(II) Das Me-first-Klima als braune Anschlussstelle

Berlin Lustgarten, 1933 (wikimedia commons)

Auf der Suche nach strukturellen Hintergründen rechtspopulistischer und -extremistischer Erfolge in entwickelten, demokratisch-rechtsstaatlichen Ländern zeigt sich, dass unsere normale Lebensweise mehr Anschlussstellen für braune Politik aufweist, als es die öffentlich ausgetragenen lautstarken Differenzen und scharfen Kontroversen vermuten lassen. Historisch ist braune Politik seit dem 19. Jahrhundert nie verschwunden, aber ihre Sichtbarkeit und ihre Machtchancen haben Konjunkturen, das 21. Jahrhundert hat ihr bisher großen Aufschwung gebracht. Das hängt mit krisenhaften Entwicklungen zusammen, die Thema der Teile vier und fünf sind. Die Teile zwei und drei behandeln noch sehr allgemeine strukturelle Zusammenhänge.

II              Soziale Unterschiede

Unter den zahlreichen Namen, welche die heutige Gesellschaft schon bekommen hat von A wie Arbeitsgesellschaft über E wie Erlebnisgesellschaft bis R wie Risikogesellschaft, ist Multioptionsgesellschaft der sperrigste, aber nicht der schlechteste. Für Karl Marx hat sich im 19. Jahrhundert der Reichtum der Moderne als eine „ungeheure Warensammlung“ dargestellt. Obwohl sich die Waren seither vervielfacht haben, dürfte es inzwischen wichtiger sein, der ungeheuren Fülle der gesellschaftlichen Möglichkeiten des Handelns und Erlebens Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht einmal die reichsten Personen können diese Fülle ausschöpfen, weil die kulturellen, massenmedialen, medizinischen, sportlichen, touristischen, kulinarischen, modischen, sexuellen, religiösen Optionen nur zu Nanoteilen in ein Menschenleben passen.

Neben dieser Differenz zwischen den gesellschaftlich verfügbaren und individuell realisierbaren Möglichkeiten existiert eine zweite, nämlich die Differenz innerhalb der individuell (bzw. organisational) ergreifbaren Optionen; sie markiert soziale Unterschiede. Einschub: Obwohl gerade die Unterschiede zwischen Großkonzernen und Kleinbetrieben dramatisch sind, wird die Organisationsebene hier nicht behandelt.| Die unüberbrückbare Kluft zwischen Abgehängten in prekären Lebensverhältnissen und Gut- bis Bestsituierten mit luxuriösem Lebensstil auf persönliche Lebensleistungen zurückzuführen – hier die Fleißigen, Talentierten und Weitsichtigen, die über immense Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, dort die Faulen, Dummen und Sorglosen, die planlos in den Tag hinein leben –, geschieht öffentlich und offensiv eher selten; unter dem Motto „das wird man ja noch sagen dürfen“ und „irgendwas ist da doch dran“, ist es heute jedoch wieder öfter zu hören und zu lesen. Ausgesprochen und unausgesprochen speist diese Einstellung den herrschenden meritokratischen Grundgedanken und geistert in zig Millionen Köpfen.

Großzügigkeit, Zurückstehen können gehen verloren

Geweckt und gefördert wird darüber hinaus eine ichbezogene Anspruchshaltung. Das soziale Klima der Selbstverantwortung fördert das Lebensgefühl, keinen Halt zu haben, auf sich alleine gestellt zu sein; und schiebt präsente familiäre Sorge, nachbarschaftliche Hilfe, umfangreiche wohlfahrtliche und sozialstaatliche Unterstützung als bestenfalls zweitrangig zur Seite. Zu den Folgen dieser Anspruchshaltung gehört: die Bereitschaft, verantwortungs- und rücksichtslos zu denken und zu handeln.

Wird den Einzelnen als wichtigste Aufgabe Selbstverantwortung auferlegt, kommt es der Einladung gleich, Verantwortung nur, jedenfalls zuerst und vor allem, für sich selbst zu übernehmen, alles andere und alle anderen sind nachrangig, wenn nicht gleichgültig, globale Chancen- und Generationengerechtigkeit abwegig. Ein hieb- und stichfesteres Alibi für die Geringschätzung gemeinsamer Angelegenheiten ist nicht zu bekommen. Wird den Einzelnen als wichtigste Aufgabe Selbstverantwortung auferlegt, sagt man allen, sie sollen selbst schauen, wo sie bleiben. Auf die Ellenbogen kommt es an. Wenn ich schon auf mich verwiesen bin, dann will ich mich auch zur Geltung bringen, dann will ich bekommen, was mir zusteht. Jede Großzügigkeit, jedes Zurückstehen können, geht verloren. Kleinigkeiten etwa im Straßenverkehr oder im Supermarkt drohen beim ersten Anschein einer Übervorteilung mindestens in gegenseitige Beschimpfungen auszuarten. Wird in diesem sozialen Klima anderen, Fremden, Migranten, geholfen, während man sich selbst benachteiligt und vergessen fühlt, ist mit Eskalationen zu rechnen.

Sarunas Gimbutis – “Selfish Giant” 2014 in Merrion Square, Dublin (Foto: Illustratedjc auf wikimedia commons)

Der wichtige Punkt: In diesem Klima, das so viel Missgunst und Missachtung freisetzt, das die Gesellschaft durchzieht und in allen Schichten Spuren hinterlässt, fühlt sich kaum jemand wirklich wohl. Die allermeisten beschweren sich über die tagtäglich erlebten Verhaltensweisen, sofern es die der anderen, nicht die eigenen sind. Das ist wie mit dem Wörtchen „nein“. „’Nein‘ ist ein Wort mit zwei Köpfen. Wenn es ein anderer sagt, tut es weh. Wenn man es selber sagen darf, macht es stark.“ (Charles Lewinksky, Der Stotterer, S. 203)

Es ist dieses Me-first-Klima – in dem man sich behaupten muss und für das man sich gegenseitig geringschätzt –, in dem sich der Rechtsextremismus auf seinen politischen Weg macht. Rechtspopulismus und -extremismus sind kein Ausdruck persönlicher Borniertheiten (führen allerdings in sie hinein), sondern zuerst eine verzweifelte, aber auch strategisch begabte Antwort auf gesellschaftliche Irrationalitäten; eine Antwort allerdings auch, die ihr Heil in der einfachst möglichen Form von Politik sucht, im Freund-Feind-Denken. Insoweit trifft die Beobachtung zu, dass der Rechtsextremismus ein großer Vereinfacher ist.

Aber wie er beide Seiten des Me-first-Klimas bedient, die Selbstbezogenheit ebenso wie die Kritik daran, ist nicht ohne Raffinesse. Den Feinden gegenüber ist jeder Eigennutz gerechtfertigt und gut, bis hin zu deren Vernichtung. Innerhalb des eigenen Lagers, der Volksgemeinschaft, wird an Solidarität bis hin zu Opferbereitschaft appelliert. Selbstbehauptung und Gemeinsinn werden parallel aufgerufen.

Feinde müssen um ihr Leben fürchten

Freund-Feind-Denken und -Handeln schreibt das Grundmuster fort, nicht nach gesellschaftlichen Voraussetzungen und Verhältnissen zu fragen, sondern schuldige Akteure für Missstände, Fehlentwicklungen, Krisen dingfest zu machen – Feinde eben. Je radikaler sich braune Politik entfalten kann, ohne dass ihr der Rechtsstaat auch unter Anwendung des Gewaltmonopols (solange er es noch hat) entgegentritt, desto mehr müssen die zu Feinden Erklärten um ihr Leben fürchten. Die Waffenlager, die immer wieder entdeckt werden, sind Indiz dafür, dass Rechtsradikale grundsätzlich davon ausgehen, gewalttätig werden zu müssen. Trotz aller historischen Erfahrungen mag man in der jeweiligen Gegenwart (solange sich der Rechtspopulismus noch in demokratische Prozeduren einfügen muss, sich zum Beispiel blau einfärbt wie die AfD) braune barbarische Exzesse nicht für wahrscheinlich halten; leichter fällt es, daran zu glauben, nicht mit Gewalt rechnen zu müssen oder sie zumindest in den Griff zu bekommen.

Leicht fällt es im Alltag auch, sich auf einen binären Code zurückzuziehen, Wirklichkeit auf einen einzigen, alles erklärenden Unterschied wie Freund-Feind schrumpfen zu lassen. Das ist keine exklusive rechtspopulistische Spezialität, der Vulgärmarxismus beispielsweise macht es auch, wenn er seine Wirklichkeit in Arbeiterklasse und Kapitalisten aufteilt. Es wäre Selbstbetrug zu leugnen, dass es etwas Verführerisches hat, sich auf die Bequemlichkeiten von Bipolaritäten einzulassen. Jeder eskalierende Konflikt, ob im Privaten, Beruflichen oder Politischen, hat die Tendenz, nur noch zwei Lager zu kennen. Auch in dieser Hinsicht sind die Wurzeln von Rechtspopulismus und -extremismus nichts Ungewöhnliches, sondern finden sich im Normalverhalten wieder.

Das Basislager des Rechtsextremismus ist unser Alltag. Die Übergänge zwischen normalen Lebenswelten und rechtspopulistischen bis -extremistischen Sicht- und Verhaltensweisen sind fließend, die „Brandmauer“ ist künstlich (und deshalb umso wichtiger). In der Bruchstuecke-Serie mit den fünf Teilen „Selbstverantwortung“, „Soziale Unterschiede“, „Meinungsfreiheit“, „Partei und Gemeinwohl“, „Krisen und die Überforderung der Politik“ wird für diese These argumentiert.

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

2 Kommentare

  1. Kluger analytischer Text, lieber Hans-Jürgen. Wobei anzufügen wäre, dass die Ich-zuerst-Haltung auch und gerade bei linksliberal Bürgerlichen zu finden ist, bei traditionell konservativ Bügerlichen eher weniger. Und in gruppenbezogener Form sehr stark auch bei Links-Identitären: “meine jew. Minderheit hat Vorrechte.” Polarisierendes Böse-Gut-Denken wiederum stark bei sog. – meist weißen – Postkolonialisten und Antirassisten: Die Erbbösen sind dann weiße (alte) Männer, POC (unter die sie sich merkwürdigerweise subsumieren) pauschal die ewig Guten. Ganz aktuell werden von diesen Leuten auch Juden/Israelis zu den angeblich privilegierten “Weißen” und “Kolonialisten” gerechnet, obwohl es kein Volk gibt, dass seit Anbeginn so sehr unterdrückt, verfolgt und vernichtet wurde. Und keines, das so divers ist: ein erheblicher Teil der heutigen Juden und Israelis stammt aus dem sog. Globalen Süden, wurde oft von dort vertrieben.

    Hier treffen sich dann vermeintlich Linke wieder, wie auch an anderen Stellen, mit “Braunen”.

    Ob links/rechts heute überhaupt noch zutreffende Kategorien sind, will ich hier nicht vertiefen.

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