„Wir fühlen uns nun alle als Ukrainer“  

Natalia lebt mit ihrer Tochter und ihrem Mann in der ukrainischen Hauptstadt. In loser Folge berichtet sie im Gespräch mit Ludwig Greven über den Alltag im Krieg.
Ich bin unserer ukrainischen Armee unendlich dankbar. Denn ich habe wieder mein normales Leben, wenn auch unter schwierigen Bedingungen. Ich kann zur Arbeit zu gehen, Geschäfte und Cafés besuchen, in Parks gehen und meine Eltern besuchen. All das war zu Beginn des Krieges undenkbar, als die russische Armee Kyjiw belagerte und mit Raketen beschoss.

Bild: geralt auf Pixabay

Im Sommer konnte ich sogar mit meiner Mutter und meiner Tochter Ferien in den Karpaten machen. Ich war das erste Mal dort. Es war wunderbar, die Natur unseres Landes zu erleben und zu spüren, wie groß es ist. Viele Ukrainer kannten bisher gar nicht die unterschiedlichen Regionen.

In dieser Woche beginnt nach den Ferien wieder der Unterricht in den Schulen. Auch das ein Zeichen, dass wir uns von Putin und seinem Krieg nicht unterkriegen lassen. Die Eltern konnten wählen, ob die Kinder in der Schule unterrichtet werden oder online. Wir haben beschlossen, dass unsere Tochter in die Schule geht. Sie ist davon allerdings nicht begeistert, sie würde lieber weiter mit ihren Freunden spielen. In den Schulen gibt es Schutzräume, falls die Russen angreifen. Aber im Moment gibt es hier in Kyjiw nur selten Raketenalarm, ganz anders als im Frühjahr.

Polen liefert modulare Fertighäuser

Meine Aufgabe in dem Ministerium, in dem ich arbeite, ist es, Unterkünfte für die Menschen zu finden, deren Häuser und Wohnungen durch die Russen zerstörte wurden, und Pläne für den Wiederaufbau zu machen. Wir haben jedoch mehr Fragen als Antworten. Eine Freundin von mir hat zum Beispiel ihr Haus in Irpin verloren. Ihr geschiedener Mann hat angeboten, dass sie mit ihrer Tochter und ihrer Mutter vorerst bei ihm wohnt, weil sie nichts anderes haben. Lokale Behörden versuchen unter Hochdruck, neue Häuser vor dem Winter zu errichten. Doch oft gehört ihnen das Land nicht. Polen liefert modulare Fertighäuser, Hilfsorganisationen errichten Notunterkünfte. Viele wohnen jetzt erst mal bei Verwandten, Freunden oder in öffentlichen Gebäuden, wenn die nicht auch zerstört sind. Menschen in sicheren Gebieten bieten an, andere Ukrainer unterzubringen, deren Städte und Orte unter Beschuss stehen. Doch das ist meinst nur vorübergehend, und es reicht nicht. Firmen bieten ihren Beschäftigten daher an, dass sie fürs Erste im Ausland für sie arbeiten können.

Wir stehen vor einem sehr schweren Winter, vor allem wenn der Krieg weitergeht. Noch viel schwieriger als in Deutschland. Denn es fehlen ja nicht nur Wohnungen. Auch die Infrastruktur ist an vielen Stellen zerstört. Es gibt kein Wasser, kein Gas, keinen Strom, oft auch kein Telefon und Internet.

Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew/ Kyjiw. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven. Das erste Gespräch hat den Titel “Die Sirenen heulen meist nur nachts“, die weiteren “Wir beten jetzt alle“, “Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten“, “Wir planen schon den Wiederaufbau der Ukraine“, “Wie können Menschen so etwas Unmenschliches tun?“, “Das quirlige Leben dieser wunderbaren Stadt fehlt“, “Warum hilft uns Deutschland nicht zu 100 Prozent?“, “Wir können den Krieg nicht beenden, das kann nur Russland“, “Es wird schwer für uns sein, weiter zu leben“.

Wir machen uns natürlich alle Sorgen über die Lage im Atomkraftwerk Saporischschja. Ich versuche jedoch, darüber nicht allzu viel nachzudenken. Denn meine Eltern leben nicht weit von Tschernobyl entfernt. Das Gebiet ist bis heute durch die Reaktorkatastrophe radioaktiv verstrahlt. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn nun eine neue Atomkatastrophe ausgelöst würde. Damals reichte ein Fehler der Bedienungsmannschaft und der Moskauer Regierung. Jetzt ist der Reaktor in Saporischschja von russischen Soldaten besetzt, und niemand kann sie stoppen.

Manche hoffen hier, dass der Krieg im Herbst endet. Ich bin nicht so optimistisch. Beide Seiten, unsere ukrainische und die russische, werden beobachten, wie unsere Fähigkeiten sind, zu überleben und zu widerstehen unter Winterbedingungen. Wir Ukrainer müssen stark bleiben und unseren Soldaten helfen mit allem, was wir haben. Die Ukraine muss am Ende siegen, für unsere Zukunft und die Zukunft Europas. Und damit wir unser Land wieder aufbauen können. Die Russen werden dafür zahlen müssen. Dieser Krieg ist ein Krebsgeschwür für die ganze Welt. Nicht nur Putin und sein Regime, alle Russen tragen dafür Verantwortung.

Die Ukraine wird danach noch stärker sein. Wir sind jetzt alle geeint, auch die Russischsprachigen wie mein Mann. Kulturell, sozial und politisch. Identität ist sehr wichtig. Die Menschen empfinden sich nun nicht mehr nicht nur als Bürger dieses Land, sondern als Ukrainer. Bis zum Krieg hatten viele Angst, sich als Ukrainer zu fühlen. Eine Folge unserer Geschichte. Diese Angst ist nun weg.

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Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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