Eine Freundin von mir wollte zu Beginn des Kriegs Kyjiw verlassen und nach Italien fahren. Ein Kollege wollte sie im Auto mitnehmen. Aber dann sagte er ihr, es sei kein Platz für sie im Wagen, weil sie so viele Dinge für ihr kleines Kind mitnehmen müssten. Sie war sehr aufgebracht. Aber inzwischen ist sie froh, weiter hier zu sein, weil ihre Großmutter krank ist und sie ihre Mutter mit der Pflege nicht alleine lassen kann. Und sie lacht über diese Situation, weil solche Momente zeigen, wie andere Menschen sind.
Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew/ Kyjiw. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven.
Das erste Gespräch hat den Titel “Die Sirenen heulen meist nur nachts“, das zweite “Wir beten jetzt alle“, das dritte „Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten„.
Der Krieg dauert jetzt schon einen Monat. Zum Glück sind zu uns noch keine russischen Truppen vorgestoßen. Sie haben weit vor unsere Hauptstadt angehalten. Aber ich kenne Leute in Charkiw. Die Lage ist dort anders. Doch auch sie haben beschlossen zu bleiben, um ihre Stadt zu schützen und ihren Lebenswillen aufrecht zu erhalten. Jeder kann anderen helfen.
Bei uns höre ich weiterhin ab und zu Schüsse in der Umgebung während der Nacht. Manchmal wache ich davon auf. Aber dann schlafe ich weiter. Denn ich muss mich und meinen Kopf erholen. Es ist schwierig, sich jetzt an der Schönheit jeden Tages, am Frühling, am Gesang der Vögel zu erfreuen. Doch das Leben muss weitergehen.
Niemand weiß, wie lange dieser Krieg noch dauern wird und ob und wie oft die russischen Truppen versuchen werden, unsere Stadt anzugreifen und sie zu zerstören. Wir wollen dennoch weiter als Familie hierbleiben. Ich und meine Tochter werden meinen Mann, ihren Vater nicht wie andere alleine zurücklassen. Auch sie will das nicht. Sie fragt nur ab und zu nach ihren Großeltern, die im Norden an der Grenze zu Belarus leben. Wir können im Moment nicht zu ihnen fahren, das wäre zu unsicher. Also telefonieren oder skypen wir regelmäßig mit ihnen.
Im Ministerium für regionale Entwicklung, für das ich arbeite, planen wir bereits den Wiederaufbau unseres Landes. Tausende Häuser und ein Teil der Infrastruktur sind zerstört. Wie groß die Schäden sind, kann noch niemand überblicken, und der Krieg ist ja auch lange noch nicht zuende. Aber jeder wird wieder eine Wohnung und ein Dach über den Kopf bekommen oder eine Entschädigung. Das wird eine gewaltige Aufgabe. Ohne Hilfe der Staatengemeinschaft und internationaler Banken wird es nicht gehen. Wir arbeiten jetzt schon an Projekten dafür und an einer Vision, wie die Ukraine und ihre Städte und Dörfer künftig aussehen werden. Man muss an die Zukunft denken, auch wenn wir noch nicht wissen, wie wir die Probleme in diesem großen Land alle lösen können, wenn die russischen Truppen abgezogen sind. Schritt für Schritt werden wir das für unsere Bürger angehen.
Ich kann verstehen, warum Deutschland und andere Länder im Moment die Öl- und Gasimporte von Russland noch nicht stoppen wollen. Aber für mich zählen die Menschen, die in Mariupol, in Charkiw, in Kyjiw und anderen Städten ausharren, die von Russland gnadenlos ohne Pause bombardiert werden. Einer unserer bekanntesten Poeten sagte heute: „Heute wir, morgen Ihr.“ Das beschreibt genau die Situation. Wenn ein Land so aggressiv gegen ein anderes vorgeht, müssen sich auch die anderen Länder umstellen und sich davon unabhängig machen. Das ist eine globale Frage. Aber jeder kann damit anfangen und sagen: „Ich will kein russisches Gas mehr.“ Ich kenne einen Mann in Deutschland, der das getan hat und nun in einer kalten Wohnung lebt. Auch für die deutsche Industrie wäre es besser, kein Öl und Gas mehr aus Russland zu beziehen, wenn Russland von den Einnahmen Waffen kauft, die sich irgendwann auch gegen sie richten können.
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