
Das Vertrauen in die Demokratie hat in der Verlässlichkeit und Legitimation des Sozialstaates seinen wichtigsten Stützpunkt. Die gerade erschienene „Mitte-Studie 2024/2025“ hält fest, dass die Zweifel an der Leistungsfähigkeit der liberalen Demokratie erneut gewachsen seien: „Nur noch 52 % finden, die Demokratie funktioniere ‚im Großen und Ganzen ganz gut‘ (2022/23: 57 %; 2020/21: 65 %). Ein Viertel (24 %) verneint dies – das ist ein Höchstwert seit 2016. Lediglich etwas mehr als ein Drittel (37 %) findet, es gehe in Deutschland insgesamt gerecht zu.“ Mit dem Aufruf für einen „Sozialstaat, der trägt“ greift „Re:Form, eine Allianz von Verwaltungs-Pionier:innen“ in die Sozialstaatsdebatte ein. bruchstücke dokumentiert den Aufruf, der auf der Grundlage eines „Impulspapiers aus der Praxis“ formuliert wurde.
„Der Sozialstaat sichert die Menschen in unserer Erwerbsgesellschaft. Er verkörpert das Versprechen, dass niemand allein gelassen wird, egal, ob in Krisen, im Alter, in Krankheit oder auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Doch dieses Versprechen gerät zunehmend ins Wanken. Zu viele Menschen erleben einen Sozialstaat, der sie und die Leistungserbringer:innen überfordert, nicht erreicht oder abstempelt, statt ihnen Halt und Perspektive zu geben. Wenn wir als Gesellschaft zusammenhalten wollen, muss der Sozialstaat wieder tragfähig werden. Wir brauchen eine Sozialstaatsreform, die nicht nur einzelne bürokratische Hürden repariert, sondern konsequent vom Leben der Menschen aus denkt.
Was es jetzt braucht
- Vereinfachung und Bündelung statt Komplexität: Der Sozialstaat darf Menschen nicht durch Bürokratie zermürben. Heute ist das Sozialrecht in unzählige Einzelsysteme zersplittert, die oft gegeneinander arbeiten. Wir brauchen eine neue, verständliche Architektur mit einheitlichen Rechtsbegriffen, einem gemeinsamen Grundgerüst und Leistungen, die entlang von Lebenslagen gebündelt werden. Was hilft, muss „aus einer Hand“ kommen. Nicht die Leistungsgrenzen müssen gesenkt oder erhöht, sondern die Verfahren vereinfacht werden. Heute prüfen Behörden beispielsweise verschiedene Vermögensbegriffe an unterschiedlichen Stellen – ein enormer Aufwand, der weder Bürger:innen noch Verwaltung nützt. Prozessvereinfachung und klare Rechtsbegriffe setzen Ressourcen frei und machen den Sozialstaat zugänglicher.
- Wirkung und Vertrauen ins Zentrum stellen: Unser Sozialstaat muss zeigen, was er bewirkt. Deshalb brauchen wir eine neue Steuerungslogik: weg von Kontrolle, hin zu Vertrauen, Stichprobenprüfung, Pauschalierungen und Bagatellgrenzen. Das entlastet nicht nur die Antragstellenden, sondern auch die Praxis. Dabei gilt aber auch: Wer missbraucht, muss hart sanktioniert werden – denn ein Betrug am Sozialsystem ist zugleich ein Betrug am Gemeinwohl. Der Sozialstaat soll zusätzlich Selbstständigkeit fördern, nicht kleinhalten. Dafür braucht es eine klare Zielorientierung und eine Kultur, die Wirkung sichtbar macht und stärkt, was funktioniert.
- Arbeit ermöglichen: Eine der größten Entlastung besteht darin, die Menschen aus dem Sozialsystem in die Erwerbstätigkeit zu bringen. Deshalb müssen Jobcenter zu echten Brücken in den Arbeitsmarkt werden, mit besserer Vermittlung, gezielter Qualifizierung und enger Zusammenarbeit mit Unternehmen. Wer arbeiten kann, soll arbeiten dürfen, unabhängig vom Pass-Status. Sprachförderung, Anerkennung von Abschlüssen und klare Perspektiven auf Erwerbstätigkeit gehören ins Zentrum der Unterstützung. Und nicht zuletzt brauchen wir den Mut, dort zu reformieren, wo bisher gezögert wurde, etwa beim Bundesteilhabegesetz oder beim Zugang zum Arbeitsmarkt für Menschen in Asylverfahren. Schnelle Arbeitserlaubnisse, weniger Bürokratie und echte Integrationschancen sind entscheidend, um Menschen aus Sozialsystemen in Arbeit zu bringen und damit Kosten zu senken.
- Kommunen ins Zentrum stellen und technisch entlasten: Ein moderner Sozialstaat arbeitet digital und berät persönlich. Dafür braucht es zentrale Softwarelösungen für Leistungen, ein Sozialkonto für Bürger:innen, sichere Datenschnittstellen und ein zentrales Einkommens- und Sozialdatenregister. Gleichzeitig müssen Kommunen als „Front-Offices“ gestärkt werden. Kommunen sind das Gesicht des Sozialstaats vor Ort. Der Bund sollte das technische Back-End zentral bereitstellen. Dafür braucht es eine verfassungsrechtliche Öffnung. Das bestehende Kooperationsverbot zwischen Bund und Kommunen verursacht an dieser Stelle Ineffizienz und hohe Kosten. Hintergrundprozesse wie IT oder Abrechnung gehören gebündelt und standardisiert, damit vor Ort wieder mehr Zeit für echte Begleitung bleibt.
Der Sozialstaat ist das Rückgrat unserer Demokratie. Doch es wird immer deutlicher, dass er unter seiner eigenen Komplexität zu erstarren droht. In einer Zeit, in der Vertrauen in Staat und Verwaltung schwindet, ist eine Sozialstaatsreform auch eine Staatsreform, sie kann Blaupause für die umfassende Modernisierung des Staates werden. Sie entscheidet darüber, ob unser Staat handlungsfähig bleibt.
Die Reform darf nicht auf die lange Bank geschoben werden. Sie beginnt mit dem, was sofort geht: zentrale Rechtsbegriffe harmonisieren, digitale Schnittstellen schaffen, Bagatellgrenzen anheben, erste One-Stop-Shops eröffnen. Parallel braucht es eine verbindliche Agenda, welche kontinuierlich in den nächsten zwei Jahren umgesetzt wird, mit einem neuen „Allgemeinen Teil“ im Sozialgesetzbuch, lebenslagenorientierten Leistungsbündeln, einem Sozialkonto für alle Bürger:innen und der Ermöglichung bundesweiter IT-Lösungen.“