(I) Das Basislager des Rechtsextremismus: unser Alltag

Berlin Lustgarten, 1933 (wikimedia commons)

Die Auftritte der Rechtspopulisten, auf jeden Fall der Extremisten unter ihnen, scheinen vom zivilisatorischen Minimum so weit entfernt zu sein, dass es sehr schwer fällt, die Anziehungskraft zu begreifen, die sie auf beachtliche Teile der Bevölkerung in Deutschland und vielen anderen Ländern ausüben. Demgegenüber wird hier die These vertreten: Das Basislager des Rechtsextremismus ist unser moderner Alltag. Die Übergänge zwischen normalen Lebenswelten und rechtspopulistischen bis -extremistischen Sicht- und Verhaltensweisen sind fließend, die „Brandmauer“ ist künstlich (und deshalb umso wichtiger). In einer Bruchstuecke-Serie mit den fünf Teilen „Selbstverantwortung“, „Soziale Unterschiede“, „Meinungsfreiheit“, „Partei und Gemeinwohl“, „Krisen und die Überforderung der Politik“ wird für diese These argumentiert.

I              Selbstverantwortung

Die Diagnose, die jeder Spatz pfeift, der von irgendeinem Dach aus Rechtspopulisten entdeckt und zu beurteilen sich zutraut, lautet stets so: Die Leute (das sind immer die anderen) werden mit der Komplexität unserer Lebensverhältnisse nicht fertig und laufen deshalb simplen Losungen und einfachen Lösungen hinterher. Während die Probleme immer vielschichtiger, umfassender und verflochtener, also komplexer werden, drängen immer mehr (wie gesagt: andere) Leute auf eindeutige Antworten und drängeln sich um platte Parolen. Ist es so?

Als Markenzeichen unserer Gegenwartsgesellschaft ist der Begriff der Komplexität einsame Spitze, jedem nennenswerten Problem wird er attestiert. Präziser als im Alltag verwendet die Theorie sozialer Systeme den Begriff. Wie weit kommen wir, wenn wir diese Präzisierung aufgreifen? Mal schau`n.

Vorher noch kurz: Es geht um die Wurzeln, nicht um die verschiedenartigen Gewächse

Ob Links, Mitte oder Rechts, alle stärkeren politischen Strömungen, die sich als Parteien zu formieren und über längere Zeiträume zu halten vermögen, wurzeln im modernen Alltag. Auch wenn sie sich gegenseitig Realitätsferne und ideologische Vorstellungen vorwerfen: Sie repräsentieren Sichtweisen, die an gewöhnliche Erfahrungen, Erlebnisse und Handlungen anknüpfen, andernfalls wären sie längst in Nischen oder gänzlich verschwunden. Vieles sträubt sich dagegen anzuerkennen, dass diese Verankerung im Alltag auch für braune Parteien gilt, weil die barbarischen faschistischen Exzesse (roter Terror gewiss auch) jeder Verbindung mit zivilisierten Verhältnissen zu widersprechen scheinen. Mit seinem klassischen Satz „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“, hat Max Horkheimer im Sinne der „Dialektik der Aufklärung“ auf einer Verbindung bestanden.
Jede der drei großen Strömungen kommt in vielfachen Differenzierungen vor, weist normale und extreme, radikalisierte Ausprägungen auf. Die Namen, die die einzelnen Gruppierungen und Parteiformationen für sich selbst wählen und die ihnen im Sprachgebrauch gegeben werden, variieren von Zeit zu Zeit und von Land zu Land. Wenn in dieser Serie versucht wird aufzuzeigen, wie der Rechtsextremismus sich aus Normalitäten modernen Lebens speist, dann werden die großen Unterschiede zwischen moderaten Formen des Rechtspopulismus und terroristischen Formen des Faschismus nicht oder nur am Rande thematisiert. Es geht um die Wurzeln, nicht um die verschiedenartigen Gewächse.

Komplexität erlaubt und erzwingt zu wählen

Komplex ist im systemtheoretischen Verständnis eine Situation, die mehr Möglichkeiten des Handelns und Erlebens anbietet, als eine Person (oder auch eine Organisation) zu realisieren vermag. Komplexität reduzieren heißt, die Zahl der Handlungs- und Erlebnisoptionen verringern. Das macht zum Beispiel jede Organisation, indem sie sich auf einen bestimmten Zweck festlegt, etwa mit Filmproduktionen Geld verdienen. Gemessen an dem, was sie alles stattdessen hätte unternehmen können, hat sich ihr Horizont mit ihrer Wahl sehr verengt, unendlich vieles braucht sie nicht zu interessieren, nimmt sie gar nicht erst wahr.

Vor allem anderen stellt Komplexität vor die Qual der Wahl, denn sie verlangt Selektion. Ich kann, jedenfalls in der jeweils gegenwärtigen Situation, nur zu einer Möglichkeit Ja und muss zu allen anderen Nein sagen; also die klassische Konstellation der Entscheidung, in der nicht zufällig das Substantiv Scheidung steckt. Von Hamburg nach Frankfurt: Bus, Bahn, Auto, Flugzeug oder doch Online-Meeting oder diese Woche mal ohne mich? Welche Wahl wird sich als richtige erweisen? Hätte ich doch besser…

Weil auch eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, schließt hier der zweite Begriff an, der zwar nicht im Alltag, aber in der Wissenschaft fast ebenso inflationär gebraucht wird wie Komplexität, nämlich Kontingenz. Frei übersetzbar mit „alles kann, nichts muss“. Wie Komplexität mit der Qual (oder der schönen Freiheit) der Wahl so ist Kontingenz mit dem Risiko der Enttäuschung strikt gekoppelt: Hätte ich mich anders entschieden, stünde ich jetzt (vielleicht) besser da.

Bild: NoName_13auf Pixabay

Moderne Lebensverhältnisse – das hat im Europa des 19. Jahrhunderts begonnen um sich zu greifen und ist im 21. Jahrhundert in weiten Teilen der Erde Alltag – versetzen die Einzelnen permanent in Entscheidungssituationen. Alle Entscheidungen, ob alltägliche kleine oder weitreichende, Weichen stellende, haben eine schwerwiegende Nebenwirkung: Wer entschieden hat, hat es nicht anders gewollt. Entscheidungen fallen auf diejenigen zurück, die sie getroffen haben. Das ist willkommen, wenn alles gut geht. Aber dem ist auch dann nicht oder nur schwer zu entkommen, wenn es enttäuschend oder gar böse ausgeht. Dann will es zwar niemand gewesen sein, aber die Suche nach Schuldigen wird erst eingestellt, wenn welche gefunden sind.

Als Folge dieser Nebenwirkung setzt sich die allgemeine Auffassung immer stärker durch, dass die einzelne Person (ebenso die einzelne Organisation) im Erfolg wie im Scheitern für die Lage, in der sie sich befindet, selbst verantwortlich ist. Da mag gelegentlich Pech im Spiel sein beziehungsweise Glück, ‚das auf Dauer nur der Tüchtige hat‘, alles in allem, so das generelle Credo, ist es am Ende die Summe der eigenen Entscheidungen, vor deren Errungenschaften oder eben Scherbenhaufen man steht. Es liegt auf der Hand, dass es die Erfolgreichen sind, die dieser Deutung der Lebensverhältnisse besonders gerne folgen und diese Erzählung bei jeder Gelegenheit privat wie öffentlich zum Besten geben.

Selbstverantwortung – diese Vorgabe prägt den Alltag, sie ist eine hegemoniale Deutung unserer Lebensverhältnisse.

 Als Selbstdarsteller im Rampenlicht

Mit der Dominanz der Selbstverantwortung entschwindet der gesellschaftliche Rahmen, in dem die Entscheidungen stattfinden. Die getroffene Wahl erscheint voraussetzungslos, einzig dem individuellen Willen geschuldet, ganz als ob es die persönliche Präferenz des Schachspielers wäre, dass er mit dem Turm immer nur waagrecht oder senkrecht zieht. Gesellschaftliche Strukturen, die Organisation der Arbeitswelt, der zivil- und strafrechtliche Rahmen, Eigentumsverhältnisse, Kommunikationsverhältnisse, die Gesetze des Marktes, Zugangsregelungen zum Bildungs- und Gesundheitssystem, technische und infrastrukturelle Funktionsbedingungen… – alles bleibt außen vor. Die Einzelnen stehen als Selbstdarsteller im Rampenlicht, sollen zeigen, was sie haben und können, egal woher sie es haben, egal warum sie es (nicht) können. Allmacht und Ohnmacht, Superheld und Opfer beherrschen die massenkulturellen Erzählmuster.

Im Begriff der „freien Entscheidung“ läuft die Botschaft mit, dass es um erwünschte Alternativen geht und das Problem nur darin besteht, die beste unter den guten zu finden. Der Erfahrung, mit dem Rücken an der Wand zu stehen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten schrumpfen zu sehen, vielleicht nur die Wahl zwischen zwei Übeln zu haben, wird im hegemonialen Selbstverantwortungsdiskurs wenig bis keine Beachtung geschenkt. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem Selbstbild der Gesellschaft, das im Namen der Selbstverantwortung gepflegt wird, und den tatsächlichen Lebensverhältnissen vieler Menschen, die vorrangig damit beschäftigt sind, sich aus Zwangslagen zu befreien und Notwendigkeiten irgendwie zu bedienen. Sich – wie es der Mainstream will: aus eigener Verantwortung – in schwierigen, bedrückenden Lebensbedingungen zu befinden und gleichzeitig, massenmedial vermittelt, andere dabei zu beobachten, wie sie, und sei es nur in ihren Selbstdarstellungen, abheben, ihre Kontakte pflegen und ihre Ressourcen vermehren, kann verbittern und empören.

Der Widerspruch zwischen proklamierter Selbstverantwortung und den Erfahrungen realen Scheiterns, das jedenfalls im eigenen Selbstverständnis als unverschuldet erlebt wird, funktioniert als eine wichtige Anschlussstelle des Rechtsextremismus. Er nutzt diesen Widerspruch als Steilvorlage. Er thematisiert keine problematischen, ungerechten Verhältnisse, er verbessert die soziale Lage der Gescheiterten und Abgehängten nicht. Sein Angebot ist ein anderes: Der Rechtsextremismus entlastet die Betroffenen von der persönlichen Verantwortung für ihre Situation. Er weist alle Schuld „denen da oben“ zu (er trifft sich hier mit dem dummen Linksradikalismus) und verspricht (hier geht er seinen eigenen nationalistischen und rassistischen Weg), Menschen in prekären Lebenslagen, so weit sie der „Volksgemeinschaft“ angehören, in nationale Größe einzubetten und allem Fremden überzuordnen.

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

4 Kommentare

  1. Interessanter Ansatz! Rechts- und Linksradikalismus als Überforderungseffekt. Diese latente Überforderung ist der Preis, den die moderne Gesellschaft von den Menschen als Gegenleistung für Freiheitsrechte und die Wohlstandsgewinne durch funktionale Differenzierung mit Marktwirtschaft und Rechtsstaat fordert.
    Entlastung kommt durch Routinen, wo man nicht immer wieder neu entscheiden muss, vor allem aber durch Institutionen. Und diese Institutionen werden gesellschaftspolitisch gerade zerbröselt. Ob Ehe, Sprache, Lebensform, sexuelle Identität, Staatsbürgerschaft oder Klimabewusstsein – alles wird zur Disposition gestellt und damit zur Entscheidung und Selbstverantwortung jedes Einzelnen. Dass dies immer mehr Menschen verstört und überfordert dürfte niemanden wundern. Der Umschlag von Freiheitsgewinnen in kollektive Regression liegt da nur zu nahe. Vielleicht braucht es mehr Bewusstsein für die Bedeutung von Institutionen und einen aufgeklärt-konservativen Spirit, um die Gesellschaft wieder in etwas ruhigeres Fahrwasser zu lenken.

  2. Danke für die Kommentierung, der ich in dem Punkt widersprechen will, dass „Rechts- und Linksradikalismus“ ein Überforderungseffekt seien. Die Serie versucht, Wurzeln des Rechtsextremismus zu analysieren. Über Linksradikalismus muss man meines Erachtens ganz anders nachdenken, was ich hier aus dem Handgelenk gar nicht erst versuchen will. Wenn beide eine Wirkung derselben Ursache wären, bliebe die Frage zu beantworten, weshalb das 21. Jahrhundert dem einen eine Hochkonjunktur beschert und dem anderen eine tiefe Depression.

  3. Ich bin überrascht, dass Autor Hans-Jürgen Arlt in seiner Antwort auf Matthias Schulze-Böing behauptet, es gehe ihm gerade NICHT, wie von Schulze-Böing herausgelesen, um den Aspekt der Überforderung.
    Ich denke, Schulze-Böing hat mit seiner Überforderungs-These — die meines Erachtens zentral in diesem sehr anregenden Arlt-Text steckt, was der Autor jedoch dementiert, und er muss es ja wissen — doch den Kern getroffen.
    Wenn jeder und jede über sein Leben bestimmen darf, vor allem: muss, auch alle Entscheidungen verantworten muss, zudem die ihn und sie bestimmenden Zwänge und Vorgaben zum Verschwinden gebracht werden, und alle dieses Denken und Wahrnehmen auch verinnerlichen, dann ist es doch naheliegend, dass Menschen mit vielen Ressourcen (Geld, Kontakten, Bildung, Kompetenzen) unter diesen Umständen ganz gut zurecht kommen, jedoch all diejenigen mit geringen Ressourcen schlecht.
    Die Folge: Gibt es Veränderungen, egal welcher Art, dann sind allein die Ressourcen-Starken in der Lage, locker leicht damit umzugehen, sich neu darauf einzustellen, eventuell sogar Honig aus den neuen Verhältnissen zu saugen. Die Ressourcen-Schwachen werden dagegen aus Erfahrung alles tun, um Veränderungen möglichst zu verhindern, denn sie wissen: allein die Neu-Orientierung auf unbekanntem Terrain kostet sie meist mehr Kraft als sie noch übrig haben.
    Das ist ihr Antrieb, AfD zu wählen, denn diese ist — nachdem CSU/CDU ihre Aufgabe des konservierenden Bewahrens vor Jahrzehnten und spätestens mit Angela Merkel und auch mit Blackrock-Merz aufgegeben hat — die einzige Partei, die “Grenzen setzt” (Wahlkampf-Slogan der hessischen AfD), die Neuerungen einfach erst einmal abwehrt: die Geflüchteten, uferlose neue Techniken in der Arbeitswelt, die neue Heizung, das Verbot des Schottergartens, des Diesel-Verbot, die neue gegenderte Sprache, die Zulassung von Cannabis.
    Und sie ist die einzige Partei, die es sich traut, für das Vertraute einzusetzen: Wertschätzung der deutschen Sprache, Erhalt und Förderung von deutschem Brauchtum und deutscher Kultur, Denken, Handeln und Gestalten ausserhalb der wirtschaftlichen und kulturellen großstädtischen Zentren, Wertschätzung der ländlichen Regionen.
    Insofern ist dieser erste Satz von Schulze-Böing doch richtig, lieber Autor: Die AfD — ich lasse ihren Rechtsextremismus, ihre Menschenhetze einmal beiseite — ist für etwa die Hälfte ihrer Wählerschaft — also diejenige, die unverändert diese Partei TROTZ ihrer rechtsextremen Positionen wählt — vor allem eine Partei der Entschleunigung. Weil Ressourcen-Schwache aus Erfahrung wissen, die meisten Veränderungen betreffen sie negativ und/oder überfordern ihre Kräfte, und auf die Versprechen der Politik, wir helfen Ihnen dabei, ist kein Verlass.
    Und damit lässt sich auch der zweite Teil des Satzes von Schulze-Böing belegen: Die Überforderungs-These, die mit den Elementen Beschleunigung und Entschleunigung zu tun hat, erklärt nicht nur den Aufstieg der altegrenzensetzenden nationalistischen konservierenden Rechtspopulisten, sondern auch den Niedergang der Linken. Denn ressourcen-schwache BürgerInnen könnten ja auch links wählen. Warum tun sie es nicht? Weil die Linke mit ihrer überbordenden Geflüchtetenhilfe, mit gegenderter Sprache etc. alles tut, um die von Ressourcen-Schwachen so gefürchteten Veränderungen über Maßen noch zu beschleunigen.

  4. @ Wolfgang Storz: Das ist eine interessante Lesart meines Kommentars, der in meinem Verständnis kein Wort gegen die Überforderungsthese gesagt, sondern sich dagegen gewehrt hat, Rechts- und Linksextremismus dieselbe Ursache zuzuschreiben.
    Dass der Alltag als Überforderung erlebt wird, scheint mir zweifelsfrei eine (in Zahlen 1) rechtsextreme Anschlussstelle zu sein. Diese These wird meines Erachtens allerdings überfrachtet, wenn sie zur alleinigen Ursache erklärt wird.

    Wolfgangs Kommentar verändert am Schluss völlig die Fragestellung: Er bringt die Überforderungsthese in Zusammenhang damit, dass die Überforderten nichts links wählen. Mag so sein oder nicht. Die Frage, von der wir ausgingen, war aber: Was sind die Wurzeln des Rechtsextremismus? Wobei Matthias Schulze-Böing Überforderung auch als Wurzel des Linksextremismus sieht, während Wolfgang argumentiert, die Linke würde wegen Überforderung gerade nicht gewählt.

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