(V) Beste Bedingungen für rechtsextreme Erfolge

Berlin Lustgarten, 1933 (wikimedia commons)

Wo die Lebenslage übersichtlich und leicht zu erkennen ist, was wie miteinander zusammenhängt, braucht sich niemand eigenartige Vorstellungen zu machen und absonderliche Deutungen zusammenzureimen. Dass die Fahrscheinautomaten des öffentlichen Nahverkehrs von fremden Mächten gesteuert werden, ist keine Idee, die mit einer größeren Glaubensgemeinschaft rechnen darf; dafür ist deren Technik zu leicht zu durchschauen. Verschwörungsfantasien, irrationale Erzählungen, Mythenbildungen werden nachgefragt, wenn die Verhältnisse verworren-bedrohlich erscheinen und sonstige angebotene Erklärungen nicht überzeugen können. Dann wächst die Versuchung, hinter allem Drahtzieher zu vermuten, das schwer Durchschaubare als eindeutiges Geschehen darzustellen („Deutschland ist der Zahlmeister Europas“), das Gefährliche zweifelsfrei zu erkennen und zu benennen („die Migranten sind unser Unglück“). Krisen sind der klassische Fall.

V  Krisen und die Überforderung der Politik

Dass Menschen mit ihren Entscheidungen die Zukunft bestimmen, die zukünftige Gegenwart gestalten, ist eine Vorstellung, die sich erst in der Neuzeit langsam durchsetzt, heute jedoch ganz selbstverständlich ist. Wir sprechen inzwischen vom Anthropozän und meinen damit, dass die Menschen mit ihren Entscheidungen und Handlungen diesen Planeten zugerichtet haben.

Die hohe Relevanz, die den Entscheidungen zugeschrieben wird, verleiht der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Einzelentscheidungen der Individuen (sowie der Organisationen) einerseits und andererseits den kollektiv bindenden Entscheidungen der Regierungspolitik Brisanz. Wir treffen hier auf eine der großen Konfliktlinien der Moderne: Mehr Markt oder mehr Staat. Entwickelt sich – nach dem Motto, denkt jeder an sich, ist an alle gedacht – eine für alle bessere Gesellschaft, wenn die Zuständigkeit für möglichst viele Entscheidungen bei den Einzelnen verbleibt, denn nur sie wissen letztlich, was gut für sie ist? Oder ist es in the long run für alle besser, wenn die jeweiligen Regierungen relativ präzise Vorgaben machen, in welchem Rahmen die Einzelentscheidungen sich zu bewegen haben, weil sonst immer einige Sieger vielen Verlierer gegenüber stehen?

In den ökonomisch starken Ländern im Nordwesten des Planeten ist ein Muster erkennbar. Solange die gesellschaftlichen Leistungsfelder im Wesentlichen zu funktionieren scheinen, dominiert der Ruf, die Politik möge den Dingen ihren Lauf lassen, staatliche Interventionen würden nur schaden. Zeigen sich in einem Leistungsfeld Krisenphänomene, etwa Massenarbeitslosigkeit in der Wirtschaft, Zusammenbruch der Geldgeschäfte im Finanzsystem, große Defizite im Bildungssystem oder bei der Wohnungsversorgung, Überlastung des Gesundheitssystems oder gar Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen, richten sich die meisten Augen auf die Regierung, sie möge eingreifen und die Dinge wieder in die richtigen Bahnen lenken.

Unvermeidlicher Vorwurf des Versagens

Bild: BedexpStock auf Pixabay

Zum einen fällt die Paradoxie auf: Auf der einen Seite ist die Bereitschaft ungebrochen, die Probleme der Einzelnen zu ihrer eigenen Angelegenheit zu erklären, Selbstverantwortung groß zu schreiben. Auf der anderen Seite nehmen allgemeine Krisenphänomene von Umweltzerstörung über Pandemie bis Krieg drastisch zu, die auf die Lebensbedingungen katastrophal durchschlagen und denen die Einzelnen ohne individuelle Abwehrmöglichkeiten ausgeliefert sind: Die Menschen erleben sich als hilflos und als verantwortlich gemacht. Wenn das nicht resignativ oder wütend macht, was dann? Zumal sich das Schauspiel einer Politik bietet, die mit Medientross anreist, ihr Bedauern ausspricht, Versprechungen macht und wieder abreist, während der Journalismus tränenerstickte O-Töne einsammelt.

Zum anderen sind Krisen die großen Herausforderungen und immer auch Überforderungen der Politik, des kollektiv verbindlichen Entscheidens. Die amtierende Regierung sieht sich mit der Erwartung konfrontiert, in den Griff zu bekommen, am besten auch noch schnell, was einem Leistungsfeld wie dem Wirtschafts-, Finanz- oder Bildungssystem mit seinen vielen Experten entglitten ist. Plötzlich werden die Erwartungen an die Politik, der vorher wenig und wenn, dann eher Negatives, zugetraut wurde, riesengroß. Das wird gelegentlich zur Chance für einen Regierungschef, aber in erster Linie werden Krisen aufgrund des hohen Erwartungsdrucks zugleich zur Stunde des oppositionellen Vorwurfs des Versagens an die Regierenden. „Mit Politik habe ich nicht viel am Hut, sagte Gähwiler, solange alles gut funktioniere, brauche man keine Politiker, und wenn es schiefgehe, dann könnten die auch nichts machen.“ (Charles Lewinsky: Der Wille des Volkes, S. 371)

Und mit Vorwürfen an die amtierende Regierung ist grundsätzlich niemand lauter und aggressiver zur Stelle als der Rechtsextremismus, denn der hat es immer schon gewusst und gesagt, dass in den Regierungsämtern Verrat am Wohle des Volkes geübt wird. In Krisen, das ist Allgemeinwissen, steigen die Chancen der Rechtspopulisten, Aufmerksamkeit zu finden, Zuspruch und Stimmen zu bekommen. In Krisenzeiten tauchen die skurrilsten Deutungsmuster auf, die dann Eintagsfliegen bleiben. Aber die braune Rezeptur verwendet Zutaten mit langer Tradition, die sich schon oft bewährt haben, weil sie im modernen Alltag wurzeln.

Braune Politik hat es gegenwärtig verdammt leicht

Werfen wir abschließend einen Blick auf die aktuelle Situation in Deutschland. Wie in vielen anderen Ländern, herrscht nicht nur das Gefühl, von Krisen umzingelt zu sein (Klima, Krieg, Migration, Pandemie, Inflation, Wohnungsnot, unheimliche KI-Konsequenzen), sondern Krisenfolgen werden tatsächlich akut erlebt. Braune Politik kann sich auf konkrete Krisenerfahrungen beziehen.

Darüber hinaus hat der Klimawandel eine vorher nicht gekannte Krisenqualität. Für die traditionelle Krisenlösung, Wiederherstellung der alten Normalität nach hinreichend großen schöpferischen Zerstörungen, lässt er nämlich wenig Hoffnung. Wird die Umweltkrise ernst genommen, scheint eine Rückkehr zu den alten Praktiken der Wachstumssteigerung und Wohlstandsmehrung ausgeschlossen zu sein (wohl der Grund, weshalb so viele den Klimawandel lieber leugnen). So sind ganze Generationen damit konfrontiert, dass ihre privaten Entscheidungen, die auf Verbesserungen ihres Lebens abzielten, in den öffentlichen Debatten gesamtgesellschaftlich gesehen als Fehlentscheidungen gebrandmarkt werden. Das Eigenheim auf der grünen Wiese mit selbstbestimmter Energieversorgung, das große, schnelle Auto, die weite Urlaubsreise, der genussvolle Fleischkonsum, die erwartbare Karriere der Kinder, solche und andere Anker eines als erstrebenswert anerkannten Lebens sind bedroht und haben ihre Stabilität eingebüßt.

Die öffentlichen Auseinandersetzungen, so wie sie geführt werden, reihen sich nahtlos ein in die dominierenden Individualisierungs- und Selbstverantwortungserzählungen. „Nachhaltigkeit verdünnt sich zur Attitüde eines besonderen ökologischen Lebensstils mit moralischen Extraprofiten, was zahlreiche sozialkulturelle Verwerfungen zur Folge hat“ (Sighard Neckel). Achtung und Missachtung werden hin- und hergeschoben zwischen „unverbesserlichen Umweltsündern“ und „besseren Menschen“, die auf Bio und Öko machen.

In Überflieger-Reden von Politik, Gewerkschaften, Unternehmern wird von einer großen Transformation gesprochen, aber in den Ebenen des Alltags finden nur mühevolle kleine Schritte statt. Dass eine sozial-ökologische Transformation im Sinne der 17 Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen gelingen könnte – mehr als eine Träumerei wird darin vom Mainstream nicht gesehen. Werden Träumer zu Störern, übernehmen Polizei und Justiz. Natur und Arbeit operativ nicht primär als gewinnbringende Ausbeutungsobjekte zu sehen und zu behandeln, erscheint der herrschenden Meinung – und dem Rechtspopulismus – einfach unrealistisch.

In der Summe lassen sich bessere Voraussetzungen für einen rechtspopulistischen Aufschwung, als die aktuelle Lage sie bietet, auch auf dem Reißbrett nicht skizzieren. Ein Me-first-Klima, das Verantwortungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit begünstigt, Lebensumstände voller sozialer Unsicherheiten, öffentliche Dispute, die Orientierung rauben statt liefern, sich überlagernde Krisen, eine sichtlich und unvermeidlich überforderte Regierungspolitik – unter solchen Bedingungen hat es der Rechtsextremismus verdammt leicht, mit dem braunen Rezept und dessen vielfach erprobten Zutaten Erfolge zu feiern: Die allgemeine politische Enttäuschung in Wut und Empörung gegen die demokratischen Parteien verwandeln, den vielfältigen sozialen und politischen Beziehungen das Freund-Feind-Muster überstülpen, der grassierenden Perspektivlosigkeit Hoffnungen auf die Durchschlagskraft nationaler Größe entgegensetzen, absolute Deutungshoheit und alleinige Führung beanspruchen.

Das Basislager des Rechtsextremismus ist unser Alltag. Die Übergänge zwischen normalen Lebenswelten und rechtspopulistischen bis -extremistischen Sicht- und Verhaltensweisen sind fließend, die „Brandmauer“ ist künstlich (und deshalb umso wichtiger). In der Bruchstuecke-Serie mit den fünf Teilen „Selbstverantwortung“, „Soziale Unterschiede“, „Meinungsfreiheit“, „Partei und Gemeinwohl“, „Krisen und die Überforderung der Politik“ wird für diese These argumentiert.

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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