Wähl was Gescheit’s. Sei kein Idiot

Bild: geralt auf Pixabay

Entscheidungsbedarf kennt jede Gesellschaft. Für die kollektiv verbindlichen Entscheidungen, an die sich alle zu halten haben, sorgt die Politik – im Bestfall demokratische Politik. Der Mensch ist als Zoon Politikon ein dafür begabtes politisches und soziales Wesen. Die Begabung, in staatlicher Gemeinschaft in Absprache mit anderen Möglichkeiten des guten Lebens auszuhandeln, wird von zwei anderen menschlichen (Un)Fähigkeiten bedroht. Diese negativen Potentiale sind der fehlende Sinn fürs Mitmachen und Miteinander und der bisweilen ausgeprägte Sinn für Feindschaften.

Um den bürgerkriegsähnlichen Urzustand der Feindseligkeit zu überwinden, konstruiert Thomas Hobbes 1651 eine politische Vision der Moderne. Seiner staatstheoretischen Schrift mit dem Titel „Leviathan“[1] vorangestellt ist ein Frontispiz mit einer Land und Leute überragenden Herrscherfigur. Als Insignien der Macht trägt sie Krone, Schwert und Bischofsstab. Der sichtbare Oberkörper, Arme und Hände des Riesen bestehen aus unzähligen Menschen. Hobbes Idee ist, die feindseligen Untertanen durch einen Herrscher zu inkorporieren zu einem Staatskörper. Der Blick der Untertanen geht in eine Richtung nach oben zum Kopf des Machthabers.

Im Gegensatz zu dieser (theologisch motivierten) Vorstellung einer Machtbeziehung zwischen einem Hirten und seiner Herde werden – demokratisch gedacht – die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und die Regierenden nicht mehr so angehimmelt, wie in Heinrich Manns ironischem Roman über den obrigkeitshörigen Untertan[2]. Vielmehr schauen Regierende nun selbst auf’s Volk, von dem, so die grundgesetzlich verankerte Kernthese, in der Demokratie alle Staatsgewalt ausgeht. Die Regierenden versprechen, dem Volke zu dienen. Um ihren Ansprüchen und Meinungen gewahr zu werden, ist die Öffentlichkeit und ihre Meinung gefragt und beeinflusst die Politik. Meinungen sind aber nicht einhellig, sondern dissonant in einem „grundsätzlich agonalen Charakter“, wie Jürgen Habermas hervorhebt: „Wer argumentiert, widerspricht. Nur über das Recht, ja die Ermutigung zum reziproken Neinsagen entfaltet sich das epistemische Potential der widerstreitenden Meinungen im Diskurs […]. Darin besteht ja der Witz deliberativer Politik: dass wir in politischen Auseinandersetzungen unsere Überzeugungen verbessern und der richtigen Lösung von Problemen näher kommen.“[3]

Die notwendigen Spielregeln der Demokratie sind im Grundgesetz verbrieft. Zum Gelingen braucht es mehr; denn Demokratie fußt auf Aktivbürgerschaft, also der Bereitschaft aller mitzumachen. In der attischen Demokratie wurden alle Bürger als Idioten (altgriechisch ἰδιώτης – Idiotes) bezeichnet, die sich nicht am politischen Leben beteiligten, sondern nur für ihren eigenen Hausstand wirtschafteten[4] und nicht über ihren Tellerrand hinausschauten (Gruß an Herrn Dr. Theodor Weimer, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Ramschladen AG).

Unentscheidbare Fragen

Das Problem der bundesrepublikanischen Politikverdrossenheit zeigt sich in zwei Ausprägungen. Passive Politikverdrossenheit ist ein Rückzug mit der Konsequenz, dass die Verdrossenen auch zunehmend weniger von der Politik wahrgenommen werden. Wer sich an Politik nicht einmal wählend beteiligt, wird leicht übersehen. Gewalttätiger Verdruss gegen politische Entscheidungen auf Straßen, gegen Menschen oder im Internet wendet sich gegen die demokratischen Spielregeln und ist zu unterscheiden und nicht zu verwechseln mit Meinungsfreiheit.

Auf bruchstücke hat Hans-Jürgen Arlt zur widersprüchlichen Geisteshaltung des Souveräns konstatiert: „Unsere Gesellschaft hält sich die Politik als Magd, beklagt und entrüstet sich aber gleichzeitig darüber, dass diese nicht wie eine Herrin auftritt.“ Wer eine Herrin braucht, wird untertänig. Wenn die Menschen „von denen da oben“ reden und sich damit „unten“ wähnen, verkennen sie ihre demokratische Rolle und Position als Souverän. Denn Souveränität leitet sich vom lateinischen „superanus“ (darüber befindlich) ab. Wenn man das lateinische „super“ (oben) ernst nimmt, gibt es für Souveräne nichts Höheres.

Diese Verkennung der politischen Perspektiven wird gelegentlich lautstark artikuliert: Der Ruf „Wir sind das Volk“ galt ursprünglich der Forderung nach Volkssouveränität demonstrierender Bürger in der DDR. Populistisch angeeignet ist es eine Abgrenzung aller Idioten, die nicht dazugehören wollen gegenüber denen, die nicht dazugehören sollen.

Postskriptum

Es gibt Tatsachenwahrheiten und nicht entscheidbare Fragen. An der Fähigkeit, nicht entscheidbare Fragen ertragen und entscheiden zu können, wird sich unser Schicksal entscheiden!

»Only those questions that are in principle undecidable we can decide.«[5]


[1] Hobbes, Thomas (2011) [1651]: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Berlin: Suhrkamp
[2] Mann, Heinrich (1918). Der Untertan. Leipzig: Kurt Wolff Verlag
[3] Habermas, Jürgen (2021). Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. Leviathan, 49. Jg., Sonderband 37/2021, S. 470-500, S. 478
[4] „Rationale Dummköpfe“ nennt der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen die Spezies des Homo Oeconomicus. (Sen, Amartya [1977] 2020. Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Stuttgart: Reclam)
[5] Foerster H. von (1992). Ethics and Second Order Cybernetics. Cybernetics and Human Knowing 1(1): 9–20.

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Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

2 Kommentare

  1. Die AfD mit ihren bereits erzielten (Hessen, Bayern, EU) und bevorstehenden fulminanten Wahlerfolgen (Landtagswahlen in Ostdeutschland) führt zusammen mit dem “Bündnis Sahra Wagenknecht -Vernunft und Gerechtigkeit” (BSW) und dessen ersten Erfolgen zu einer nennenswerten Verringerung der (von Schulz beklagten) passiven Politikverdrossenheit, da es beiden Parteien nicht nur gelingt, von allen anderen Parteien WählerInnen zu gewinnen, sondern auch Nicht-WählerInnen zum Urnengang zu bewegen.
    Im Sinne von Jürgen Schulz ist dies ein Erfolg des demokratisch-parlamentarischen Parteiensystems. Denn jetzt fällt es den anderen Parteien (von Die Linke bis mindestens zum liberalen Flügel der CDU) schwerer als bisher, BürgerInnen mit ihren Wünschen nach etwas mehr Nationalstaat, etwas weniger Geflüchteten-Zuzug, etwas weniger Pluralismus zu übersehen. Das ist doch im Sinne einer gelebten Aktiv-Bürgerschaft ein demokratischer Fortschritt. Oder doch ein Rückschritt?
    Nach der Frage noch die Anmerkung: Jürgen Schulz klagt zusammen mit Hans-Jürgen Arlt, der Souverän, also die Aktivbürgerschaft, verlange von der Politik, eine unerfüllbare Doppelrolle als Magd und Herrin einzunehmen. Die Politik erscheint als Opfer. Müsste die Politik, gemeint sind wohl die in Parlamenten mehrheitlich vertretenen Parteien, nicht einfach nur offen öffentlich dar- und klarlegen, was sie zu leisten vermag und was NICHT. Und was sie gegebenenfalls jenseits des Urnenganges vom Souverän verlangt. Zum Opfer wird sie doch nur, weil sie sich gegenüber dem Souverän den Anstrich des Allmächtigen verleiht.

    1. Ich war kürzlich im Osten unterwegs. Die Menschen sind immer noch sympathischer, als Wahlergebnisse und Prognosen es vermuten lassen. Vielleicht sollten wir aufhören, das Problem bei den Wählerinnen und Wählern zu suchen – andere haben wir ja nicht – und uns wieder mehr um das Angebot kümmern. M. a. W.: Nicht die Wähler, das Angebot (der Parteien) ist Scheiße.
      Warum?
      Ivan Krastevs und Stephen Holmes „rechnen“ mit der westlichen Politik nach dem Ende des Kalten Kriegs ab: „Das antiwestliche Ethos, das heute in den postkommunistischen Gesellschaften herrscht, kann man unserer Meinung nach viel besser mit dem Mangel an Alternativen erklären als etwa mit der Anziehungskraft einer autoritären Vergangenheit […].“ (»Das Licht, das erlosch« 2019).

      Mit dem „Mangel an Alternativen“ kokettiert ja eine Partei inzwischen sehr erfolgreich. Die entschiedenen Ansichten dieser Partei haben allerdings mit Alternativen nichts zu tun. Das lässt sich schon daran ablesen, dass Alternative als Singular verwendet wird.

      Mein Vorwurf richtet sich gegen die Alternativlosigkeit und die „Verlockung der Eindeutigkeit“.
      Die Angebote der großen Regierungen (E-Mobilität, Energie, Land-Wirtschaft, Militär, Gesundheit, Finanzen etc.) gaukeln den Menschen Entscheidbarkeit vor, obwohl es um Fragen geht, die nicht entscheidbar sind.
      Spätestens in der Corona-Zeit wurde für viele Menschen aus Latenz Immanenz.
      Wenn die Politik entscheidbar wäre, könnten wir uns die Demokratie auch sparen und gleich auf Dezisionismus umstellen.

      P.S.: Zur Politikverdrossenheit gibt es sicher viele Ansichten. Ist diese 85 Jahre alte Ansicht nicht erschreckend aktuell?
      „Ich sprach mit einem deutschen Kaufmann von unserem Gefühl, daß mit der Freiheit etwas Unschätzbares aufgegeben worden sei. Er antwortete: Aber Sie verstehen das ja gar nicht. Vorher mußten wir uns um Wahlen, Parteien und Abstimmungen kümmern. Wir hatten Verpflichtungen. Aber jetzt haben wir nichts von alldem. Jetzt sind wir frei.“ Stephan Rauschenbush, The March of Facism, New Haven 1939, 40.
      Zitiert aus dem hochaktuellen letzten Werk Ernst Cassirers »Vom Mythus des Staates« (2002 [1949], Hamburg: Meiner, S. 376).
      Cassirer erklärt den politischen Totalitarismus mit philosophischen Mitteln. Ingredienzen sind Helden- und Rassenverehrungen und der Einfluss der Philosophie Hegels auf die Entwicklung des modernen politischen Denkens.

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