Was trägt die Demokratie? Till van Rahden vermisst die Horizonte demokratischer Kultur

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In den 1960er Jahren, als christliche Konfession noch ein gesellschaftlich relevantes Identitätsmerkmal war, als die Kirchen noch einigermaßen gefüllt waren, man aber auch bei „Mischehen“ von Katholiken und Protestanten die Nase rümpfte, trieb den Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Bockenförde die Sorge um, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in einem freiheitlichen und säkularen Staat zu sichern sei, der sich ganz bewusst nicht auf die Gemeinschaft im Glauben, die Ordnung der Kirche und geteilte Heilserwartungen stützt. Der freiheitliche Rechtsstaat sieht sich demnach mit dem Paradox konfrontiert, dass er die Zustimmung der Bürger zu seinen Grundprinzipien nicht erzwingen kann, ohne seinen Charakter als freiheitlicher Staat zu verlieren1. Er fasste dieses Dilemma in dem als „Böckenförde-Diktum“ berühmt gewordenen Satz zusammen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Diese Voraussetzungen konnten nicht mehr in der Religion gesucht werden. Denn diese war ja selbst eher Quelle von Spaltung als von gesellschaftlicher Einheit und schon gar nicht das entscheidende freiheitsverbürgende Element. Letzten Endes lag für Böckenförde die Grundlage des Staates sowohl in der rechtlich nicht fassbaren „moralischen Substanz des Einzelnen“ als auch in einer gewissen „Homogenität der Gesellschaft“, die er allerdings nicht in völkischen Kategorien, sondern in denen gemeinsamer geschichtlicher Erfahrungen, in Deutschland vor allem der Verantwortung für die Zeit des Nationalsozialismus und seine Überwindung in der Nachkriegszeit, verstanden haben wollte. Der freiheitliche Rechtsstaat ruht also ebenso wenig wie die Demokratie als Form der Herrschaft in sich selbst, sondern braucht eine kulturelle und soziale Grundlage, die sich immer wieder erneuern muss, um Freiheit und Demokratie zu sichern.

Wie entsteht eine demokratische Haltung?

Heute sind Freiheit und Demokratie anderen Anfeindungen ausgesetzt als in der 1960er Jahren, als die Kirchen noch mit einer gewissen Kraft einen auch politischen Machtanspruch artikulierten. Der Populismus von links und rechts stellt den Rechtsstaat in Frage, Identitätspolitiken sägen ebenfalls von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums an den Grundlagen des Zusammenhalts in der Gesellschaft. Auch die Dynamik der Klimatransformation und nicht zuletzt Digitalisierung und Migration stellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Akzeptanz des freiheitlichen Rechtsstaates vor ganz neue Herausforderungen. Die Demokratie scheint in Gefahr, nicht nur durch äußere Bedrohung und den Reiz des Autoritären, sondern auch weil ihre Verankerung in der Gesellschaft nicht mehr ohne Weiteres als gesichert angenommen werden kann. Ob die Vielzahl von teuren staatlichen Programmen zur Stärkung der Demokratie der letzten Jahre daran allzu viel ändern wird, steht noch dahin.

Till van Rahden, Professor für Deutschland- und Europastudien an der Universität Montreal und Fellow des Frankfurter Forschungskollegs Humanwissenschaften, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Fragen der Grundlagen von Demokratie im vorinstitutionellen Bereich des Alltags, der Lebenswelt und der materiellen Kultur.

In einem schon 2019 erschienenen schmalen Band „Demokratie. Eine gefährdete Lebensform“ geht er der Frage nach, wie eine demokratische Haltung bei den Bürgerinnen und Bürgern entsteht, wie sie gestärkt werden kann, aber auch welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist. In kleinen Fallstudien aus der Geschichte der Bundesrepublik, von der ersten Berufung einer Frau ins Bundesverfassungsgericht über die Debatten über autoritäre und moderne, aufgeklärte Erziehungsstile in den 1950er Jahren, die Kinderladenbewegung der 1960er und 1970er Jahre bis hin zum „Siechtum öffentlicher Räume“ mit verfallender Infrastruktur und der Privatisierung kommunaler Einrichtungen beleuchtet van Rahden Facetten der vielfältigen Anstrengungen, Demokratie im Leben zu verankern und die Menschen nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit ihren Leidenschaften für die Demokratie zu gewinnen, ihre Widersprüche und Grenzen und nicht zuletzt auch den Gefährdungen, denen er die Demokratie durch soziale Ungleichheit, Austerität und neoliberale Privatisierungsstrategien ausgesetzt sieht.

Offenheit, Vielfalt und Gleichheit als Grundlagen

Demokratie wäre in diesem Sinne falsch verstanden, wenn man sie nur als Regierungsform begreift, die sich durch Verfahren legitimiert und nicht als etwas, was die Menschen insgesamt auch in ihrem Alltag und in ihrer Lebensführung betrifft und betreffen muss. Böckenförde, so van Rahden, habe das richtig erkannt, jedoch die falschen Schlüsse daraus gezogen, wenn er individuelle Moral und kulturelle Homogenität als Voraussetzung des freiheitlichen Rechtsstaats postuliert. Van Rahden zitiert in diesem Zusammenhang Hannah Arendt, die nicht Einheit, sondern Vielheit der Handelnden und die Pluralität der Perspektiven als konstitutiv für das Politische bestimmt hat. Für die Demokratie tritt das Moment der Gleichheit des Stimmrechts hinzu, das, wie man weiß, in seiner Substanz ohne ein gewisses Maß von sozialer Gleichheit vielleicht nicht ganz undenkbar, aber doch gefährdet wäre.

Die Grundlage von Demokratie als Lebensform wäre dann gerade nicht die Schicksalsgemeinschaft eines Volkes, sondern Offenheit und Vielfalt, aber auch die Erfahrung von Gleichheit. Wenn sich zwischen dem Gleichheitsversprechen der demokratischen Verfassung und den Erfahrungen im Alltag durch die Auseinanderentwicklung von Lebensstilen, zunehmender sozialer Ungleichheit und die Erosion öffentlicher Räume durch Vernachlässigung oder Privatisierung eine allzu große Kluft auftut, leide auch die Lebensform Demokratie. Van Rahden illustriert diese These mit einer Betrachtung in der Stadt Offenbach, wo man in den 1990er Jahren der Finanznot damit Herr zu werden hoffte, dass man ein nicht mehr sanierungsfähiges Hallenbad kurzerhand an einen Investor verkaufte, der dort unter Erhaltung der denkmalgeschützten Hülle des Bades ein Hotel und Tagungszentrum errichtete. Van Rahden geißelt dies als Sinnbild für eine fehlgeleitete, neoliberale Austeritätspolitik, die es vielleicht schaffe, den Haushalt einer Kommune kurzfristig ein wenig zu entlasten, die aber gleichzeitig, ob bewusst oder nicht, der Demokratie ein Stück weit das Fundament entziehe. Van Rahden zitiert Siegfried Kracauer, der im Besuch eines öffentlichen Schwimmbads geradezu den Inbegriff einer wohltuenden Gleichheitserfahrung sah. In der Badehose spiele es kaum noch eine Rolle, ob jemand Millionär oder armer Schlucker sei.

Foto: Georg Gasch auf wikimedia commons

Wenn man, wie der Rezensent, die besagte Entwicklung noch aus eigener Anschauung kennt, wird man dieses Verdikt vielleicht für ein wenig ungerecht halten. Zum einen könnte man fragen, ob der von van Rahden mit einem Zitat von Siegfried Kracauer aus den frühen 1930er Jahren beschworene Egalitarismus der Badehose auch 1995 noch prägende Bedeutung hatte. Zum anderen waren die Dinge komplexer und keineswegs so von blinder Sparwut geprägt, wie in dieser kleinen Fallstudie dargestellt. Wenn man davon aber einmal absieht, bleibt der sehr wichtige Hinweis darauf, dass eine demokratische Gesellschaft, die es zulässt, dass öffentliche Infrastruktur verrottet, öffentliche Räume dem Kommerz überlassen werden und kommunale Gebäude nicht mehr den Stolz der Bürgerschaft repräsentieren, sondern Sparzwänge und Vernachlässigung, ihre Legitimität aufs Spiel setzt und sich damit selbst gefährdet.

Qualität öffentlicher Räume

Aber haben nicht auch autoritär regierte Staaten Schwimmbäder und, siehe etwa China, eine in vieler Hinsicht besser funktionierende Verkehrsinfrastruktur als in Deutschland, haben sie nicht auch prachtvolle Plätze und repräsentative öffentliche Gebäude? Allein daran wird man das demokratische Moment also nicht festmachen können. Letzten Endes wäre es eine empirisch zu überprüfende Frage, ob und wie weit, die Qualität öffentlicher Räume mit der politischen Haltung der sie belebenden Menschen korrespondiert. Sehr plausibel erscheint es auf jeden Fall, näher zu untersuchen, wie öffentliche Räume und Gebäude gestaltet sein müssen, um die Erfahrung von Vielfalt in Gleichheit zu ermöglichen und diese zu so etwas wie einem identitätssichernden lebensweltlichen Bestand zu machen. Der Forschungsansatz „Soziale Orte“ geht zum Beispiel in eine solche Richtung2.

Ob man wirklich von einer „Lebensform Demokratie“ sprechen kann, bleibt nach Lektüre des insgesamt sehr anregenden Bandes offen. Dazu brauchte es neben „mikrologischen“ Beobachtungen im oft übersehenen Detail historischer Ereignisse doch auch so etwas wie einen theoretischen Rahmen, in dem man deren Belegkraft und Signifikanz beurteilen könnte. Böckenförde mag in den 1960er Jahren das Moment von Gemeinschaft überbewertet haben. Es ist nachvollziehbar, wenn man damit nicht zufrieden ist und andere Referenzpunkte für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sucht. Wie man es dreht und wendet, man wird aber immer wieder auf die Frage zurückgeworfen, dass Pluralität nur dann nicht im Gegensatz zum Zusammenhalt steht, wenn es zugleich einen ausreichenden Vorrat von Gemeinsamkeiten gibt. Was man in den letzten Jahren aus einigen Schwimmbädern in Großstädten hört, wo es teilweise gewalttätige Zusammenstöße zwischen Gruppen gibt, macht zum Beispiel nicht allzu viel Mut, dass der Egalitarismus der Badehose wirklich die zivilisierende Kraft hat, die man sich nach van Rahdens Betrachtungen vielleicht erhofft.

Neu und anders durchdenken

Wo Böckenförde kulturelle Homogenität beschworen hat, beschwört van Rahden Vielfalt und Toleranz, drückt sich aber ein wenig vor der Frage, ob grenzenlose Diversität nicht irgendwann auch zur Gefahr für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Identifikation mit der demokratischen Gesellschaft werden kann, wenn es neben den zentrifugalen, nach außen gerichteten, Kräften nicht auch zentripetale, also nach innen gerichtete, Kräfte in der Gesellschaft gibt. Der von ihm erhobene Ruf nach einem „starken Steuerstaat“, der im Handumdrehen das Siechtum der öffentlichen Plätze beendet, ist dafür auf jeden Fall zu wenig.

Auch gilt es, sich immer der Gefahr bewusst zu sein, dass man stillschweigend das eigene Milieu und seine Erfahrungen zum Maßstab der Dinge macht, in diesem Fall zum Maßstab für eine demokratische Lebensform. Pluralität und Toleranz haben als Werte im ökologisch-sozialliberalen Milieu eine ganz andere Bindungskraft als in traditionellen Milieus, die eher an Gemeinschaftswerten orientiert sind. Die Verabsolutierung von Pluralität führt ebenso in Widersprüche wie ihre Negation. So ganz abzutun scheint das Böckenförde-Diktum auch heute nicht zu sein. Gleichwohl muss das Thema heute neu und wahrscheinlich in vieler Hinsicht anders durchdacht werden als in den 1960er Jahren.

In seinem Buch „Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus“ arbeitet van Rahden anhand der komplexen und windungsreichen Debatten um die Stellung der Juden in der Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, auch und vor allem innerhalb des Judentums selbst, das Modell der liberalen Demokratie heraus als spannungsreiche Einheit von Gleichheit und Pluralität, von Universalität und Partikularität. Er zitiert, ähnlich wie Mark Terkessides im Rahmen des Konzepts der „postmigrantischen Gesellschaft“3, den Begriff „Vielheit“ als Prinzip einer offenen Gesellschaft, die mit der Verschiedenheit und dem Eigensinn von Kulturen und Werten nicht nur zu leben gelernt hat, sondern daraus eine besondere Kraft schöpft. Aber gerade in der von ihm hochinteressant nachgezeichneten Geschichte des Judentums in Deutschland vor den Exzessen des Nationalsozialismus zeigt sich, was auch Böckenförde bewegt hat, dass es immer auch einen starken Bezug auf Gemeinsames braucht, um Gesellschaft als Einheit von Vielheit zu denken.
Im 19. Jahrhundert war die Nation eine Idee mit emanzipatorischem Potential, leistete sie doch genau das, was traditionelle Gesellschaften nicht leisten konnten, nämlich auch in großen territorialen Verbänden mit einer heterogenen Bevölkerung Einheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stiften. Wenn man jedoch im Licht von Globalisierung, zunehmenden Migrationsströmen und der Überforderung von Nationalstaaten über das Nationale hinausdenken muss, ist die Frage unabweisbar, was an die Stelle dieses Einheitsmoments treten könnte. Es war und ist der Nationalstaat, der in Form von Staatsbürgerschaft und Staatsbürgerrechten eine gewisse Gleichheit verbürgt, auf der die Demokratie aufbaut. Noch hat man kein wirkliches Äquivalent gefunden, das gesellschaftlichen Zusammenhalt jenseits der Nation sichern könnte. Die Europäische Union ist ein Versuch in diese Richtung. Aber wir erkennen täglich, wie fragil diese Struktur noch immer ist. In Krisen, so scheint es, fällt man doch sehr schnell auf nationalstaatliche Problemlösungsmechanismen zurück. Die bedrohlichen, regressiven politischen Kräfte des Populismus in allen seinen Spielarten, befeuern diese Tendenz ja gerade mit Macht und ohne Skrupel.

In van Rahdens Konzept der „Vielheit“ vermisst man den Blick auf diesen Zusammenhang ein wenig. Ähnlich wie das Konzept der „postmigrantischen Gesellschaft“ überschätzt vielleicht auch dieser grundsympathische Ansatz die Bindungskraft der Idee einer offenen und pluralen Gesellschaft. Wenn man alles dem Spiel der Differenz überlässt, begibt man sich auf sehr dünnes Eis, wie man gerade in diesen Tagen sehen kann. Stoff genug für weiteres Nachdenken über die Daseinsbedingungen der liberalen Demokratie.

Schönheit und affektive Bindung

Soeben erschienen ist ein von van Rahden zusammen mit Johannes Völz, Amerikanistik-Professor an der Goethe-Universität Frankfurt, herausgegebener Band „Horizonte der Demokratie. Offene Lebensformen nach Walt Whitman“. Es ist der erste in einer geplanten Reihe von Publikationen eines Schwerpunktthemas des „Forschungskollegs Humanwissenschaften“, das die Goethe-Universität in Bad Homburg eingerichtet hat. Walt Whitman ist ein in Deutschland wenig bekannter, in den USA aber geradezu ikonischer Dichter und Essayist, der im 19.Jahrhundert gelebt hat. Unter dem Eindruck des beendeten amerikanischen Bürgerkrieges schrieb er Gedichte und Essays, in denen er das Leben in Freiheit und Demokratie in eindrucksvollen Bildern feierte. Der Gedanke, dass die Demokratie mehr ist als nur eine Regierungsform, lässt sich schon hier in einer durchaus starken Form finden. Demokratie ist, folgt man Whitman, auch und nicht zuletzt ein Lebensgefühl, für das er in Kunst und Literatur nach geeigneten Ausdrucksformen suchte, eine demokratische Ästhetik gewissermaßen, die eine Verbindung von Kopf und Herz der Menschen herstellen kann. Der ebenfalls recht schmale Band von van Rahden und Völz widmet sich dem Leben und dem Werk Whitmans selbst, aber auch seiner Rezeption in der amerikanischen Gegenwartsphilosophie, in Europa, im kommunistischen China und im postkolonialen Afrika. Das Buch gliedert sich in vier „Dialoge“, Beiträgen zu verschiedenen Aspekten des Werks Whitmans, denen jeweils ein Koreferat als Replik angefügt ist. Auch Michael Walzer, Vordenker des amerikanischen Kommunitarismus und eines neuen, ganzheitlichen Verständnisses von Demokratie findet sich mit einem lesenswerten Beitrag darin.

Porträt Walt Whitman (J. W. Rochlitz auf wikimedia commons)

Interessant ist Whitman für die aktuelle Diskussion um Demokratie wohl vor allem, weil er früh gespürt hat, dass es wichtig ist, die Gedanken von Freiheit und Gleichheit nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Zweckverfolgung und Interessen zu betrachten, sondern sie mit den Gedanken von Schönheit und affektiver Bindung zu verbinden. Vielfalt und Pluralität haben demnach eine ästhetische Dimension. Sie können das Leben bereichern. Für einen amerikanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts bemerkenswert ist auf der einen Seite der Respekt, den Whitman allen Menschen unabhängig von Rasse und sozialem Stand gleichermaßen zukommen lässt, auf der anderen Seite die Offenheit für eine Vielfalt von Lebensformen, auch für Homosexualität, Prostitution und andere Formen des Außenseitertums, was damals sicher sehr mutig war und durchaus auch provoziert hat. Dabei gibt es allerdings auch Positionen Whitmans, die aus heutiger Sicht kaum zu akzeptieren sind. Er war, wie Andreas Fahrmeir in der Replik auf einen Beitrag von Heike Schäfer berichtet, zwar glühender Gegner der Sklaverei, wollte aber den Schwarzen nicht das volle Wahlrecht einräumen, weil er sie intellektuell nicht dazu in der Lage sah, gleichberechtigt an demokratischen Erscheinungen mitzuwirken. Er war in dieser Hinsicht möglicherweise allzu sehr Kind seiner Zeit.

Dieser Bruch zum sonst überschwänglichen Bekenntnis zu Vielfalt und Freiheit könnte aber durchaus auch als Hinweis gelesen werden, dass es bei der These einer demokratischen Lebensform auch einige Fallstricke geben kann. Man kann den Widersprüchen und Paradoxien nicht so einfach entkommen, in die sich eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft mit einer gewissen Notwendigkeit verstrickt. Wenn Pluralität zum zentralen Wert wird, dürfte eigentlich auch die Skepsis gegen eine allzu große Diversität von Lebensentwürfen, die Skepsis gegenüber Immigration und die Präferenz für traditionelle Werte und Lebensformen nicht aus dem Kanon demokratischer Haltungen ausgegrenzt werden. Eine pluralistische Gesellschaft müsste auch die Kritiker der Pluralität aushalten. Nur – bis wohin geht diese Toleranz, wo verlässt man die „Lebensform Demokratie“? Wie eng oder wie weit sind die „Horizonte der Demokratie“? Demokratie muss stark sein und lässt sich gleichwohl nicht verordnen. An diesem Paradox wird man weiterarbeiten müssen. Man kann gespannt sein, auf die nächsten Explorationen der Horizonte der Demokratie aus dem Frankfurt/Bad Homburger Forschungskolleg.

  • Till van Rahden: Demokratie. Eine gefährdete Lebensform. Frankfurt/M.: Campus, 2019, ISBN 978-3-593-44280-8, 196 Seiten, 24,95 Euro
  • Till van Rahden: Vielheit. Jüdische Geschichte und die Ambivalenzen des Universalismus. Hamburg: Hamburger Edition, 2022, ISBN 978-3-86854-358-2, 224 Seiten, 30,00 Euro
  • Till van Rahden & Johannes Völz (Hrsg.): Horizonte der Demokratie. Offene Lebensformen nach Walt Whitman, Bielefeld: transcript, 2024, ISBN 978-3-8376-6273-3, 170 Seiten, 19,90 Euro

1  Mangold, Anna Katharina: Das Böckenförde-Diktum, VerfBlog, 2019/5/09, https://verfassungsblog.de/das-boeckenfoerde-diktum/, DOI: 10.17176/20190517-144003-0.

2  Siehe Schulze-Böing, Matthias: Sozialer Raum, soziale Orte, sozialer Zusammenhalt, in: Nachrichten des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV), 5/2024, S. 208-212

3  Terkessides, Mark: Komplexität und Vielheit, in: Marc Hill, Erol Yildiz (Hg.): Postmigrantische Perspektiven. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen, Bielefeld 2018: Transcript, S. 72-80

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

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