Eine Sucht namens Soziale Medien

Screenshot: Website ARTE

Mit der Ausbreitung der digitalen Kommunikationssysteme dringen Mobiles, Tablets, Watches etc. in den Alltag der Bürgerinnen und Bürger ein. Das Smartphone wird zum ständigen Begleiter1, es ist für viele in unseren Breitengraden fast unverzichtbar. Es ist überall dabei, im Büro, zu Hause und unterwegs – nach globalen Schätzungen für drei Milliarden Menschen. Dieses Gerät, mit dem wir immer erreichbar sind, ist vollgestopft mit Apps: Zum Beispiel whatsapp zum Kommunizieren, tik tok zur Unterhaltung, Instagram, um das Ego zu boosten und Tinder für die Partnersuche im Internet.

Alle Apps arbeiten mit Belohnungen, die in unterschiedlichen Symbolen auftauchen. Auf Facebook sind es Likes, auf Snapchat Flammen, auf Instagram Herzchen, für Uber-Fahrer Medaillen und auf Tinder Matches. Der Psychologe Björn Lindström der Vrije Universiteit Amsterdam hat den Effekt der Likes von Facebook für das Funktionieren von Belohnungen nachgewiesen. Er fand heraus, dass je mehr Likes seine Versuchspersonen bekamen, desto mehr posteten sie. Es sieht danach aus, als ob die Webdesigner der Tech-Unternehmen uns dazu bringen, durch Belohnungen oder „Verstärker“ eine App öfter und länger zu nutzen. Man könnte sagen: ein Like bei Apps funktioniert ähnlich wie ein Futterkorn in einem bekannten behaviouristischen Taubenexperiment. Soziale Netzwerke werden nach den Prinzipien des Behaviourismus konzipiert.

Behaviouristische Belohnungen

Es gibt einen vielzitierten Aufsatz von Lauren Sherman und Patricia Greenfield, in dem sie The Power of the Like in Adolescence beschrieben haben. Ein Like aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn, also die Gehirnregionen Striatum und den präfrontalen Cortex. Die chemische Antwort auf dieses Feedback der Likes ist die Ausschüttung des Botenstoffes Dopamin. Dieser Botenstoff kann glücklich machen kann. Apps sind so konzipiert, dass sie unerlässlich werden.

Es ist interessant, dass beim Smartphone der Dopaminschub nicht im Moment der Belohnung, sondern unmittelbar davor erfolgt. Das Belohnungssystem im Gehirn wird aktiv, und das führt am Ende unausweichlich dazu, dass wir beim Anblick unseres Smartphones jedes Mal nachschauen müssen, ob eine der Apps eine Belohnung bereithält oder nicht. Denn damit wir die Apps immer öfter nutzen, haben die Entwickler ein probates Mittel entdeckt, das süchtig macht: die variable Belohnung.

Ein Wissenschaftler wie Laurent Madelaine, Psychologe an der Université de Lille, nennt diesen Effekt Verstärkung. Aber es handelt sich um keine kontinuierliche Verstärkung, sodass auf eine Handlung prompt der Verstärker folgt, sondern um eine unterbrochene. Auf ein Verhalten folgt nur manchmal eine Belohnung. Dies ist die Funktionsweise der Apps. „Sie belohnen dich nicht jedes Mal. Und weil die Art der Belohnung variiert und nicht immer eine Belohnung erfolgt, wird das Verhalten länger aufrechterhalten.“ (Laurent Madelaine)

Von der Belohnung zur Gewöhnung

Nach Auffassung des Psychologen wird durch die Wiederholung der Umgang mit dem Smartphone zur Gewohnheit. Er ist weniger durch die Aussicht auf eine Belohnung gesteuert, sondern durch das, was vorher passiert. Deshalb greifen in einer U-Bahn viele User sofort zu einem Handy. Sie schauen nicht auf ihr Mobile, um eine Nachricht, eine Zeitung oder sonst etwas zu lesen, sondern weil sie in der U-Bahn sind. Das Verhalten wird durch die Situation ausgelöst.

Dies geschieht nicht zufällig. Um das Verhalten zur Gewohnheit zu machen, manipulieren die App-Entwickler das Nutzerverhalten, in dem sie Benachrichtigungen senden. Die User sehen am Handy, dass es etwas Neues auf Facebook oder sonst wo gibt, das sie sich anschauen müssen.

Problematische und unproblematische Zeiten am Handy

Manche User scrollen pausenlos durch ihre News-Feed obwohl dort seit Stunden nichts Interessantes passiert. Zum anderen füllen die Nutzerinnen und Nutzer generell ihre Zeit mit Chats, Bildern, Infotainments etc. aus. Für viele ist das sogenannte Doomscrolling, der Konsum negativer Nachrichten im Internet, zum selbstverständlichen Teil ihres Lebens geworden. Die User konsumieren eine schnelle Abfolge von Reflexen und Reizen. Der Konsum kann mehrere Stunden dauern, ohne dass es den Usern bewusst würde. Die Zeit, die viele Menschen am Smartphone verbringen, steigt von Jahr zu Jahr. In Frankreich und Deutschland betrug 2022 die Bildschirmzeit 3:30 Stunden pro Tag und war in zwei Jahren um eine Stunde gewachsen. In den USA lag sie bei 4 Stunden, in Brasilien sind es sogar 5:30 Stunden. Das ist ein Drittel der gesamten Wachzeit.

Vishnu Murty, der als Neurobiologe an der Temple University in Philadelphia arbeitet, ließ Versuchspersonen schätzen, wie lange sie schon auf tik tok waren und fragte, an welche Videos sie sich erinnerten. Das Ergebnis war, dass je weniger Erinnerungen sie aufbauten, desto kürzer erschien ihnen die verstrichene Zeit. Wenn die User unbewusst längere Zeit am Handy verbrachten, lag dies daran, dass ihr Gehirn die Videos als unwichtig aussortierte und sie an das Gezeigte nicht erinnerte.

„Es ist aber nicht die Menge an Zeit, sondern die Art der Nutzung des Smartphones, die wichtig ist“, sagt Daria Kuss, Psychologin an der Nottingham Trent University. Wichtiger ist, ob die User das Smartphone aktiv oder passiv gebrauchen. Bei der aktiven Nutzung beteiligen sich die User an der Produktion von Inhalten. Einige trainieren stundenlang hochkomplizierte Tänze und posten sie. Beim passiven Nutzen scrollen sie wahllos durch Inhalte, ohne selbst beteiligt zu sein. Daria Kuss und andere haben herausgefunden, dass die aktive Nutzung generell mit positiven Erfahrungen verbunden ist, während die passive Nutzung eher negativ erlebt wird. Nicht allein die Dauer, sondern die Art der Nutzung verrät, ob ein Handyverhalten problematisch ist, oder ob man von einer Sucht sprechen kann.

Foto: GustavoWandalen auf Pixabay

Sucht und gestörtes Belohnungssystem

Eine mögliche Handysucht konnte im Jahr 2022 nicht offiziell diagnostiziert werden, weil sie noch in keinem Diagnosehandbuch für Suchtverhalten enthalten war. Allerdings, so Daria Kuss, zeigen die Personen, die die Handysucht betrifft, in Folge ihres Handykonsums die klassischen Suchtsymptome: Toleranz – die Menschen verbringen immer mehr Zeit am Handy; Stimmungsverbesserung, sie nutzen ihr Handy, um Gefühle zu betäuben; starkes Verlangen: all ihre Gedanken kreisen um das Smartphone; und der Rückfall nach einer Abstinenzphase. Nach diesen Kriterien stufte eine Studie in der Fachzeitschrift Frontiers in Psychiatry 42% der Teilnehmer unter 21 Jahren als handysüchtig ein, gegenüber 34% 22–25-jährigen, und 28% der über 26-jährigen.

Der Neurowissenschaftler Guillaume Sescousse vom Centre de Recherche en Neurosciences in Lyon hat sich eingehend mit dem Belohnungssystem beschäftigt, das bei allen Süchten eine wesentliche Rolle spielt. „Bei Personen, die eine Substanz- oder eine Verhaltenssucht entwickelt haben, ist das Belohnungssystem gestört.Diese Störung zeigte sich bei Experimenten mit Spielsüchtigen, die immer mehr Zeit am Handy verbrachten und ab einem bestimmten Zeitpunkt alles andere vernachlässigten. Während die ursprüngliche Funktion des Belohnungssystems darin bestand, überlebenswichtige Verhaltensweisen Essen, Trinken und Sex zu fördern, „kapern“ heute die Verstärker der Social Media das Belohnungssystem vieler User und können Süchte erzeugen.

Fragwürdige Anreize für Selbstwert und gesteigerte Impulsivität

Bei Verhaltenssüchten ist der Selbstwert ein genereller Indikator. „Menschen mit geringem Selbstwert neigen eher dazu, Verhaltenssüchte zu entwickeln. Und das gilt auch für die Nutzung sozialer Netzwerke.“ sagt Stéphanie Bertholon, klinische Psychologin am Centre du traitement du stress et de l´anxiété in Lyon. Social Media sprechen den sozialen Vergleich an. „Für den Selbstwert förderlich sind Vergleiche mit Personen, die uns unterlegen sind. Vergleiche mit Personen, die uns überlegen sind, schwächen hingegen den Selbstwert tendenziell. Diese ständigen Aufwärtsvergleiche lassen den Selbstwert nach und nach in den Keller sacken. Die Handynutzung verstärkt bei Personen mit Angststörung überprüfendes, versicherndes, entlastendes Verhalten, aber auch Zweifel und Ängste.“

Kinder können möglicherweise heute ihre Impulse weniger kontrollieren, weil sie so viel Zeit am Smartphone und in den sozialen Medien verbringen. Jason Chein, Neurowissenschaftler an der Temple University Philadelphia, hat die Impulsivität mit einem „Raumfahrer“-Test in einem Kernspintomografen untersucht. Immer, wenn die Testperson eine Situation mit Kratern sah, musste sie einen Knopf drücken, aber nicht bei einem Planet mit Streifen. Eine impulsive Person tendierte dazu, auch den Knopf zu drücken, wenn ein gestreifter Planet erschien. Das Ergebnis: Menschen mit einem hohen Handy- und Social Media-Konsum zeigten eine verminderte kognitive Kontrolle und eine gesteigerte Impulsivität. Sie konnten ihre Handlungen schlechter kontrollieren.

Kontrollverluste, weniger Resilienz

Der Grund dafür ist vermutlich eine jahrelange Smartphone-Nutzung in allen Lebenslagen. Nach Auffassung von Chein werden viele Apps bewusst entlang psychologischer Prinzipien entwickelt, die die Aufmerksamkeit binden und das Belohnungsverhalten verstärken, damit die Leute die Apps länger nutzen. „Wahrscheinlich wirken sie auf das Gehirnareal, das für Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle zuständig ist. Gleichzeitig neigen impulsive Menschen eher dazu, solche Apps zu nutzen und zu viel Zeit damit zu verbringen, bis sie süchtig danach werden.“

Je öfter und je länger Menschen Social Media nutzen, desto weniger greift die kognitive Kontrolle gegen den Dopamin-Schub. Dabei spielt ein anderer Botenstoff, das Noradrenalin, eine wesentliche Rolle. „Zwanghaftes Verhalten kann über die sogenannte kognitive Kontrolle gesteuert werden, sprich: wir unterlassen das Verhalten. Wenn das Smartphone eine neue Nachricht anzeigt, unterdrücken wir den Impuls, sie sofort zu checken. Wir übernehmen die Kontrolle über unser Verhalten. Das ist eine Form der geistigen Anstrengung. Dabei kommt uns der Botenstoff Noradrenalin zu Hilfe, das die kognitive Kontrolle unterstützt.“ (Mathias Pessiglione, Neurowissenschaftler am Institut du cerveau et de la moelle épinière, Paris) Wenn User es schaffen, ihr Smartphone zu ignorieren, wirkt der Botenstoff Noradrenalin, der den Dopamin-Kick beherrschen kann.

Tech-Unternehmen geben kein Wissen preis

Das Wissen, wie die digitalen Medien auf das Gehirn wirken, ist zweifellos gewachsen. Doch die Forschung stößt auf Probleme. Denn es gibt immer neue Apps und die Daten, die mehr über ihre Funktionsweise verraten, sind nur schwer zugänglich, weil sie den Tech-Unternehmen gehören.

Bei der Anhörung im US-Senat am 5.10.2021 sagte Frances Haugen, eine ehemalige Mitarbeiterin von Facebook: .„Fast niemand außerhalb von Facebook weiß, was innerhalb von Facebook passiert. (…) Meines Erachtens schaden die Produkte von Facebook Kindern. (…) Die Konzernchefs könnten Facebook und Instagram sicherer machen, aber sie unternehmen nichts, weil sie ihre astronomischen Gewinne über die Menschen stellen.“ Auf die Frage von Senator Ben Ray Juján: „Verfügt Facebook über interne Studien, die darauf hindeuten, dass Instagram Jugendlichen schadet und ihr Körperbild verzerrt, insbesondere bei jungen Frauen?“ antwortete Haugen: „Ja, Facebook besitzt Studien zum Einfluss seiner Produkte auf Jugendliche und junge Frauen.“ So zeigten die Facebook Files, dass sich 37% der weiblichen Teenager nach der Nutzung von Instagram schlechter fühlen. 66% der Erwachsenen erleben negative soziale Vergleiche und 23% aller Nutzer empfinden einen extremen Druck, perfekt wirken zu müssen.

Der Psychologe Christian Montag von der Universität Ulm betrachtet die Social Media Plattformen als Blackboxes. Forscherinnen und Forscher haben keine Möglichkeit, auf die Daten der Plattformen zurückzugreifen. Auf sogenannten Meta-Plattformen, also Facebook, Instagram usw., gibt es schätzungsweise drei Milliarden User. Ihr Verhalten bildet einen unfassbar mächtigen Datenpool. Ihn können allerdings nur die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Tech-Konzernen anzapfen.

Dies war nicht immer der Fall. Im Jahr 2014 hatte Facebook Labor die Ergebnisse eines Experiments zur „emotional contagion“, d.h. der emotionalen Ansteckung veröffentlicht. In diesem Projekt hatten die Autoren den Newsfeed von rund 700.000 Usern manipuliert. Sie hatten einer Gruppe mehr positive Beiträge zu sehen gegeben, der anderen mehr Beiträge mit negativer Stimmung. Es zeigt sich, dass Personen, die negative Postings erhalten hatten, mehr negative Inhalte posteten, und umgekehrt. Der Newsfeed von Facebook konnte also die Emotionen seiner User beeinflussen. Damals hatte die Tatsache, dass User zu unfreiwilligen Versuchskaninchen gemacht wurde, einen Skandal verursacht. Seitdem weigert sich das Labor von Facebook, seine Studien für die Wissenschaft zugänglich zu machen.

Der algorithmisch erzeugte Druck, nackte Haut zu zeigen

So lange diese Schnittstellen geschlossen sind, werden die Forschenden keine Klarheit darüber bekommen, was dort wirklich passiert. Sie müssen sich also anders behelfen, um an die unverzichtbaren Nutzerdaten zu gelangen. Diesen Weg ist die Algorithm Watch in Berlin gegangen. Um zu verstehen, nach welchen Kriterien diese Algorithmen diese Dateninhalte als relevant einstufen, nutzt die Organisation Algorithm Watch Datenspenden.

Die NGO hat in ihrer Studie Undress or fail untersucht, welche Art von Fotos der Instagram-Algorithmus priorisiert. Dabei zeigte sich, dass Bilder, die nackte Haut zeigen, eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit hatten, in den Newsfeeds der Datenspender aufzutauchen. Je mehr Männer einen nackten Oberkörper haben und je mehr Frauen im Bikini oder in Unterwäsche auftreten, desto öfter erscheint das Bild. Also steigt der Druck, sich leicht bekleidet zu zeigen, um erfolgreich auf Instagram zu sein. Facebook warf darauf hin Algorithm Watch vor, gegen die Nutzungsrichtlinien zu verstoßen und kündigte an, „formelle Schritte einzuleiten“ (Senior Research Associate Anne Mollen). Darauf hin entschloss sich die NGO dieses Projekt zu beenden.

Individuelle und gesellschaftliche Lösungen

Die zitierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler empfehlen keine disruptiven Änderungen des Medienverhaltens. Eine Entwöhnungsstrategie könne darin bestehen die Signaltöne der Benachrichtigung auszuschalten. „Ich entscheide, wann ich ans Handy gehe, nicht irgendein Ton.“ „Wenn Du Dich konzentrieren musst, z.B. in der Schule, leg das Handy in Deine Tasche oder einen anderen Raum.“ Und schon, „wenn ich mein Smartphone auf grau stelle, d.h. die Farben herausnehme, wird Social Media weniger interessant.

Individuelle Lösungen, das Smartphone weniger und bewusster zu nutzen, sollten aber aus wissenschaftlicher Sicht weder den Gesetzgeber noch die Konzerne aus der Verantwortung entlassen. Schließlich prägen Social Media die Wertekompetenz der User mit behavouristischen Mitteln. Sie sind keineswegs neutral. Der Psychologe Montag sagt: „Die Facebookleute sagen, wir sind ein Privatunternehmen. Ich behaupte dagegen, die Techplattformen sind so groß, dass wir sehr wohl als Öffentlichkeit ein Anrecht darauf haben zu verstehen, was dort passiert.“ Er fordert die Konzerne auf, ihr Systemdesign zu verändern. Plattformen müssen neu verbaut werden, mit Elementen, die weniger suchtfördernd sind. Es geht um einen Restart der Social Media. Es ist dringend geboten, darüber zu diskutieren, wie eine gesunde Form von Social Media aussehen könnte.

Suchtgesellschaft

Wenn Imojis, Bilder und Sprachnachrichten ein verführerischer Anreiz für Heranwachsende sind und wenn das Smartphone in Verbindung mit den Social Media eine Suchtgefahr für alle darstellt, könnten die Entwicklungschancen für kritisch urteilende Bürgerinnen und Bürgern erschüttert werden. Es gilt, konkretere Vorstellungen von der Erschütterung zu entwickeln, die die Existenz der Menschen durch elektronische Medien bedrohen.

Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich (1927-2020) hat mit Bezugnahme auf den Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich (1886-1965) formuliert: „Es sind drei Bedrohungen, in denen wir heute unsere Situation wiedererkennen: die Bedrohung, mit nichts identisch zu sein; die Bedrohung, keine Sprache zu haben unter den zerstörenden Mächten; die Bedrohung, dass die Angst des Identitätsverlustes und der Sprachlosigkeit in Selbstzerstörung treibt.“2 So gesehen schwächt das Suchtpotenzial behaviouristisch strukturierter Social Media die Möglichkeit von Usern, diesen Bedrohungen zu begegnen.

Heinrich hatte in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie am 21.10.1993 nicht als Fachmann für Suchtprobleme gesprochen, sondern das Suchtproblem im Singular thematisiert. Seine Argumentation aufnehmend sind für die Verhaltenssucht nicht allein ökonomische Gründe, d.h. die Macht der Tech-Unternehmen als verursachend und steuernde Instanzen auszumachen. Wenn es darum geht, individuelle und gesellschaftliche Lösungen zu finden, ist bei dem Begehrensmodell avancierter Industrie- und Dienstleistungsnationen anzusetzen, auf denen die Suchtstrategien der Social Media aufsitzen und deren sie sich bedienen.3

Auch die Suchtforschung und -therapie im Falle Social Media haben es mit einem schon vorhandenen Suchtpotenzial zu tun. Deshalb ist für die Förderung der Autonomie und des Resilienzaufbaus die Frage von Interesse, wo die Zielstrebigkeit der Süchtigen anzusiedeln ist. Hinweise gibt es bei den Sog- und Sucht-Metaphern. Das Wort Sucht geht auf die Metapher der saugende Strömung im Meer zurück und auf den Sog. Sog bezeichnet alle jener „gefahrvollen Situationen, die uns die Nähe des Ausgelöscht- Werdens mit selbstzerstörerischer Lockung vor Augen führen und die wir darum mit Lust vom Schauder teils herbeiführen, teils aufsuchen.“ Man denke nur an den Sog des Hochwasser führenden Stroms mit seinen Strudeln unter der Brücke oder an die aktuelle Sogvariante des S-Bahn-Surfens: sich draußen entlang hangelnd am fahrenden Zug, dem realen Sog des Fahrwinds ausgesetzt, immer unter der Drohung des Tödlichen erfasst zu werden.

Die Disposition zur Sucht könnte auch Veränderungen im Diskurs sozialer Gerechtigkeit erklären. In diesem Fall ließe sich der Streit um Bildungsprozesse nicht mehr allein darum führen, dass sie vielen vorenthalten sind, sondern dass sie nicht mehr in Anspruch genommen werden. Sucht nach weniger mühseligen Alternativen würde erklären, warum der Verteilungskampf um Bildung relativiert wird – durch eine gleichgültige Haltung gegenüber einem strategisch relevanten Gut.

Social Media – Risiken und Chancen?

Wir haben zwischen den Bürgermodellen 3.0+ und 4.0 unterschieden. Die Unterscheidung ist hilfreich, um einen naiven Fortschrittsglauben eine kritische Frage zu stellen. Dieser Glaube besteht darin, dass die „dezentralen“ Social Media den Möglichkeiten einer „Demokratie von unten“ Ressourcen und Raum geben. Dafür reichen allein die technischen Voraussetzungen nicht aus. Eine Technik, die keine gesellschaftlichen und politischen Formen und Institutionen findet, die Medienkompetenz und die Entwicklung urteilsfähiger kritischer Bürgerinnen und Bürger fördern, eröffnet keinen Weg zu einer lebendigen Demokratie.

Unsere Probebohrungen der Social Media – um mehr handelt es sich nicht! – haben etwas anderes gezeigt. Es gibt Tendenzen, die einer deliberativen Demokratie von Bürgerinnen und Bürgern entgegen laufen. Dies sind Menschen, die sich mit Herz und Verstand mit Fragen des Gemeinwohls und der Demokratie auseinandersetzen.

Unsere Stichproben sind geeignet, nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Seiten der Social Media in den Blick zu bekommen. Wir können uns auf zwei große Fragen konzentrieren: Was könnte aus dem Netz werden, wenn die Tech-Unternehmen Sucht fördernde Algorithmen durch solche ersetzen, die in Richtung „Bürger 3.0+“ weisen? Und was könnten selbstbewusste und urteilsfähige Verbraucherinnen und Verbraucher bewirken, wenn sie sich distanzierter zu den Reizen verhielten, die auf einströmen?

„Distanziert“ und „Distanz“ sind für unser Thema gute Worte. Wir sollten sie nicht in den Sinnvarianten der Ablehnung gebrauchen. Im Gegenteil, Distanz bedeutet eine Chance (damit will ich mich in einem künftigen Beitrag auseinandersetzen). Es ginge vielmehr darum, eine Nähe zu vertrauten Dingen zu vermeiden, die dem eigenen Urteil nicht zuträglich ist. Distanz bedeutet in einem guten Sinne „einen Schritt zurück zu treten.“ So lassen sich Möglichkeiten erkunden, wie wir die Social Media für uns im besten Sinne nutzen können.

Teil 1 erschien unter dem Titel „Däumeling und Däumelinchen klappen ihre Notebooks auf…


1  Vgl. ARTE France & Les Bons Clients, Die Dopamin-Falle. Der Botenstoff und die sozialen Medien, Mai 2023 (E: 02.07.2023) Die folgenden Zitate von Psychologinnen und Psychologen, Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern sind diesem Film entnommen.
2  Klaus Heinrich, Parmenides und Jona, 3. Auflage 2020 (1966), ça ira-Verlag, Freiburg und Wien, S.67, 126f und Paul Tillich, Ontologie der Angst (1952), in: ders., Der Mut zum Sein, Berlin De Gruyter 2015, S.33ff
3  Klaus Heinrich, Sucht und Sog. Zur Analyse einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegungsform (1993), in: ders. anfangen mit freud, ça ira-Verlag, Freiburg und Wien, 2020, S.39-61

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

2 Kommentare

  1. Lieber Herr Dr. West,

    vielen Dank für die beiden Essays.

    Ich bin nicht sicher, ob ich Ihrer Schlussfolgerung folgen kann. Wie Sie anhand der zitierten Studien zeigen (und es gibt viele weitere), ist das Verhalten der meisten Menschen durch die sogenannten Dark Patterns der Apps selbst »gesteuert.« Sicherlich kann man fordern, dass wir alle uns bewusst von SM distanzieren. Da die Apps aber so gestaltet sind, wie sie sind, bedeutete dies eine Umkehr der Pflicht, sich anders zu verhalten. Es gibt nur eine Facebook-App, aber 2 Mrd (oder wie viele auch immer) Benutzer:innen. Allein die Skalierung macht klar, dass der erste Schritt von den Apps ausgehen muss.

  2. Lieber Herr Carlin,
    vielen Dank für Ihren Kommentar!
    Ich stimme Ihnen zu. Ich hoffte zum Ausdruck gebracht zu haben, dass sich von seiten der App-Produzenten grundlegend etwas ändern muss. Zugleich erschien es mir wichtig darauf hinzuweisen, dass auch die User mit den Social Media bewusster kommunizieren. Mir ist aber auch wichtig, den Konsum in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Wir finden leider auch Suchterscheinungen in anderen Bereichen des alltäglichen Lebens wie beispielsweise der Kleidungsindustrie. Aber wir treffen auch – ich sage: glücklicherweise! – auf Verhaltensweisen, die ein reflektiertes Distanz einhaltendes Verhältnis zur Warenwelt zum Ausdruck bringen. Ich versuche, dem weiter nachzugehen. Das Ergebnis werden Sie demnächst auf diesem Blogg lesen können.

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