Bundeskanzlerin Angela Merkel macht es nach und gibt es vor: Weil sie mit ihrer Warnung vor einem „Linksrutsch“ ihre Stammwählerinnen und -wähler mobilisieren wolle, die von der Kür Armin Laschets eher demotiviert seien, hätten CDU/CSU die Partei Die Linke ins Wahlrennen zurückgeholt, analysiert der Sozial- und Wahlforscher Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. Wie aussagekräftig sind überhaupt die momentanen aufgeregten medial-demoskopischen Aktivitäten?
Mitte Juni prognostizierten Sie in unserem Interview direkt nach der Landtagswahl Sachsen-Anhalt: Vermutlich geht Olaf Scholz in Rente. Nun haben sich zumindest in den Umfragen die Verhältnisse umgedreht: Laschet wird Rentner und Scholz Kanzler. Ist das ein Zwischenergebnis aufgeregter medial-demoskopischer Aktivitäten? Oder ist dieser Stand, jetzt kurz vor der Wahl, stabil?
Kahrs: Ja, die Fähigkeit der Union habe ich überschätzt, sich um ihren Kandidaten über alle innerparteilichen Kämpfe hinweg zu versammeln, um die Macht zu verteidigen. Kanzlerwahlverein – ist das vielleicht doch Vergangenheit? Außerdem unterliefen dem Unions-Kandidaten und seinem Wahlkampf-Team Fehler, die die Umfrage-Spirale abwärts verstärkten, während Scholz nichts falsch machte. Jetzt kommt es darauf an, wie die Union ihre verbliebene Stammwählerschaft zur Stimmabgabe und als Multiplikatoren mobilisieren kann. Aber man sollte die Stabilität der aktuellen Umfragen nicht überbewerten. Und zwar aus mehreren Gründen:
- Weil es die in Ihrer Frage angesprochene mediale Aufmerksamkeitsökonomie gibt.
- Weil es keine Erfahrungswerte für die aktuelle politische Situation gibt.
Wie kann man als Demoskop in dieser Situation Stimmungen in Prognosen modellieren, in der der Wahlausgang in mehrfacher Hinsicht offen ist: Wer wird stärkste Partei? Wie verlaufen Verhandlungen, wenn eine Vielzahl von Koalitions-Optionen möglich ist? Wenn am Wahlabend gar nicht über die Frage entschieden werden wird, wer Kanzler wird? Wie entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler in einer solchen für sie neuen Situation?
Die einen haben schon gewählt, andere entscheiden in letzter Minute
Bei der Landtagswahl Sachsen-Anhalt prognostizierten die Demoskopen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen AfD und CDU. Am Wahlabend lag die CDU 16 Prozent vor der AfD. Kann es solche Überraschungen auch bei einer Bundestagswahl geben?
Kahrs: Überraschungen sind auch bei der Bundestagswahl möglich. Die Umfragen spiegeln ja bestenfalls Stimmungslagen, keine tatsächlich getroffenen Entscheidungen. Die Umfrage-Institute haben auch Schwierigkeiten, ihre mit Erfahrungswerten gefütterten Modelle der hohen Briefwählerquote anzupassen. Einerseits ist schwer zu sagen, wie viele Bürger und Bürgerinnen ihre Kreuze bereits gemacht haben. Andererseits warten immer mehr Wahlberechtigte bis zum Schluss mit ihrer endgültigen Entscheidung, machen sie wiederum abhängig von prognostizierten Wahlausgängen.
In Sachsen-Anhalt hatte das von Demoskopen nahe gelegte Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen AfD und CDU anscheinend auch viele ältere Wählerinnen und Wähler der Linken motiviert, ihr Kreuz bei der Haselhoff-CDU zu machen, damit die Rechtsradikalen nicht durchkommen. Welche Last-Minute-Entscheidungen der scheinbar sehr offene Ausgang der Bundestagswahl auslöst – denken Sie nur, wie erwähnt, an die ungewohnt große Zahl von möglichen Koalitionen – lässt sich schwer vorwegnehmen und gewichten.
Die Medien berichten über den Wahlkampf, vor allem über die Umfragen, die von Demoskopen ständig angefertigt werden. Das ist eine Seite. Die andere Seite: das tatsächliche Ergebnis. Wie schätzen Sie generell das Verhältnis dieser beiden Seiten ein? Klaffen die, verglichen mit früher, grundsätzlich immer weiter auseinander? Kann man inzwischen sagen: Das Bild, das Medien und Demoskopen vor der Wahl zeichnen, hat mit dem Ergebnis danach nur aus Zufall noch miteinander zu tun?
Kahrs: Demoskopie ist schon in der Lage, Stimmungslagen abzubilden. Diese Stimmungslagen werden dann selbst wieder Teil der politischen Realität, oft sogar missverstanden als Prognosen, was sie nicht sind. Politiker, Parteien und Bürgerinnen orientieren sich an ihnen, auf unterschiedliche Weise:
- im Sinne von möglichen Wahlausgängen, die man verhindern will;
- im Sinne von möglichen Siegern, bei denen man am Wahlabend sein möchte,
- oder von scheinbar feststehenden Verlierern, die zu wählen „nichts mehr bringt“.
In einer zunehmend politisch heterogenen und wechselbereiten Gesellschaft fällt es den Demoskopen schwerer, die abgefragten Stimmungen zu bewerten: Wie wahrscheinlich ist es, dass aus diesen Stimmungen tatsächlich Handlungen, Wahlentscheidungen werden? Und es fällt ihnen schwer, die Folgen der eigenen Umfrageergebnisse einzupreisen: also beispielsweise die Dynamik einzupreisen, die entsteht, wenn in den Umfragen jemand auf dem absteigenden oder aufsteigenden Ast sitzt, oder wenn der Tag der Entscheidung immer näher rückt, oder schlicht, wenn neue Akteure auf dem Spielfeld stehen.
Von der Sonne verwöhnt: Olaf Scholz
Ende Juli springt die SPD von 16 auf 23, sogar 25 Prozent, die Union verliert acht Prozent. Gab es seit Ende Juni Ihrer Meinung nach politische Ereignisse und/oder Entscheidungen, die diesen Erdrutsch: Union im Keller, SPD an die Sonne, erklären können?
Kahrs: Wenn der Wahltag näher rückt, beschäftigen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger ernsthaft mit der Tatsache, dass die Zeit von Angela Merkel vorbei sein und das Kanzleramt neu besetzt werden wird. Die Entscheidung, wer „Kanzler kann“ rückt näher und schärft den Blick auf die zur Wahl stehenden Personen. Davon kann grundsätzlich Olaf Scholz profitieren: Er ist derjenige, den man am besten zu kennen glaubt, von dem man weiß, dass er regieren kann.
Vor diesem Hintergrund wirken dann Ereignisse wie Laschet’s Lacher verheerend: zu den Zweifeln, mit denen viele ihm ohnehin bereits begegneten, kommt der Eindruck, dass es ihm an der nötigen Ernsthaftigkeit fehlt. Dann der überstürzte und beschämende Abzug aus Afghanistan: Ganz offenbar gerät die Welt, in der wir halbwegs sicher zu leben glaubten, nicht nur wegen Katastrophen wie Pandemien, Bränden und Fluten durcheinander, sondern zudem in den vermeintlichen Grundfesten der politischen Weltordnung. Insofern scheint die Sonne für Olaf Scholz. Und weil der nur mit der SPD zu haben ist, tritt auch seine Partei aus dem Umfrageschatten.
Neue Situation: kein Amtsbonus für niemand
Hat sich dieses Hoch von Scholz, aber vor allem der SPD für Wahlforscher schon seit längerem angedeutet?
Kahrs: Die Bundestagswahl 2021 stellt die Wählerinnen und Wähler vor eine völlig neue Situation: kein Amtsbonus. Das war seit Merkels Ankündigung klar. Mit ihrer frühen Entscheidung für Olaf Scholz hat die SPD alles auf diese Karte gesetzt: Gewinnen können wir nur etwas, wenn wir jemanden nach vorne stellen, den alle kennen und schätzen.
Bei der Union wird es auf jeden Fall ein neuer sein, und auch Kandidatinnen anderer Parteien werden hinsichtlich ihrer Kanzler-Kompetenz schwer einzuschätzen sein. Obendrein könnte ein schlauer Wahlstratege im Willy-Brandt-Haus erkannt haben, dass bei den letzten Landtagswahlen das Vertrauen in den Amtsinhaber oder die Amtsinhaberin eine große Rolle gespielt hat. Es gab in den Ländern ja seit der letzten Bundestagswahl bei den Amtsinhabern, also den Ministerpräsidenten keinen personellen Wechsel mehr. Ob diese Strategie aufgehen würde, war nicht klar. Aber sie schien von Anfang an auch die einzige Erfolg versprechende. Auch die Parteilinken Saskia Esken und Kevin Kühnert ordneten sich ihr unter, denn für die SPD ging und geht es um das politische Überleben. Aber dass die SPD jetzt in Umfragen vor der Union stehen würde, das war im vergangenen Januar sicherlich nur ein frommer Wunsch, aber keine Tendenz.
Die Linke wieder auf dem Platz
Noch im Juni sahen Sie schwarz für Die Linke, die bei Umfragen meist um sechs Prozent lagen. Sie sagten: Sie sei „in einem Abwärtsstrudel“. Nun titelt die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Linke bereitet sich auf Rot-Grün-Rot vor.“ Die Co-Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow wird zitiert: „Jetzt wird es ernst.“ Retten Olaf Scholz und seine SPD mit ihrem Höhenflug vor allem Die Linke vor dem Absturz?
Kahrs: Ja, aber vor allem die panische Union hat die Linke zurück ins Spiel gebracht. Weil sie mit ihrer Warnung vor einem „Linksrutsch“ ihre Stammwählerinnen und -wähler mobilisieren will, die die Kür von Armin Laschet eher demotiviert und demobilisiert hat. Und tatsächlich versuchen verschiedene Seiten, alte Lagerwahlkämpfe wieder zu beleben.
Ob das dazu führt, dass die Linke in den Umfragen eine Positiv-Tendenz bekommt, bleibt abzuwarten. Kommt es zugespitzt noch zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Laschet/Union und Scholz/SPD, dann kann das für oder gegen die Linke wirken. Die SPD und auch Olaf Scholz hat gelernt, dass es falsch ist, eine Koalition von vorne herein auszuschließen. Er allein kann die Möglichkeit einer Linkskoalition als Drohpotential in den Verhandlungen mit anderen Parteien einsetzen. So signalisiert er heute allen, die an die Möglichkeit einer solchen Koalition glauben oder sie herbeiwünschen: Damit diese Möglichkeit überhaupt aufscheint, müsst ihr mich erstmal (zum Kanzler) wählen. Ja, die Linke steht nicht mehr am Spielfeldrand, sondern ist auf dem Platz, mit allen Chancen und Risiken. Auf die SPD wird Druck ausgeübt, ein Bündnis mit der Linken wegen deren außenpolitischer Positionen auszuschließen. An einem entsprechenden Gegendruck auf die SPD, ein Bündnis mit der FDP wegen deren sozialstaatlicher und steuerpolitischer Positionen auszuschließen, fehlt es – noch.
Eine Kultur des Kompromisses, aber auch Polarisierungen
Jüngst sagte der renommierte britische Wirtschaftshistoriker Harold James in einem Zeitungsinterview, Deutschland sei wegen der Abwesenheit von Polarisierung und seiner Konsenskultur zu beneiden. Das zeige sich auch im Wahlkampf: Letztlich versuchten alle drei Kanzlerkandidaten Angela Merkel nachzuahmen. Polarisierungen wie in Frankreich, England oder gar den USA seien Deutschland fremd. Wie sehr schätzen Sie diese Konsens-Kultur als Wahlforscher und politischer Analyst einer Stiftung, die der Linkspartei nahesteht?
Kahrs: Die vermeintliche „Konsens-Kultur“ hat in unserem politischen System viel mit dem Verhältniswahlrecht zu tun. In Frankreich, England, den USA gibt es das Mehrheitswahlrecht, in dem der Gewinner alles bekommt. Das Verhältniswahlrecht nötigt zur Koalitionsbildung und Koalitionsbildung nötigt zum politischen Kompromiss. Vielleicht sollte eher von einer Kompromiss-Kultur die Rede sein. Kompromisse führen zur Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen. In der Arbeitswelt besitzt eine analoge Bereitschaft zu korporatistischen Lösungen immer noch Prägekraft.
Andererseits sind Polarisierungstendenzen auch in Deutschland nicht zu übersehen: Die beginnen nach 1990 mit der Ausgrenzung von DDR-Biografien und Modellen der Lebensführung aus dem Kosmos der zu berücksichtigenden Interessen. Sie setzen sich fort mit dem weitgehenden Ausschluss von Einkommensarmen und Geringverdienenden aus dem politischen Interessenausgleich und bei der Auswahl der wichtigen Themen, um die sich Politik kümmert. Und seit ein paar Jahren polarisiert die AfD und ein mit ihr wachsendes Misstrauen gegenüber Institutionen auch direkt auf der politischen Bühne. Bereits bei der Regierungsbildung 2017 war erlebbar, wie schnell auch hierzulande parteipolitische Identitätspolitik die politische Kompromiss-Kultur hinter sich lassen kann. Allerdings gilt auch: Über die Suche nach dem Konsens, dem Kompromiss, sollte die Fähigkeit zum demokratischen Konflikt nicht leiden.
Horst Kahrs, Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1956, war von 1995 bis 2011 in verschiedenen Funktionen für die PDS und DIE LINKE tätig. Er arbeitet seit 2012 am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu den Themen Klassen und Sozialstruktur, Demokratie und Wahlen.
Siehe auf bruchstücke auch seine Wahlanalysen
Magdeburger Signal: Mit Laschet lässt sich das Kanzleramt verteidigen
Der Wahlnachtbericht: “Sie kennen mich”