Das Ljubljana-Manifest hat die These zur Diskussion gestellt, dass intensives Lesen in einer Demokratie maßgeblich dazu beitragen kann, dass die Menschen zu kritischen Bürgerinnen und Bürgern werden.1 Es reduziere ihre Abhängigkeit von ihrer Umwelt auf ein Mindestmaß und erweitere die Unabhängigkeit bei der Beurteilung der Welt. Zugleich stärke es die Widerstandskraft der Individuen gegenüber der Gefahr der Manipulation. Es ist aus meiner Sicht eine interessante Frage, welchen Einfluss die „neuen Medien“, sie sogenannten Social Media, auf den Alltag und die Urteilsbildung der Bürgerinnen und Bürger haben. In zwei Teilen, „Däumeling und Däumelinchen klappen ihre Notebooks auf…“ sowie „Eine Sucht namens Soziale Medien“ gehe ich dieser Frage nach.
Ist die Kultur des ausgiebigen Lesens nur einer kleinen Elite eines Landes vorbehalten, schlägt die Stunde von Politikerinnen und Politikern und von Unternehmerinnen und Unternehmern, die mit populistischen Vereinfachungen und fake news ihre partikularen Interessen gegen das Gemeinwohl durchsetzen wollen. Diese und andere Formen der Desinformation schwächen definitiv die Stabilität der Staatsform Demokratie. Wir konnten diese Entwicklung in den USA unter Donald Trump beobachten, als es dem ehemaligen Präsidenten gelang, seriöse Nachrichten als fake news zu diskreditieren und sich mit Lügen und unwahren Behauptungen an der Macht zu halten. Deshalb darf in einer Demokratie intensives Lesen kein Privileg einer gebildeten Minderheit sein. Die gesellschaftliche Entwicklung scheint jedoch in eine andere Richtung zu gehen. Vorbei ist die Zeit, als Tageszeitungen und TV-Programme die Qualität von publizierten Informationen sicherstellten. Damals war ihr Wahrheitsanspruch unabhängig von der Position im demokratischen Meinungsspektrum gewährleistet. Mittlerweile gelangen Meinungen ohne Realitäts- und Wahrheitsgehalt durch die sogenannten Social Media in die Öffentlichkeit.
Smartphone, Social Media und die Konstitution der Subjektivität
Die Urteils- und Kritikfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger ist ein wichtiger Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Wir könnten auch sagen, einer deliberativen Demokratie, in der es nicht nur auf geordnete Wahlen zu den Parlamenten, sondern auch die diskursive Beteiligung der Bevölkerung an den wichtigen Themen der Zeit ankommt.2 Es ist aus meiner Sicht eine interessante Frage, welchen Einfluss die „neuen Medien“ auf das Leben und die Urteilsbildung der Bürgerinnen und Bürger haben. Das Smartphone ist ubiquitär verbreitet, es ist ein ständiger Begleiter bei der Arbeit, zu Hause und unterwegs. Und Zeit, die Menschen am Smartphone, Tablet und vor dem PC in den sozialen Medien verbringen, ist beträchtlich. Welchen Einfluss haben sie auf die „Konstitution der Subjektivität“?3 In unserem Zusammenhang lautet die Frage, welche Erfahrungen die Menschen mit ihren Minicomputern in den Netzen machen. Vermutlich bleiben sie nicht folgenlos für ihre kognitive und emotionale Verfassung, aber wie lassen sie sich genauer beschreiben?
Der Philosoph Michel Serres (1930-2019) hat eine „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ verfasst.4 Dieser 1930 geborene Mann, mit einem „Europa in Ruinen“5 groß geworden, fragt in seiner 2012 verfassten „Liebeserklärung“: „Welche Literatur, welche Geschichte und Geschichtsschreibung werden die vom Glück Verwöhnten verstehen können – ohne das karge Landleben, die Haustiere, die Sommerernte, kriegerische Konflikte, Friedhöfe, Verwundete, Hungernde, das Vaterland, Blutfahnen, Kriegerdenkmäler etc. gekannt zu haben? Ohne jemals im Leid die Lebensnotwendigkeit einer Moral erfahren zu haben?“
Auf welche Entwicklungsmöglichkeiten in der Netzwerkgesellschaft traf also die junge Generation der Bürgerinnen und Bürger des Jahres 2012ff? Wie entwickelt sich der Möglichkeitssinn der Menschen, die nicht unter Hunger, Kälte und Krieg zu leiden haben? Michel Serres schreibt:
„Die Kinder haben sich (…) im Virtuellen eingerichtet. Wie die Kognitionswissenschaften zeigen, aktivieren die Nutzer des Internets, das Lesen und Schreiben von Nachrichten mit dem Daumen, der Besuch von Wikipedia und Facebook nicht die gleichen Neuronen und Hirnregionen wie der Gebrauch von Büchern, Tafeln, Heften. Sie erkennen, verarbeiten, synthetisieren anders als wir, ihre Vorgänger. Sie haben nicht mehr den gleichen Kopf. (…) Mit einem anderen Kopf ausgestattet, erkennen sie anders, als ihre Eltern es noch taten. Sie schreiben anders. Nachdem ich voller Bewunderung gesehen habe, wie sie, schneller als ich mit meinen steifen Fingern es je vermöchte, mit ihren beiden Daumen SMS verschicken, habe ich sie mit der größten Zuneigung, die ein Großvater zum Ausdruck bringen kann, auf die Namen Däumelinchen und Kleiner Däumling getauft.“
„Däumelinchen klappt ihr Notebook auf. (…) was sie da vor Augen hat, ist nichts anderes als ihr Kopf. Wohlgefüllt kraft seiner unerschöpflichen Informationsbestände, auch wohlbeschaffen, weil sich durch Suchmaschien in ihm Texte und Bilder nach Lust und Laune aufrufen lassen und, besser noch, die unterschiedlichsten Programme in der Lage sind, schneller als sie selbst es je vermöchte, zahllose Daten zu verarbeiten. (…) Unser intelligenter Kopf ist aus unserem knochenbewehrten neuronalen Kopf herausgetreten.“6
Serres scheint die Entstehung kleiner Einpersonenkraftwerke des Wissens vor Augen zu haben. Also eine Art Leitbild einer potenzierten programmgestützten Urteilskraft, die Autonomie gewährt. Wir werden gleich sehen, dass es ist die Vorstellung einer Fortsetzung des Autonomiemodells „Bürger 3.0+“ ist. Diese Menschen gehen intelligent und souverän mit dem Netzwissen um.
„… wie eine Bankrotterklärung …“
Der Soziologe Dirk Baecker wählt andere Ausschnitte der Gegenwart als Serres. Seine Beobachtungen gelten der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, in der die elektronischen Medien bestimmend geworden sind. So gesehen befinden wir uns auf Stufe 4 der evolutionären Medienentwicklung. Diese Zählweise stammt von dem Medientheoretiker Marshall McLuhan (1911-1980) und unsere Gegenwart ist die vierte Medienepoche der menschlichen Gesellschaft, die auf die Epochen der Mündlichkeit, der Schriftlichkeit und des Buchdrucks folgte. Nach dieser Theorie werden mit jedem Auftreten neuer dominant werdender Verbreitungsmedien der Maßstab, das Tempo und das Schema der Situation des Menschen verändert.
Wir fokussieren uns auf die Jetztzeit und auf das Modell des Bürgers, für den der Buchdruck und die elektronischen Medien zu den bestimmenden geworden sind; also auf die Modelle „Bürger 3.0“ und „Bürger 4.0“. Um es sogleich zu sagen: Dem Bürger 3.0 erscheint der Bürger 4.0 im Verhältnis zur Selbstbeherrschung und zur Urteilskraft früherer Zeiten „wie eine Bankrotterklärung.“ Baecker trifft damit einen wesentlichen Punkt.
Der Bürger 3.0 entspricht der Charakterisierung des Bürgers von Serres, nur dass er über den Computer verfügt und Zugang zum Wissen der Welt hat. Also ein Bürger 3.0+. Baecker nimmt hingegen Gegenwart, die durch die elektronischen Medien bestimmt ist, in den Blick und kreiert dazu das Rollenmodel „Bürger 4.0“. Es ist die Rolle des „erregten Bürgers“.
„Er erregt sich, um teilzunehmen, und er erregt sich, um abzuschalten. Erregung ist die Form, die eine Reaktion ermöglicht, ohne verstanden, geschweige denn durchdrungen zu haben, worauf man sich einlässt. An die Stelle von Selbstbeherrschung und Urteilskraft, das heißt von Reflexion und Sachkenntnis, tritt eine Bestandsaufnahme von Nachbarschaften, die die Frage zu beantworten erlaubt, mit wem man etwas zu tun haben möchte.“7
Möglichkeiten und Zumutungen eines modernen Individuums
Der Soziologe spricht präzise über die Möglichkeiten und Zumutungen eines modernen Individuums. Er zeigt im Anschluss an Hegels Rechtsphilosophie, dass der Bürger ein Individuum ist, „das seine Selbständigkeit im Verhältnis zu einer Familie und einem Staat erwirbt und behauptet und in der Gesellschaft (…) aus Eigennutz seine Interessen verfolgt.“ Allerdings sagt er:
„Der Naturzustand seiner Familie ist in allen Fragen der Geschlechts-, Alters-, Vermögens- und Kompetenzstruktur der Gegenstand einer nicht enden wollenden Interpretation und Diskussion. Das Gesetz des Staates verliert und verdichtet sich in nationalen und internationalen Konstellationen. Die Selbständigkeit des Individuums reicht nur noch bis zur Darstellung eines Profils im Netz.“
Die Individualität erweist sich also nicht nur in dem Lebensgefühl, individuell und jemand Besonderes zu sein, sondern es geht darum, den Schritt zum Bürger zu schaffen. „Bürger ist, wer jederzeit bereit ist, Individualität, Familie und Staat gegeneinander auszuspielen und dennoch ihren Bezug aufeinander nicht aufzugeben.“ Dies erinnert uns weniger an das Chillen auf der Terrasse nach getaner Arbeit und sonstigen Freizeitvergnügungen, sondern: „Bürger ist, wer seine Urteilskraft nicht nur in der Schwebe halten kann, sondern sie in nahezu jedem Moment in ein Erleben und eine Handlung übersetzen kann, die die Verhältnisse ändert.“8 Diese Vorstellung ist weniger komfortabel.
Wie steht es also um die Chancen einer deliberativen Demokratie? Baecker schreibt, dass der Bürger 4.0 die Perspektiven einer „partizipativen Governance“ hat. Er muss dazu befähigt werden, „Verbindungen in Netzwerken zwischen Themen, Organisationen, Entscheidungen und Bewertungen herzustellen und zu beurteilen. Die Erregung wäre dann nur eine erste Stufe im Umgang mit Komplexität. Ihr folgt in Bürgerräten und ähnlichen Formaten eine zweite Stufe, auf der es darum geht, die Einheit der Differenz von Selbständigkeit / Individualität, Naturzustand / Familie und Gesetz / Staat neu zu konkretisieren.“9 Auf dieser zweiten Stufe wird partizipative Governance, was die Wertekompetenz betrifft, sehr voraussetzungsreich.
Vermächtniswerte, Wertekompetenz
Die Reflexionen Baeckers sind funktional bestimmt. Dies hat den Vorteil, dass die Gegenwart mit ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Handelns zum Vorschein tritt. Allerdings wird die Frage nach der Konstitution der Subjekte ausgeklammert. Was bedeutet also der mediale Entwicklungsschub, den die Epoche der elektronischen Medien darstellt, für die Chancen der Bürgerinnen und Bürger, autonom zu entscheiden und die Handlungsfähigkeit zu erhalten?
Der Philosoph Christopf Hubig spricht in diesem Zusammenhang von Vermächtniswerten. Sie meinen den Erhalt derjenigen sozialen Strukturen, die für die Herausbildung der Wertekompetenz unabdingbar sind. Es geht hierbei um die Gewährleistung von gesellschaftlichen Strukturen wie beispielsweise Erziehung, Bildung, Naturerfahrung u.v.a. mehr. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass Subjekte lernen, sich in ein zustimmendes oder auch ggfs. ablehnendes Verhältnis zu diesen Strukturen zu setzen. Kurz: zu werten lernen. Dazu gehört, dass z.B. Erziehung und Bildung eine hinreichende Stabilität aufweisen müssen. Dies ist nicht selbstverständlich, wie uns das Beispiel des tiefen Lesens zeigte. Das, was Hubig „Vermächtnis“ nennt, „das Minimum kultureller Schemata“ ist in diesem Fall bedroht. Ihre Auflösung führt zu jener disembeddedness (zu deutsch „Entbettung“), die Anthony Giddens als postmodernes Phänomen beklagt hat und die in hohem Maße technikinduziert ist.10
In anthropologischer Perspektive gehört zu der Wertekompetenz, dass der Mensch ein animal symbolicum ist, das sich in einem Reich selbstgeschaffener Zeichen einrichtet und seine Orientierung aus der (Be-)Deutung dieser Zeichen empfängt.11 Er ist ein homo interpres, der Zeichen liest und deutet. Dies aber setzt eine langwierige, mühselige und konzentrierte Arbeit der sprachlichen Welterschließung voraus. Werden die Sinne des Menschen, um an eine Formulierung in den ökonomisch-philosophischen Schriften von Karl Marx anzuknüpfen, abermals aufgespalten? Marx hatte 1844 noch von der Aufspaltung des Menschen in seine Bestandteile auf das „Säen, Gehen, Hören, Denken, Fischen, Jagen oder Lesen“ gesprochen. Das erscheint heute naiv. Aber besteht die Gefahr, dass hier eine weitere Aufspaltung stattfindet und die Kompetenzen des Zeichenlesens und -deutens nachlassen?
Teil 2, „Eine Sucht namens Soziale Medien“, erscheint am Sonntag, 21. 01. 2024
1 Vgl. mein Beitrag „Lesen für die Demokratie“, erschienen auf diesem Blogg am 1.11.2023
2 Jürgen Habermas, Drei normative Modelle der Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1996, S.277-292
3 Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns, Band 3 Politik der Ästhetik: Die Romantik, Steidl Verlag Göttingen, herausgegeben von der Hans-Böckler-Stiftung, 2022 (1976/1977), S.163ff
4 Michel Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, edition suhrkamp, Berlin 2019 (2012), S.11
5 Hans Magnus Enzensberger (Hrsg.), Europa in Ruinen, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 1990
6 Serres (2019, 14f, 27f)
7 Dirk Baecker, Bürger 4.0, in: Otto Brenner Stiftung (Hrsg.) Welche Politik wollen wir?, Frankfurt am Main 2022, S. 56-57)
8 Baecker (2022, S.41ff, 55)
9 Baecker (2022, 60)
10 Vgl. Christoph Hubig, Kunst des Möglichen II, transcript Verlag, Bielefeld 2007, S. 142f und Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Suhrkamp Verlag Frankfurt 1995
11 Vgl. Aleida Assmann, Im Dickicht der Zeichen, Suhrkamp Verlag Berlin 2023 (2015)