Social Media uniformiert und polarisiert

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Zu Anfang eine ungeheure Chance: „Wie niemals zuvor verfügt die Menschheit heute über vielversprechende Methoden, weitverstreute Quellen des Wissens und der Kreativität in einem Strom zusammenzuführen, dessen Produktivität erstaunlich ist.“1 Der Wert dieser Methoden hängt allerdings davon ab, wie die Bürger:innen sie verwenden. Damit beginnen die Probleme. Denn der ungeheuren Chance steht eine ungeheure Einschränkung gegenüber: das Internet und die Social Media sind ein Nährboden für Polarisierung und Extremismus. Sie führen Gleichgesinnte zusammen und machen es ihnen leicht, missliebigen Ansichten auszuweichen. Dies ist problematisch für eine demokratische Alltagskultur.2

Psychologen sprechen von „Gruppenpolarisierung“, um auszudrücken, dass Menschen, die in Gruppen miteinander gesprochen haben, danach zu extremeren Ansichten neigen. In den Social Media hat es zur Folge, dass gleichgesinnte Menschen, die in Gruppen miteinander diskutieren, nach der Diskussion meist in verschärfter Form das Gleiche denken. In den Gruppen entsteht ein Druck zu einem extremen Standpunkt, der wiederholt erzeugt wird. Er wird verstärkt um die Suggestion, dass viele Leute diesen Standpunkt teilen. So werden diejenigen, die diesen Druck ausgesetzt sind und vielleicht auch noch Vorurteile mitbringen, absehbar dazu gebracht, an diesen Standpunkt zu glauben. Diese Polarisierung trennt die Bürger:innen voneinander und es ist eine Erklärung dafür, dass (nicht nur) in den amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2016 die Unterstützer:innen von Donald Trump und Hillary Clinton in getrennten Universen zu leben schienen.

Was im Großen vor sich geht, zeigte im Kleinen ein Experiment zur politischen Meinungsbildung in Colorado/USA 2005. Es brachte 60 Bürger:innen zusammen und teilte sie in zehn Gruppen zu je sechs Personen auf. Die Mitglieder jeder Gruppe wurden gebeten, drei strittigste Themen zu diskutieren. Damals waren es folgende Fragen: Sollen die Vereinigten Staaten einen internationalen Vertrag zum Kampf gegen die globale Erwärmung unterzeichnen? Sollen gleichgeschlechtlichen Paaren eingetragene Partnerschaften erlaubt werden? Sollen Unternehmen sich der affirmative action anschließen, also Mitgliedern benachteiligter rassischer Gruppen rassisch begründete Vorzüge gewähren?

Gruppendynamik in Aktion

Die Gruppen aus „linken“ und „rechten“ Mitgliedern wurden bewusst in stereotype Lager eingeteilt. Sie wurden gebeten, ihre Meinung einzeln und anonym vor und 15 Minuten nach einer Gruppendiskussion zu äußern. Das Ergebnis des Experiments war eindeutig: in fast jeder Gruppe hatten die Teilnehmenden am Ende extremere Ansichten, nachdem sie miteinander gesprochen hatten. Die Fortschrittlichen befürworteten einen internationalen Vertrag zur globalen Klimakontrolle vor der Diskussion, und sie befürworteten ihn nach der Diskussion noch mehr. Die Konservativen äußerten sich vor der Diskussion neutral, nach der Diskussion lehnten sie den Vertrag vehement ab. Gaben die Fortschrittlichen vor der Diskussion verhaltene Sympathien für die affirmative action zu erkennen, so waren sie nach der Diskussion stark dafür. Die Konservativen hatten in der gleichen Sache nach der Diskussion noch stärkere Vorbehalte als vorher. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften machte die Gruppendiskussion unter den Fortschrittlichen noch beliebter, unter den Konservativen noch viel unbeliebter.

Die Diskussionen vertieften die Kluft zwischen Fortschrittlichen und Konservativen in allen drei Punkten. Verschärfte Polarisierung war das Resultat. Diese Diskussionen unter Gleichgesinnten, und zwar sowohl die Fortschrittlichen als auch die konservative Gruppe, wurde gleichförmiger.

Das Colorado-Experiment läuft online jeden Tag als das Ergebnis der spontanen Wahl von Menschen und smarten Algorithmen weltweit. Im Internet und den Social Media hat das gravierende Folgen. Eine Tendenz zu verstärktem Extremismus und geringerer Meinungsvielfalt ist nicht nur bei Hassgruppen zu erwarten, sondern auch bei anderen Organisationen. Wenn sich Menschen ihre persönlichen Kommunikations-Menüs nach ihren Vorlieben zusammenstellen, nimmt die Fragmentierung in der Gesellschaft zu.

Warum versagen Kommunikationsprozesse in Gruppen und Organisationen? Wir können, Sunstein folgend, kognitive und emotionale Überforderungen der Bürger:innen ausmachen. Zum einen sind viele Menschen nicht in der Lage – vielleicht aber auch nicht willens -, ihre eigene Position, auch wenn sie sie für richtig halten, gegenüber der Mehrheitsmeinung oder der Meinung einer Autoritätsperson geltend zu machen. Sie sagen oft auch nichts, wenn es keinen eigenen Vorteil verspricht. Es gibt aber auch die Furcht vor Sanktionen. Möglicherweise ist der Ausschluss aus der Gruppe noch die geringste.

Miteinander in Gruppen diskutierende Bürger:innen, die sich der Auseinandersetzung mit Gegenargumenten und anderen Perspektiven entziehen können, stehen vor folgenden Problemen:

  • die Gruppen verstärken die Fehler ihrer Mitglieder.
  • die Informationen, die die Mitglieder besitzen, werden in der Gruppe nicht offengelegt und so nicht bekannt.
  • Kaskadeneffekte: Blinde weisen anderen Blinden den Weg.
  • Gruppen neigen zur Polarisierung und kommen so zu extremen Ergebnissen.

Festzuhalten ist: bei politischen Prozessen und Entscheidungen sollte nicht von „vernünftigen Bürger:innen“ ausgegangen werden. Rationale und von „Vernunft“ getragene Entscheidungen sind nicht der wahrscheinliche Fall.

Ausblick

Wir werden alsbald für zwei oder drei Beiträge, von der Nachfrage- zur Angebotsseite wechseln; also von Bürger:innen zu den Sendeanstalten. 
… zum einen wird es um die zweierlei Kritik an den professionellen Standards der „alten Medien“ gehen;
… zum anderen werden wir uns mit den Plattformen beschäftigen, die im Zuge der Digitalisierung entstanden  sind. Ist ihre Dezentralität demokratisch?

Fußnoten

1 Cass Sunstein, Infotopia, Suhrkamp 2009, S. 267f
2 Vgl. Cass Sunstein, Jede Sekunde wächst der Extremismus, FAZ 14.12.2016

 

In der Streifzüge-Serie bisher erschienen:
(1) Misstrauen, massenmedial potenziert;
(2) Protest und Mobilisierung mit dem Smartphone als Nahkörper-Technologie

Im thematischen Kontext der lebensweltlichen Spuren der Digitalisierung wird darüber hinaus
am 17. 11. 2024 der Beitrag „Gefesselt, mit Haut und Haaren einverleibt oder Ohne Abstand kein Anstand“ von Tom Hansmann erscheinen.

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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