Das erste konservative Gebot: nicht herumdrucksen

CDU-Wahlkampf-Großveranstaltung 1987 (Foto: Arne Schambeck auf wikimedia commons)

Die CDU ringt um eine neue Führung, die Konservativen insgesamt ringen um ein neues Profil. Im Moment ist die Programm-Debatte vor allem vage und es geht kunterbunt durcheinander. Überraschend ist das nicht. Galt doch viele Jahre der Hinweis: Wir regieren besser als die anderen, der reichte aus. Wo liegt die Rettung vor dem Absturz, wo der programmatische Stoff für den Wiederaufstieg? Was könnte der Nukleus einer neuen anziehenden konservativen Botschaft sein?

Hier wenige nicht-repräsentative Einblicke in den CDU-Wirrwarr: Die falschen Leute (Friedrich Merz) fordern das Richtige (Politik der sozialen Gerechtigkeit) und werden damit nicht glaubwürdiger. Helge Braun („Neue CDU. Neue Stärke“), bisher Merkels Kanzleramtschef: „Ich spüre in der Partei eine große Sehnsucht nach inhaltlicher Klarheit.“ Seine Antwort lässt jedoch die so sehr gewünschte Klarheit vermissen: Die CDU wolle als Volkspartei „konservative Themen, soziale Themen, emotionale Wärme, Frauen und Männer, Ost und West abbilden“. Und: Er, Helge Braun, will eine „grundlegende Erneuerung der Köpfe, der Inhalte und der Organisation“. Das wollen alle. Sein einzig konkreter Hinweis: Jede der drei Wurzeln (sozial, liberal, konservativ) der Partei müsse gleichgewichtig sein; das Soziale (Wohnen, Rente, Arbeit) sei in den vielen Jahren jedoch ins Hintertreffen geraten.

Erneuerung, aber wie?

In einem Namensartikel kommt Hendrik Hoppenstedt, bisher Staatsminister im Bundeskanzleramt, zu dem Schluss: Die Rückbesinnung auf einen „vermeintlichen konservativen Markenkern“ könne nicht die Antwort sein. Seine Antwort: ein Sammelsurium aus neuer Führung, sozialer Marktwirtschaft, Wettbewerb, persönlicher Freiheit, christlichen Werten, Europa und was auch immer. Ähnlich vielfältig die Intervention des Freiburger Verleger und CDU-Politikers Manuel Herder. Er fügt noch die Digitalisierung hinzu. Und definiert dann einen Kern, der allerdings für alles und jedes gilt: „Auch die erneuerte CDU muss den Menschen im Lande dienen. Das wird immer Teil ihres Markenkerns sein.“ Interessant. Der programmatische Rat des konservativen Leib- und Magenblattes der Republik, der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, bleibt auch hinreichend allgemein: Sie rät der CDU, sich auf die gesellschaftliche Mitte zu konzentrieren, denn die gäbe es immer noch: „die Familien, die Kinder großziehen, Leistung am Arbeitsplatz und im Ehrenamt erbringen, Steuern und Abgaben zahlen und sich an Recht und Gesetz halten“. Und um diese Mitte, so die Betrachtung der FAZ, gehe es „in der Politik oft nur noch am Rande“. Eine hinreichend kühne Behauptung.

Desaströse Lage

Dagegen ist klar: Die Lage ist desaströs. Friedrich Merz beschreibt sie so: Die CDU sei „in ihrem Charakter als Volkspartei gefährdet“ — die anderen beiden Kandidaten sehen das ähnlich bis gleich — , sie habe „bei keinem Thema mehr die Meinungsführerschaft“ und „in keiner Altersgruppe mehr den höchsten Wähleranteil, nicht einmal bei den über 60jährigen“; hier die Zusatzinformation: Jedes zweite CDU-Mitglied ist älter als 60 Jahre, das ist jedoch nur jeder dritte Wahlberechtigte. Die Verluste bei Frauen und Jungen waren überdurchschnittlich. Beispiel: In Frankfurt erreichte die CDU bei der Bundestagswahl knapp 18 Prozent der Zweitstimmen. Und eine Studie der Konrad Adenauer-Stiftung ergab, das durchschnittliche CDU-Mitglied sei besser gebildet, wohlhabender und politisch weiter rechts als der durchschnittliche CDU-Wähler. Also beste Voraussetzungen dafür, dass bei der momentan laufenden Mitgliederbefragung — wenigstens unter dem Aspekt der Maximierung der Wählerstimmen — der falsche Kandidat das Rennen macht; weil die etwa 400.000 Mitglieder der Partei alles sind, nur nicht repräsentativ für die Bevölkerung.

Übrigens gilt dieser desaströse Zustand nicht nur nicht nur für die CDU: In ganz Europa sind die Christdemokraten auf dem absteigenden Ast. Dem Lager der Europäischen Volkspartei (EVP) gehören inzwischen vor allem Regierungschef von vergleichsweise kleinen Nationen an: Griechenland, Zypern, Österreich, Kroatien, Lettland … ; insgesamt lassen sich nur noch acht Regierungschefs von 27 Regierungen der EVP zurechnen.

Seit dem 4. Dezember läuft die Mitgliederbefragung: Wer wird neuer Vorsitzender der CDU? Das Ergebnis steht am 17. Dezember fest; erhält keiner der drei Männer die absolute Mehrheit, kommt es am 14. Januar zu einer Stichwahl. Offiziell wird auf dem Parteitag am 21. und 22. Januar in Hannover gewählt. Egal wer es sein wird, Friedrich Merz, Helge Braun oder Norbert Röttgen, er wird vermutlich ein Übergangsvorsitzender sein. Bleibt also neben einer seriös-soliden personellen Übergangs-Erneuerung die programmatische Kärrnerarbeit. Wo könnte die neue Botschaft, die anziehende Programmatik einer konservativen Partei liegen?

Zuallererst sollte die CDU nicht verlegen herumdrucksen, wenn sie als konservativ bezeichnet wird.

Erschöpft von Veränderungen?

Denn diese Markierung könnte sich noch als Auszeichnung erweisen, wie die folgende Umfrage zeigt: Horst Kahrs, Wahlforscher der Rosa Luxemburg-Stiftung, hat schon Monate vor der Bundestagswahl auf dieses Moment aufmerksam gemacht: Eine deutliche Mehrheit der Menschen scheue weitere Veränderungen, es sei in der Gesellschaft eine „Veränderungserschöpfung“ zu konstatieren, die einer Art „konservativer Tiefenströmung“ gleichkomme. Seine Einschätzung beruht auf einer Umfrage von Infratest dimap. Das Institut konfrontierte die Befragten mit der Feststellung: „Ich bin in Sorge, dass sich die Art und Weise, wie wir in Deutschland leben, zu stark verändert.“ 60 Prozent aller Befragen stimmten dieser Aussage zu. Extrem hoch mit 88 Prozent ist die Zustimmung unter den Parteianhängern der AfD, auf der anderen Seite lehnten knapp 70 Prozent der Grünen-Wähler die Aussage ab. Jedoch: Linke-, SPD- und CDU-Wählerinnen unterstützten die Aussage jeweils mit knapper Mehrheit (52 Prozent). Die Sorge über „zu starke“ Veränderungen verteilt sich also über das ganze politische Spektrum. Ein erster Schluss könnte deshalb lauten: Diese Stimmung spielt der Union in die Hände und nicht den versammelten Ampel-Parteien, die alle von Fortschritt und Veränderungen reden. Die Bundestagswahl brachte jedoch das genau entgegengesetzte Ergebnis: Die veränderungsbetonenden Ampel-Parteien brachten es zusammen auf immerhin 24 Millionen Zweitstimmen, damit auf deutlich mehr als das konservativ-rechte Lager aus Union, AfD und Freien Wählern.

Nun hat Kahrs jedoch von Anfang an deutlich differenziert: Das sei eine allgemein geäußerte Sorge, die sich auf kein bestimmtes Thema beziehe. Zudem sei diese Umfrage-Mehrheit nicht gegen Veränderungen generell, sondern, da müsse man schon genau lesen, gegen „zu starke“ Veränderungen.

Der schlechte Ruf des Konservativen

Ein weiterer Befund deutet darauf hin, dass der- und diejenige, die gegen zu starke Veränderungen sind, sich trotzdem nicht unbedingt von der Programmatik des Konservativen angesprochen fühlen. So führt Matthias Jung, Forschungsgruppe Wahlen, Anfang November in einem Essay in der Frankfurter Allgemeine Zeitung aus: „Die immer wieder von Teilen der Parteifunktionäre reklamierte stärkere Profilierung zugunsten konservativer Inhalte ist jedoch völlig ungeeignet, die Aussichten von CDU und CSU auf Wahlergebnisse von 40 Prozent plus X zu verbessern. Empirische Befunde zeigen immer wieder eindeutig auf, dass maximal ein Viertel bis ein Drittel aller Wahlberechtigten der Ansicht ist, dass traditionell-konservative Inhalte in den Unionsparteien größeres Gewicht haben sollten.“

So gibt der Befund von Jung den klaren Hinweis: Einfach nur ein größeres Etikett Konservativ aufzukleben, das hilft der CDU und der gesamten Union offensichtlich nicht weiter. Zumal der Hinweis von Jung noch von einer Studie der Konrad Adenauer-Stiftung (KAS) mit dem Titel „Vermessung der Wählerschaft vor der Bundestagswahl 2021“ gestützt wird. Die Studie ergab, dass es für lediglich ein deutliches Drittel (36 Prozent) der befragten Wahlberechtigten wichtig ist, dass eine Partei konservativ ausgerichtet ist und für lediglich 30 Prozent ist es wichtig, dass eine Partei christlich ausgerichtet ist; sogar bei den CDU/CSU-WählerInnen wird dieser Wert der christlichen Orientierung zwar von 50 Prozent als wichtig angesehen, jedoch liegt dieser mit seinen 50 Prozent Zustimmung auf der Bedeutungs-Skala auf dem letzten Platz.

Beide Befunde, der von Matthias Jung und der der KAS, lassen jedoch die große Umfrage-Mehrheit, die sich gegen „zu starke“ Veränderungen wendet und eine Veränderungserschöpfung aufweist, nicht einfach verschwinden. Die ist unverändert da. Sie könnte sogar wachsen. Denn die Ampel-Koalition hat schon deutlich gemacht, dass sie weitere, vor allem kulturell-ethnische Veränderungen betreiben wird: ob in der Digitalisierung, der Geschlechterdebatte und -bestimmung, bei großzügigen Lösungen in der Migrationsfrage, dem Umgang mit Rauschmitteln (Cannabis), der radikalen Gleichbehandlung auch für kleinste kulturelle und sexuelle Minderheiten. Eine Veränderungs-Politik, die auch naheliegend ist: Haben sich doch sicher fast alle, denen neue Arbeits- und Lebensformen, Internationalität, Internationalisierung und latent großstädtische Mentalitäten am Herzen liegen, für eine der drei Ampel-Parteien, vor allem für die Grünen oder die FDP entschieden.

Chancen für die neuen Konservativen

Könnte nicht hier eine Chance für eine moderne säkulare konservative Partei liegen: unter anderem bei der Mäßigung kultureller Veränderungen? Eventuell bei der Konstruktion eines humanen modernen Nationalstaates und der Neugewichtung der eigenen Volkswirtschaft, um die übermäßige, deshalb sehr fragile Abhängigkeit vom Exportgeschäft zu verringern, die das Fundament, auf dem diese Republik steht, stabiler machen würde? Zumindest sind das Themen, um die sich keine der drei Ampel-Parteien kümmern werden; die Interessen von deren Wählerschaften gehen in ganz andere Richtungen. Und mit diesen thematischen Projekten könnte die CDU eventuell die oben skizzierte Veränderungserschöpfung für sich konstruktiv aufgreifen, ohne deshalb als vorgestrig-konservativ denunziert zu werden.

Nur wenige Hinweise dazu: Wolfgang Schäuble, damals noch Bundestagspräsident, hatte vor einigen Monaten vor dem Hintergrund der Pandemie die Folgen dieser falschen, da maßlosen Exportabhängigkeit aufgegriffen: „Die Pandemie zeigt, wie verwundbar Europa durch seine Abhängigkeit von globalen Märkte und Lieferketten auch in lebenswichtigen Bereichen ist“, argumentierte der Christdemokrat in einem Namensartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Es sei sogar „die Beschaffung simpler … Mund-Nasen-Schutzmasken … zur Herausforderung“ geworden, so Schäuble. Seine Konsequenzen: Europa müsse in allen Fragen der Gesundheitspolitik „souveräner“ sein. Und es sei jetzt Gelegenheit, „unser gesamtes Wirtschaftsmodell kritisch zu überprüfen und die Exzesse der Globalisierung da zu korrigieren, wo sie zu den dramatischen Auswirkungen der Pandemie beigetragen haben“. Richtig: Korrekturen in der Gesundheitsökonomie strebt auch die neue Ampel-Regierung an, mehr aber auch nicht. Die Statistik zeigt die eigentliche Brisanz, die weit über die Gesundheitswirtschaft hinausgeht: Jeder vierte Arbeitsplatz hängt am Export, in der Industrie sogar jeder zweite. Weil sie das große Geld nicht im Inland, sondern mit dem Ausland verdient, ist die deutsche Wirtschaft enorm verletzlich, viel mehr als die Ökonomie anderer Länder. An dieses Projekt der Neugewichtung der deutschen Volkswirtschaft könnte sich die Union machen.

Falsche Globalisierung korrigieren

Eine wesentliche wirtschaftliche wie kulturelle Folge dieses Umbaus wäre jedoch: Auf Dauer wären Wirtschaft und Gesellschaft weniger als bisher den Veränderungen, Risiken und Verwerfungen des weltweiten Konkurrenzkampfes, der Taktzahl des Weltmarktes unterworfen; Zwänge, denen sowieso nur Oligopole und Monopole auf Dauer standhalten können, so dass diese Wirtschaftsstruktur permanente Konzentrationsprozesse befördert. Mit dieser Neugewichtung kämen klassische Interessen wieder stärker zur Geltung: die der ländlichen Bevölkerung, die der nicht-exportorientierten Wirtschaft, des Handwerks und des klassischen unternehmerischen Mittelstandes.

Es würde das (konservative) Moment der Stabilität betont: Werden beispielsweise Abhängigkeiten von weltweiten fragilen Liefer- und Produktionsketten reduziert, erhöht sich die Sicherheit des eigenen Wirtschaftskreislaufes. Es käme am Ende also eine etwas andere Wirtschaft heraus, die auf ein breiteres Fundament gestellt wäre, nicht ausgerichtet auf letztlich wenige Branchen mit jeweils wenigen beherrschenden international ausgerichteten Großkonzernen, die wiederum viele tausende, wenn nicht gar zehntausende Zulieferer dominieren, wenn nicht gar domestizieren, und die damit den Takt vorgeben.

Die Nation wiedererfinden: die einzig funktionierende Ordnung

Nun der zweite Hinweis, der programmatisch zu dem ersten passt: Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin, buchstabiert ihn in ihrem Werk „Die Wiedererfindung der Nation“ aus. Sie beklagt, in Zeiten offener Grenzen und des Weltbürgertums sei eine Scheu weithin verbreitet, sich überhaupt mit dem Thema „Nation“ zu beschäftigen; dieses Konstrukt gelte ohne nähere Begründung als überholt. Sie dagegen hält es für vielversprechend, sich der Trennung von nicht-demokratischer (unziviler) und demokratischer (ziviler) Nation, von Nation und Nationalismus zu widmen. Schließlich gebe es ethnisch homogene Nationalstaaten, die Vielfalt und Menschen unterdrückten, also Diktaturen. Genauso gebe es aber auch Nationen mit Verfassungsstaat, Weltoffenheit, Vielfalt, einer friedfertigen Politik und ohne hegemoniale Ansprüche, also liberale Demokratien. Ihr Schluss: Das Konstrukt Nationalstaat sei weder überholt noch von vornherein ein Übergangsphänomen, sondern die auf weitere Sicht einzig funktionierende Ordnung, in der ethnische Vielfalt, Demokratie und Integration friedlich gelebt werden könnten.

So will Assmann vor diesem Hintergrund auch das Verhältnis von Nationalstaat und EU neu austarieren. Sie sieht die Rolle der EU geradezu als „Schutzschirm des Nationalstaats“. Ihr Modell: Die EU bleibt „ein Verbund ziviler Nationen“, mehr nicht; die Nationalstaaten blieben erhalten, würden nicht überwunden. Und für die EU bliebe als eine wichtige Aufgabe, diese zivilen Nationalstaaten vor den Gefahren des Nationalismus zu bewahren. Die Arbeit an einem positiven Modell einer „ethnisch diversen Nation“ bringt für Assmann zudem den Vorteil mit sich, den Rechten und Rechtspopulisten mit ihrem national-nationalistischen Diskurs etwas Positives entgegenzusetzen.

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

2 Kommentare

  1. Eine sehr interessante Analyse, die wahrscheinlich große Aktualität erhalten wird im Verlauf des nächsten Jahres. Wenn die Ampel nicht ein Wunder hinlegen wird, könnte die CDU einen neuen Aufstieg mit den von Wolfgang Storz skizzierten Bedürfnissen schaffen. Insbesondere im Falle einer neuen Migrationswelle bzw. eines dramatischen Wahlkampfes in Frankreich könnte sich die Stimmung massiv gegen die Ampel wenden. Gut ist, dass der Artikel den Kurzzeitphänomen (SPD-Euphorie) die viel stärkeren Langfristströmungen gegenüberstellt.

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