Alter und neuer Glaube an große Männer

Screenshot: Website ZDF Politbarometer

Bürger:innen, die auf die Website der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) gehen, können sich, bevor sie mit der Suche nach Literatur beginnen, zunächst über die DNB in „leichter Sprache“ informieren. Dort werden sie folgenden Text vorfinden: „Die Deutsche National-Bibliothek ist eine sehr große Bücherei. National bedeutet: Das Land, in dem man wohnt. Also ist hier Deutschland gemeint. Anfang 2024 hat man die Publikationen der Deutschen National-Bibliothek gezählt. Es sind knapp 49,7 Millionen Publikationen. Das sind sehr viele. Publikationen sind Veröffentlichungen. Zum Beispiel: Bücher, Hefte, Artikel, Musik, Noten.“ 1 Es ist nicht meine Absicht, mich über das Bild, das die Autor:innen dieses Textes von ihren Adressat:innen haben, lustig zu machen. Gleichwohl frage ich mich, wem sie erklären wollen, dass knapp 50 Millionen Publikationen „sehr viele sind“. Ich möchte vielmehr auf das Problem der entstellenden Vereinfachung hinweisen, bei dem – in diesem Fall – verloren geht, was die DNB ausmacht. Kann so eine adäquate Vorstellung der wichtigsten Bibliothek dieses Landes entstehen?

Der Philosoph Ernst Bloch hat einst die Problematik der entstellenden Vereinfachung am Beispiel von Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ veranschaulicht. Er hatte sinngemäß geschrieben, dass, wenn man versucht, die zentrale Aussage dieses Theaterstücks mit „Man schießt auf Obst“ zusammenzufassen, der Sinngehalt verloren gehe. In diesem Fall sind die Grenzen zwischen Vereinfachung, Sinnentstellung und Karikatur überschritten.

Schillers Wilhelm Tell, Erstausgabe (Foto: Haack auf wikimedia commons)

Das bunte Format unterhaltsamer Sonntagszeitungen

Wir machen einen Sprung zur Qualitätspresse und den öffentlich-rechtlichen Sendern. Ihnen sind die digital veränderten Medienkonsumgewohnheiten der Leser:innen und Zuschauer:innen nicht entgangen. Einschlägige medienwissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Aufnahmebereitschaft der Bürger:innen und die intellektuelle Verarbeitung von politisch relevanten Nachrichten und Problemen in den letzten Jahren eher abgenommen hat. Die politisch führenden Tages- und Wochenzeitungen haben sich entsprechend an das „bunte“ Format von unterhaltsamen Sonntagszeitungen angepasst, um das Publikum mit einem sinkenden Anspruchsniveau des Angebots zu erreichen.

Dennoch sollte gegenwärtig nicht von einer Talfahrt gesprochen werden. Die verbliebenen anspruchsvolleren nationalen Zeitungen und Zeitschriften sind weiterhin die politischen Leitmedien. Und die erhebliche Reichweite der beiden führenden öffentlich-rechtlichen Medien sorgt nach wie vor für ein verlässliches Angebot an Nachrichten und politischen Sendungen.

Aber: in Teilen der Bevölkerung scheint der Zweifel an der Qualität der öffentlich-rechtlichen Medien zu wachsen. Gibt es eine Korrespondenz mit der zunehmenden Überzeugung vom zweifelhaften Charakter der politischen Klasse? Gleichzeitig bewegt die inhaltliche Komplexität der herausfordernden Themen und Stellungnahmen eine wachsende Minderheit der Medienkonsumenten dazu, digitale Plattformen für den Rückzug in abgeschirmte Echoräume von Gleichgesinnten zu nutzen. Sie scheinen dem Eigensinn dieser Kommunikationsinseln zugleich den Rang konkurrierender Öffentlichkeiten zu verleihen.

Anpassung an neue Erwartungen

So gerät beispielsweise die Qualitätspresse unter Anpassungsdruck. Sie besitzt eine eigene Logik, die auf Texten basiert, deren Form und Inhalt kognitiven, normativen oder ästhetischen Maßstäben genügen. Und nach ihrem Selbstverständnis erfüllt sie eine wichtige Orientierungsfunktion in der unübersichtlichen Medienwelt. Aber die Tatsache, dass die Nachfrage nach gedruckten Zeitungen und Zeitschriften rückläufig ist, gefährdet die ökonomische Grundlage der Presse. Sie kommt also zu dem Schluss: „Wir passen uns den neuen Erwartungen der Leser:innen an!“

„Thomas Charlyle, ein neuzeitlicher Philosoph“, Karikatur von Frederick Waddy (1848-1901) auf wikimedia commons

Damit können sich Presse und Funk zugleich der hohen professionellen Standards entledigen. So zeigt die journalistische Arbeitsweise Tendenzen zur Entprofessionalisierung. Die Recherche und genaue Interpretation des Zeitgeschehens treten Schritt für Schritt zurück, dafür rücken das Daten- und Aufmerksamkeitsmanagement vor. Unterhaltungs- und Konsumangebote gewinnen in politischen Programmen an Bedeutung und die Bürger:innen erleben, als Verbraucher:innen angesprochen zu werden. Der Ton der Moderator:innen ist konziliant, locker und gut gelaunt. Dies scheint beim Publikum anzukommen.

Außerdem personalisieren die Medien komplexe politische Verhältnisse. Anders als die inhaltliche Verschlankung des Angebots reicht die Personalisierung der Politik und der Geschichte in das 19. Jahrhundert zurück. Damals war dem romantischen Zeitgeist entsprechend der Glaube an „große Männer“ entstanden. Thomas Carlyles Vorlesungsreihe von 1840 Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte hatte diesem Glauben enormen Auftrieb gegeben und wesentlich dazu beigetragen, den „großen Mann“ ins Geschichtsbild einzuführen. Er prägt durch Willenskraft die Geschichte und das Gesicht der Nation. Dies war die grundlegende Botschaft.

Demokratisch eingeschränkte Handlungsspielräume

Heute sind in den westlichen Demokratien Europas „starke Führer:innen“ gewiss keine „Held:innen“ mehr, aber die digital veränderte Kommunikationskultur scheint auf die personalisierenden kollektiven Erinnerungsreste zurückzugreifen und sie zu verstärken. Deshalb ist eine übermäßige Fixierung auf die Person heute noch und heute wieder bedauerlicherweise sehr verbreitet. Man nimmt häufig nahezu automatisch und fraglos an, politische Führer:innen seien mehr oder weniger persönlich dafür verantwortlich, welchen Kurs die Politik und die Geschichte nimmt.

Selten wird die Frage öffentlich erörtert, welchen Einschränkungen Präsident:innen und Ministerpräsident:innen unterworfen sind. Der Historiker Ian Kershaw2 ist der Auffassung, dass, wer die Rolle einzelner Persönlichkeiten in der Politik richtig einschätzen will, auch die Umstände, die deren Beitrag prägen, betrachten sollte. Er greift dazu auf die Arbeiten des Soziologen Max Weber (1864-1920) zurück, der den Begriff des „Charisma“ entwickelt hat. In unseren Tagen wird das „Charisma“ von regierungsnahen Medien und Massenparteien geschaffen und gestärkt. Es ist zum großen Teil ein künstliches Produkt des Marketings durch eine politische Bewegung, Medienberichte oder offene Propaganda. Diese Überlegung kann uns helfen, die verbreitete Überbetonung der Rolle des Einzelnen bei der Gestaltung des historischen Wandels zu korrigieren. Politische Führer:innen bewegen sich stets in einer historisch gewachsenen politischen Kultur3. In unseren Breitengraden ist für sie wesentlich, dass Demokratien den Handlungsspielraum der Person an der Spitze der Regierung mit gutem Grund erheblich einschränken.

Macht durch oder über den Staat

Die Besonderheiten einer politischen Kultur bestimmen auch die Art, wie die Macht ausgeübt wird. In einer großen Krise und ihren politischen Turbulenzen können die Führer:innen die institutionellen Beschränkungen ihres Handlungsspielraums weitgehend ignorieren. Kershaw weist darauf hin, dass zum Beispiel der „Erfolg“ Hitlers ohne die unerträglich schmerzliche Wirkung der Niederlage im Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise auf die deutsche Gesellschaft nicht zu erklären ist. Die „Wirksamkeit“ des Autobahnbaus war kurzlebig und griff eine Zeit lang, war aber Teil des Weges in die Katastrophe.

In Friedenszeiten hingegen, bei zunehmendem Wohlstand, wenn demokratische Werte und eine relativ krisenfreie kapitalistische Wirtschaft allgemein als Grundlage einer stabilen, zivilisierten Gesellschaft anerkannt werden, werden die Führer:innen die institutionellen Beschränkungen ihres Handlungsspielraums weitgehend akzeptieren und nicht danach streben, das politische System zu verändern. Solche Bedingungen waren seit dem Zweiten Weltkrieg bis in jüngste Zeit in Westeuropa und den USA gegeben. Neue geopolitische Spannungen und Wirtschaftskrisen haben jedoch die prekären Fundamente der intensivierten Globalisierung enthüllt und zumindest vorübergehend einen anderen populistischen Führungsstil gedeihen lassen – wie ihn Donald Trump in den USA verkörpert.

Politische Führer:innen sind in der Lage, ihren Willen gegen Widerstand durchzusetzen. Darauf beruht ihre Macht. In pluralistischen, liberalen Demokratien zeigt sie sich für gewöhnlich als Konsensentscheidung eines Kabinetts oder anderer Regierungsorgane, und sie ist zudem über ein Netz von Institutionen und Organisationen über die Gesellschaft verteilt. Opposition findet in der Regel im Kontext eines Parlaments, durch die Massenmedien sowie auch durch Demonstrationen statt. Ein(e) Regierungschef(in) ist zumindest in der Lage, mithilfe eines institutionellen Netzwerks, das eine Gesellschaft durchdringt, seinen/ihren Willen durchzusetzen. Es ist Macht durch den Staat.

In Diktaturen übt eine autoritäre Führung direkt despotische Macht über den Staat aus. In den Nachrichtensendungen werden wir Zeugen, wie die Opposition unterdrückt und die öffentliche Meinung massiv manipuliert wird. Diese Führer:innen richten ihren Willen offener und direkter auf die Machtausübung aus. Aber auch eine Despot:in braucht starke institutionelle Unterstützung durch Militär, Sicherheitsdienste, Polizei, Justiz sowie von Parteiorganisationen.

Das Zeitenwende-Projekt

Regierungschef:innen sind bestrebt, ihrem Namen mit großen Projekten und bleibenden Werken Gestalt zu geben. François Mittérrand hatte sich als Präsident Frankreichs mit der Trés Grande Bibliothéque ein architektonisches Denkmal gesetzt. In Deutschland suchte 1982 Bundeskanzler Hellmut Kohl mit der FDP die geistig-moralische Wende einzuleiten. Tatsächlich gelang es ihm, im großen und ganzen die sozialliberale Politik der Vorgängerregierung mit einem anderen politischen Personal fortzuführen.

Bundeskanzler Olaf Scholz wollte 2022 seine Kanzlerschaft mit einer Zeitenwende verbinden. Aber auch dieses Projekt wurde nicht zum roten Faden im Labyrinth der Einzelmaßnahmen. Dafür gab es Gründe: die Pandemie, die nicht nur das Lebensgefühl vieler Menschen erschütterte, sondern auch viele Gesprächsfäden in der internationalen Politik zerriss; der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der die Energieversorgung gefährdete und zum Anstieg der Migration beitrug; die operativen Probleme einer tatsächlichen ökologischen Transformation; und nicht zuletzt das Störfeuer und die Provokationen der mitregierenden FDP.

Der Bundeskanzler hätte mit dem Zeitenwende-Projekt von Anfang an plausibel machen sollen, welche Bedingungen und Vollmachten er benötigte, insbesondere für einen erfolgreichen ökologischen Umbau der Gesellschaft. Weil er dies versäumte, legten ihn die Erwartungen der Medien und der Bevölkerung auf den Erfolg einseitig fest. An der vollständigen Darlegung dieses Projektes, aber auch mit regelmäßigen Berichten über Zwischenstände, hätten die Bürger:innen etwas von den Begrenzungen des Handlungsspielraums eines Bundeskanzlers verstehen können. Sie wären in der Lage gewesen, der Regierung Auswege aus ihrer Erfahrung zuzuliefern, die sie allein nicht gefunden hat.

Von der Personalisierung zu Beliebtheitswerten

Screenshot: Website ZDF heute

Szenenwechsel zur Jetztzeit und zu den vorgezogenen Neuwahlen im Februar 2025. Am Abend des 12.November2024 interviewte der ZDF-Moderator Christian Sievers im heute journal Rolf Mützenich, den SPD-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag. Sechs Tage nach der Entlassung des Finanzministers Christian Lindner und dem Bruch der Regierungskoalition war die öffentliche Diskussion über vorgezogene Neuwahlen des Deutschen Bundestages auf Hochtouren gelaufen. Es hatte sich auch abgezeichnet, dass in den USA ein bereits gerichtlich verurteilter Präsident erneut gewählt worden war. Würde er die Ukraine im Krieg gegen Russland weiterhin unterstützen? Außerdem hatten sich die Nachrichten über schwere Unternehmenskrisen verdichtet.

Die Situation war also dazu angetan zu fragen, wie die kritische Phase der nächsten drei Monate bis zu den Neuwahlen gemanagt werden könnte. Wie könnte die Minderheitsregierung aus SPD und Grünen im Bundestag Mehrheiten für wichtige Gesetzesvorhaben beschaffen? Wie würde sich das Verhältnis zwischen Europa, den USA, Russland und China gestalten?

Im Interesse der Öffentlichkeit hätte man erwarten dürfen, dass der Moderator diese und andere Fragen stellt. Stattdessen kaprizierte sich Herr Sievers auf Sympathie und Psychologie und zitierte die schlechten Beliebtheitswerte von Olaf Scholz. Er bat Herrn Mützenich wiederholt um einen Kommentar, ob ein so unpopulärer Bundeskanzler das Land weiter regieren könne. Der SPD-Fraktionsvorsitzende wurde schließlich ungehalten: „Sie werden mich nicht dazu zwingen, im ZDF im heute journal über die Beliebtheitswerte zu entscheiden!“ Vielmehr gehe es darum, dass der Bundeskanzler zeigen kann, was er in dieser Situation „in den nächsten drei Monaten schafft“.

Olaf Scholz gilt in Medienkreisen bekanntlich als zaudernder, zögernder, wortkarger Medienmuffel. Wenn die Wahrnehmung eines Regierungschefs auf dieses Gleis gerät und sich eine personalisierende, psychologisierende Betrachtungsweise breit macht, hat man sich vom Interesse an den Handlungsmöglichkeiten der Politik verabschiedet.

Ausblick

… im nächsten Beitrag wird es darum gehen, wie die Digitalisierung in Gestalt Künstlicher Intelligenz (KI) in der Öffentlichkeit erscheint: Mythos der KI..
… danach werden wir erneut von der Angebotsseite auf die Nachfrageseite digitaler Kommunikation wechseln und uns damit beschäftigen, welche Folgen es hat, wenn die Kulturen der Sprache und Schrift durch eine Kultur der Bilder ersetzt werden: ursprüngliche Faszination.

1  Siehe die Website der DNB, E: 04-12-2024
2  Vgl. Ian Kershaw, Der Mensch und die Macht: über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert, DVA München 2022
3  Vgl. Archie Brown, Der Mythos vom starken Führer, Berlin 2018


In der Streifzüge-Serie bisher erschienen:
(1) Misstrauen, massenmedial potenziert;
(2) Protest und Mobilisierung mit dem Smartphone als Nahkörper-Technologie
(3) Social Media uniformiert und polarisiert
(4) Wenn Meister der Zensur über Zensur schimpfen
(5) Plattformen: Wüste Kommunikation in Echokammern

Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke