„Die Populisten sind nicht vom Himmel gefallen“

Die Europawissenschaftlerin Ulrike Guérot macht die EU, Merkel sowie die Banken- und Flüchtlingskrise für die Politik von Orbán und der polnischen Regierung mitverantwortlich. Nun sei die EU in einer selbstverschuldeten Abwehrschlacht. Guérot lehrt an der Universität Bonn. Ihr Forschungsschwerpunkt: Konzepte für die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses. Ihr Vorschlag, den sie im Interview mit Ludwig Greven erläutert: eine Europäische Republik. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält heute (15. 09. 2021) ihre Rede zur Lage der Union. Das Interview wurde schon vorher unabhängig davon geführt.

Ulrike Guérot (Foto: Heinrich Böll Stiftung, wikimedia commons)

Wenn man den Kritikern von Ungarn und Polen und der EU-Kommission folgt, ist die Lösung der Krise und Spaltung der EU ganz einfach: Orbán, Kaczynski und die übrigen Populisten und Nationalisten müssen weg, notfalls müssen beide Länder ausgeschlossen werden.

Victor Orbán
(Foto: Szabi237, wikimedia commons)

Ulrike Guérot: Ungarn hat uns die Grenzen geöffnet. Bevor Orbán Populist wurde, war er – das dürfen wir ebenfalls nicht vergessen – Vorzeigeeuropäer. Ungarn schaffte die Transformation am schnellsten. Er war zu der Zeit nicht nur enger Freund von Helmut Kohl, sondern auch des ganzen liberalen europäischen Netzwerks einschließlich Soros. 2004 kam Ungarn mit Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU und erhielt das Versprechen, 2008 auch in die Eurozone aufgenommen zu werden. Auf dieses Versprechen hin haben viele Ungarn Kredite in Euro aufgenommen, um sich Häuser zu kaufen. Dann kam die Bankenkrise, unser System drehte durch. Ungarn bekam deshalb nicht den Euro, die ungarische Mittelschicht musste ihre Hypotheken in Forint zurückzahlen. Vielen brach das finanziell das Genick, sie fühlten sich betrogen. Orbán sagte daraufhin 2009 im Europaparlament: „Bis gestern war Europa unsere Zukunft. Ab heute sind wir die Zukunft Europas.“ Das hat damals keiner beachtet, aber ab da kippte es. Die Meinungs- und Medienlandschaft in Ungarn hat sich seitdem extrem verhärtet, Orbán machte Kampagnen gegen Soros, die EU und Migranten. Zuletzt sein Gesetz gegen die LGBT-Community. Das ist alles inakzeptabel, aber es hat eben eine Vorgeschichte.

Was hat bewirkt, dass Orbán in das andere Lager wechselte?

Ulrike Guérot: Das hat viel mit sozioökonomischen Faktoren zu tun, für die die Binnenmarktstrukturen der EU mitverantwortlich sind. Das wird üblichweise nicht miterzählt. Soziale Krisen sind der entscheidende Grund, dass jemand Ressentiments aufbaut. Das gilt auch für die Gelbwesten in Frankreich und Pegida und die AfD in Deutschland; oder auch Syriza in Griechenland oder Cinque Stelle in Italien.

Die EU trägt also Mitverantwortung für das, dessen Folgen sie nun bekämpft?

Ulrike Guérot: Der ungarische Populismus ist ebensowenig vom Himmel gefallen wie der polnische, tschechische, slowakische oder slowenische, der französische oder südeuropäische. Wenn wir den Menschen dort das Gefühl geben, dass sie Zweite-Klasse-Europäer sind, dann baut sich dagegen eine Stimmung auf. Und die kann geleitet werden in Populismus und Antieuropäismus.

Dazu kommt, dass diese Länder nicht nur ärmer und wirtschaftlich immer noch wesentlich schwächer sind als die westeuropäischen. Es wird ihnen – ähnlich wie den Ostdeutschen – auch vorgehalten, dass sie Demokratie erst noch lernen müssten.

Ulrike Guérot: Wir haben ihnen doch nicht die Demokratie gebracht! Das waren die Menschen dort, die Charta 77, Vaclav Havel, Solidarnosc, die Bürgerrechtler in der DDR. Deshalb wehre ich mich vehement dagegen, dass die Osteuropäer alle keine Demokraten und Nationalisten seien.

Wenn man genau hinschaut, ist die EU ja selbst ziemlich undemokratisch. Die Macht haben die Staats- und Regierungschefs, das EU-Parlament hat wenig zu sagen. Ist Populismus eine Gegenwehr dagegen?

Ulrike Guérot: Ja, das sogenannte „Demokratiedefizit“ der EU gerät immer mehr in den Fokus der öffentlichen Debatte, also die bürgerfernen Strukturen der Entscheidungen. Entscheidend sind aber die sozialen und ökonomischen Gründe, also dass Europa nicht mehr wie früher ein Garant für Prosperität ist, sondern zunehmend „etwas kostet“. Von der EU-Erweiterung haben einige profitiert, vor allem im Westen, viele aber haben verloren. Zu den Gewinnern gehören die, die mobil, kosmopolitisch und jung sind; verloren haben die Älteren und die auf dem Land. Mit Ost/West hat das weniger zu tun als mit dem Stadt/Land-Konflikt. In Ostdeutschland gibt es außer Leipzig keine florierende Metropole. In Frankreich ist es, mit Ausnahme von Paris und Lyon, ähnlich. Budapest zum Beispiel ist eine europäische Stadt, und zwar die einzige, wo die Bürger*innen sagen, sie fühlen sich in erster Linie europäisch. Aber das repräsentiert eben nicht Ungarn. Wenn wir über Populismus reden, müssen wir aus dem national-identitären Framing raus und aufhören, von den Ungarn und den Polen zu reden.

Gilt das Gleiche für die Nord/Süd-Spaltung der EU als Folge der Verschuldungs- und Eurokrise? Auch in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal empfinden sich viele als abgehängt.

Ulrike Guérot: In der Tat hat die populistische Frontstellung West/Ost und Nord/Süd – oder: „keine Transferunion“ vs. „Austeritätspolitik – viel mit der Bankenkrise zu tun. Damit fing alles an. Und mit der damals im Bereich der Euro-Governance praktizierten deutschen „Hegemonie“ in Europa. Der einzige Unterschied ist, dass das Ressentiment im europäischen Süden in den linken Populismus gefallen ist und im Osten in den rechten. Walter Benjamin hat gesagt: „Im Faschismus kommt das Volk zu seinem Ausdruck, beileibe nicht zu seinem Recht.“ Das kann man auf den Populismus übertragen. Das Volk fühlt sich geprellt. Im Süden kam und kommt der Widerstand von Tsipras und Varoufakis, von Cinque Stelle und Podemos. Im Osten von Fidesz und der PiS.

Also müsste die EU erstmal Selbstkritik üben, bevor sie Orbán und die PiS-Regierung anklagt?

Ulrike Guérot: Ich bin überzeugt, dass Europa für alle Staaten die Lösung ist, vor allem nach der Pandemie. Was denn sonst? Aber es fällt mir zunehmend schwer, die EU in ihren jetzigen Strukturen zu verteidigen. Verhängnisvoll war vor allem die Rolle von Merkel und Schäuble in der Bankenkrise. Die deutsche Politik war hier mitverantwortlich dafür, dass sich in ganz Europa der Populismus breitgemacht hat. Die deutsche Presse hat mitgemacht. Überall war zu lesen, „wir“ müssten für die griechischen Schulden bezahlen. Dabei war es für die Kredite der Banken. Und auch von den EZB-Aufkaufprogrammen profitieren vor allem Banken und Anleger, nicht aber die (Klein-)Sparer. In der angelsächsischen Presse konnte man damals schon ganz andere Analysen lesen.

Dann kam die Flüchtlingskrise.

Ulrike Guérot: Ja, die kam obendrauf auf die Austeritätsprogramme, die Troika, die Jugendarbeitslosigkeit und die Abwanderung von Jugendlichen, z.B. in Spanien. Marine Le Pen hat zwischen 2012 und 2015 rund 15 Prozentpunkte hinzugewonnen. Und kurz nachdem Merkel an allen europäischen Gremien vorbei entschieden hat, die deutschen Grenzen zu öffnen, gewann die PiS im Oktober 2015 die Wahl in Polen. Im Juni 2016 folgte der Brexit. Das alles ist nicht voneinander zu trennen und auch nicht von der Bankenkrise zuvor. Die Abfolge dieser Ereignisse hat den Populismus befördert. Mit den Flüchtlingen bekam er eine offene Angriffsfläche, genauer: einen Sündenbock. Und Deutschland, das in der Eurokrise nicht das getan hat, was es hätte tun müssen, nämlich Eurobonds einzuführen, wurde vom europäischen Saulus in der Bankenkrise zum europäischen Paulus in der Flüchtlingskrise, vom europäischen Buhmann zum vermeintlichen Musterknaben. Da kippte die Debatte. Inzwischen ist der Populismus in vielen EU-Staaten so dynamisch und mit Blick auf die politischen Systeme tendenziell gefährlich, dass der EU nichts anderes übrigbleibt, als in eine Abwehrreaktion zu gehen. Jetzt heißt es, wir müssen das liberale Projekt und die europäischen Werte gegen die Populisten verteidigen. Aber wenn man auf jemanden zeigt, weisen immer drei Finger zurück.

Auch auf die Demokratiedefizite der EU?

Ulrike Guérot: Mit den jetzigen Entscheidungsstrukturen wird die EU nicht dauerhaft funktionieren können, also ohne eine bessere politische und soziale Bindung der Bürger*innen an Europa. Diese Kritik aber benennt in Deutschland nur die AfD. Und weil sie das macht, trauen sich die liberalen Kräfte nicht, die institutionellen Mängel der EU deutlich zu benennen. Das System steht in Schockstarre vor dem Populismus. Die Antwort ist das europäische Werte-Mantra: wir sind die Guten, wie retten den Rechtsstaat, wir machen Klimaschutz, wir kämpfen gegen Rassismus und für die LGBT-Community. Das ist alles richtig, aber es hat trotzdem eine politische Schlagseite, die u.a. auch übersieht, dass die Populisten nicht unbedingt gegen Europa sind, aber eben gegen die Strukturen der EU.

Ulrike Guérot ist seit 1. September 2021 Professorin für Europapolitik an der Universität Bonn, Publizistin und Autorin zahlreicher Aufsätze und Bücher auf dem Themenfeld, zuletzt 2020 „Nichts wird so bleiben wie es war? Europa nach der Krise“. Von April 2016 bis August 2021 war sie Professorin an der Donau-Universität Krems und leitete dort das Departement Europapolitik und Demokratieforschung (DED). 2014 gründete sie das European Democracy Lab (EuDemLab), einen in Berlin beheimateten Think Tank an der European School of Governance.

Ein neues Framing?

Ulrike Guérot: Diese Polarisierung bar jeder Selbstkritik, geschweige denn einem plausiblen Reformangebot seitens der EU treibt die Spaltung immer weiter voran. Zwischen Oben und Unten, Brüssel und den Bürgern, Nord/Süd, West/Ost, den Liberalen und den Populisten. Es gibt eine große Diskrepanz zwischen offiziellen EU-Diskursen und dem europäischen Empfinden in breiten Teilen der Bevölkerung.

Wird es einen EU-Austritt oder -Ausschluss Polens geben?

Ulrike Guérot: Der PiS-Regierung wird vorgeworfen, die Unabhängigkeit der Gerichte auszuhebeln. Das stimmt natürlich, aber auch hier liegt der Teufel im Detail. Die letzte Regierung von Donald Tusk, der jetzt wieder Ministerpräsident werden will, hatte 2015 kurz vor ihrer Abwahl vier neue Verfassungsrichter berufen und damit eine Art Vorratsbeschluss gemacht. Das würde sich auch in Deutschland keine neue Regierung gefallen lassen. Man muss immer die ganze Geschichte erzählen. Recht und Politik sind nicht zu trennen. Da Parlamente Gesetze machen, nicht Gerichte, auch nicht der EuGH, hat Orbán leider formal recht, wenn er sagt, wir entscheiden in Ungarn, was wir unseren Kindern über LGBT erzählen. Der Rechtsraum der EU und der politische Raum der Nationalstaaten müssten zusammengeführt würden. De facto bedeutete dies eine europäischen Staatlichkeit. Vor zwanzig Jahren, 2003, wurde darüber ja auch im Rahmen der europäischen Verfassung diskutiert. Ansonsten bleibt vieles, was die EU im besten Bemühen durchsetzen will, tendenziell rechtspositivistisch.

Aber es gibt europäische Verträge und einen Werterahmen, den Polen und Ungarn vor ihrem Beitritt unterschrieben haben.

Ulrike Guérot: Wir spannen als EU einen Rechtsrahmen über diese Länder und greifen in deren parlamentarische Entscheidungen ein, ohne dass dieser Rahmen selbst demokratisch geerdet ist durch Repräsentanz und Mitsprache. Das geht nicht.

Wir haben in Deutschland ja auch diesen Konflikt, weil das Bundesverfassungsgericht und der EuGH darum ringen, wer in Europa-Fragen das letzte Wort hat.

Ulrike Guérot: Das ist strukturell das gleiche Tauziehen wie mit der polnischen Regierung. Es geht in der EU immer noch darum zu entscheiden, wer das letzte Wort hat. In den 1990er Jahren wurde im Zuge der Währungsunion durchgesetzt, dass die EZB es hat. Auch da Widerstand, z.B. vom damaligen Bundesbankpräsidenten Tietmeyer. Heute geht es um die Normenhierarchie der Gerichte: wer entscheidet: das Bundesverfassungsgericht oder der EuGH? Grundsätzlich steht die Frage im Raum: wer ist der Souverän in Europa?

Was ist ihre Anwort auf all das?

Ulrike Guérot: Nun, ganz einfach, der Souverän sind weder die EU noch die Nationalstaaten, sondern letztlich die europäischen Bürger*innen in ihrer Gesamtheit. Die könnten eine Europäische Republik gründen. Einen demokratischen, föderalen europäischen Staat, mit einem echten Parlament, Beteiligung der Bürger und Gewaltenteilung. Die EU nimmt dann Steuern ein. Durch Corona gibt es jetzt erstmals ein Rettungspaket, in dem die EU selbst Schulden aufnimmt, mit Zustimmung Deutschlands, das sonst immer dagegen war. Da muss der alte Grundsatz gelten: No taxation without representation. Über eine solche Mittelvergabe kann eigentlich nur ein Staat entscheiden und eine von den Bürgern über das Parlament gewählte Regierung. Das betrifft auch die Frage der Verfassungsgerichtsbarkeit. Über die europäische Staatlichkeit muss endlich diskutiert werden. Auch im deutschen Wahlkampf.

Siehe auf Bruchstücke auch „EU umgekehrt: Was kann der Westen vom Osten lernen?“ und „Der Osten ‚auf dem ewigen Platz zwei‘

Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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