über Politik aus, um bestehende demokratische Verhältnisse abzuwerten. Es ist auch in diesem Kontext wichtig, zwischen rechtspopulistischer bzw. -extremistischer Politik in der Opposition und an der Macht zu unterscheiden. In der Opposition verspricht braune Politik „aufzuräumen“, wahre Demokratie an die Stelle des herrschenden Meinungschaos zu setzen. An der Macht setzt sie ihren Anspruch durch, mit ihren Entscheidungen in jedem Fall das Wahre und Richtige zu repräsentieren. Andere Meinungen können nur in die Irre führen, schädlich sein, sie werden bedroht und zum Schweigen gebracht, allen voran die „Lügenpresse“. Das Publikum soll hören, um zu gehorchen, nicht um sich eine eigene Meinung zu bilden. Deshalb hat braune Politik immer ein positives Verhältnis zur Gewalt, ohne Scheu zum Politgangster zu mutieren, hat sie doch das hehre Ziel, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, woran sie von niemandem gehindert werden darf.

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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