Misstrauen, massenmedial potenziert

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Die Digitalisierung der Gesellschaft übersteigt ihr politisches Verständnis. Sie berührt auch die vorpolitischen Vorausetzungen, unter welchen Bürger:innen ihre Urteils- und Handlungsfähigkeit herausbilden und entwickeln. Über Vorteile und Risiken der Digitalisierung lässt sich reden, wenn die Folgen abschätzbar sind. Dazu gehört, dass die Bürger:innen einen wichtigen Teil ihrer Unabhängigkeit verlieren könnten. Streifzüge durch Bilder und Mythen begeben sich in einer losen, vielteiligen Bruchstücke-Serie auf lebensweltliche Spuren der Digitalisierung.
Ein Anfang lässt sich mit Beobachtungen zur Coronapandemie machen.

Nachdem die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) nach den Regionalwahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Stimmen vieler Wähler:innen gewinnen konnte, stellt sich in der politischen Öffentlichkeit die Frage, ob ihr dies bei der nächsten Bundestagswahl auch gelingen könnte. Und auch die demokratischen Parteien, die bei diesen Wahlen Stimmen an die AfD verloren haben, werden sich in den nächsten Wochen und Monaten intensiv damit beschäftigen, mit welchen politischen Strategien sie Wähler:innen zurückgewinnen können. Davon ist auszugehen. Wir werden sehen, was ihnen dazu einfallen wird.

Die Antworten der Politik zu diesem Thema könnten davon profitieren, genauer zu wissen, was die AfD für ihre Wähler:innen gegenwärtig so attraktiv macht.1 Wollen sie, dass diese Partei das Grundgesetz zerstört und eine undemokratische Verfassung etabliert? Oder wählen sie taktisch und halten sie Wahlen für Gelegenheiten, um den demokratischen Parteien „Denkzettel“ zu verpassen?
Möglicherweise fühlen sich die AfD wählenden Bürger:innen auf unbestimmte Weise zu kurz gekommen oder sie meinen, Ansprüche artikulieren zu können, die ihnen „die herrschenden Eliten“ nicht gewähren. Vielleicht besitzen sie auch ein bestimmtes „Weltbild“, das sie misstrauisch gegenüber der demokratisch-repräsentativen Politik macht.

Beispiel Mailänder Pest

Um dem nachzugehen, ist es wichtig zu wissen, wie diese Wähler:innen an Informationen kommen und wie sie diese zu Wissen verarbeiten: mittels der meinungsbildenden Medien und der sogenannten „Social Media“. Sie sind gewiss nicht allein für den Stimmungszuwachs der AfD verantwortlich, aber wofür sind sie es? Es geht um das „Wie“ der Beeinflussung der politischen Urteilskraft und Gefühle derjenigen, die sie täglich nutzen.

Ein Anfang lässt sich mit Beobachtungen zur Coronapandemie machen. Die Pandemie verletzte die anerkannten kulturellen Normen der Autonomie und Flexibilität der Bürger:innen. Der Lockdown zwang sie dazu, ihr gewohntes Leben plötzlich zu unterbrechen und innezuhalten. Für viele bedeutete dies auch, dass sie sich solidarisch verhielten und sich ihrer Verletzlichkeit und Limitierung bewusst wurden. Das Verhalten einer großen Minderheit der Bevölkerung wies während der Corona-Krise ähnliche Mechanismen auf, wie wir sie aus Studien zur Seuchengeschichte kennen.

Alessandro Manzoni hat sie 1827 in seinem Roman „Die Verlobten“ beschrieben. Er führt uns am Beispiel der Geschichte der Mailänder Pest um 1630 vor, wie kollektiv wahnhaft und paranoid die Bürger:innen mit existentieller Bedrohung und Hilflosigkeit umgehen; sie wirkten unerträglich, weil es niemanden gab, der angeklagt werden konnte. Misstrauen wurde epidemisch und Schuldige mussten gefunden werden.

Ähnliches war auch in der Coronapandemie zu beobachten: Sündenböcke auszumachen, das Risiken herunterzuspielen oder zu leugnen, verbunden mit Empörung gegen jene, die schlechte Nachrichten überbrachten, gehörten zum Verhaltensrepertoire dieser Bevölkerungskreise. Das Gefühl der Ohnmacht angesichts eines unsichtbaren Virus, das andere zur Bedrohung werden ließ und den Alltag einschränkte, ging bei diesen Menschen rasch über in generelles oder „entgrenztes“ Misstrauen.2 Sie imaginierten den Staat als „Coronadiktatur“ und äußerten paranoide Befürchtungen gegenüber Medizin, Medien und Wissenschaft. Bei Teilen der „Corona-Proteste“ waren fließende Übergänge zu extremen Ideologien erkennbar.

Alle Informationen über die Pandemie erreichten die Bürger:innen medial. Die Social Media hatten eine besondere Rolle: sie trugen zur ausgeprägten Ventilierung und Entgrenzung von Misstrauen bei und beeinflussten die öffentliche Diskussion und die politischen Diskurse. Von wissenschaftlichen Analysen wissen wir, dass dort Simulation und Täuschung häufige Praktiken sind. Die Verbreitung von Fake News oder Nachrichten, die immer neu mit möglichst großem Erregungspotential aufbereitet wurden, verstärkten das Misstrauen in diesen Bevölkerungsteilen. Insofern sind die „Misstrauenspotenziale der Gegenwartskultur“ gewachsen. Eine Krise wie die Coronapandemie befördert „affektive Erhitzungen“ und einen neuen Autoritarismus.

Angst transformiert sich in Aggression

Wie ist „entgrenztes“ Misstrauen zu interpretieren? Bürger:innen mit einer entwickelten politischen Urteilskraft kennzeichnet ein Vertrauen in die demokratischen Institutionen und Medien. Dies ist möglich, weil sie die eigene Verletzlichkeit bis zu einem gewissen Grad ertragen. Aber ihr Vertrauen ist nicht blind, sondern korrespondiert mit einem begründeten Misstrauen. Dieses merkwürdige Tandem ist grundlegend für die Demokratie: über Checks and Balances wird Misstrauen institutionalisiert, um Macht zu begrenzen und um Vertrauen zu ermöglichen.

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hatte vom „doppelten Misstrauen“ gesprochen. Dem begründeten, das Bürger:innen benötigen, um mit unvermeidlichen „Gefahren und Gefährdungen“ einer Gesellschaft zurecht zu kommen, die sich stetig verändert; und dem entgrenzten, das mit dem Unwillen zusammenhängt, kulturell geforderte Einschränkungen hinzunehmen. Wer die Außenwelt als besonders bedrohlich erlebt, dessen gewöhnliche Angst nimmt zu, und Angst transformiert sich in Aggression.

Was passiert, wenn Vertrauen und kontrolliertes Misstrauen durch generalisiertes Misstrauen ersetzt wird? Diese Art Misstrauen übernimmt defensiv vergleichbare Funktionen wie sonst Vertrauen: wenn nämlich die Welt immerhin zuverlässig als betrügerisch erscheint.

Ausblick

… ich möchte die Überlegungen zu den „Corona-Demonstrant:innen“ alsbald zu einer besonderen Gruppe fortführen, und zwar den „Querdenker:innen“, die ihr generalisiertes Misstrauen auf Dauer gestellt haben.

… darauf sollen einige Überlegungen folgen, die die innere Logik der Meinungsbildung dieser Gruppen verdeutlichen.

… in beiden Fällen werden die Zusammenhänge zwischen der von Misstrauen getragenen ideologischen Vergemeinschaftung und individuellen psychischen Verarbeitung von Krisen mit der medialen Form in den Vordergrund gerückt.


1 Siehe z. B. Potsdamer Allerlei 2

 2 Vera King, Katharina Busch, Mardeni Simoni und Ferdinand Sutterlüty, Triumph des Mißtrauens. Normalisierte Spaltungen in der Coronakrise, in: Psyche – Z Psychosozial 77, 2023, S. 1049 – 1073.

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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