„Russland muss spüren, dass es den Krieg verloren hat“

Natalia Chorewa lebt mit ihrer Tochter und ihrem Mann in der ukrainischen Hauptstadt. Mit Ludwig Greven spricht sie über ihren Alltag im Krieg, warum sie sich auch nach über einem Jahr nicht an die ständigen militärischen Angriffe gewöhnen will, und über Friedensaufrufe in Deutschland.
In diesen Tagen hatten wir wieder drei- oder viermal Raketenalarm, genau zähle ich das nicht mehr. Wir versuchen, so viel Normalität zu leben wie möglich. Die Cafés, Restaurants, Clubs und Geschäfte sind voll, die Menschen gehen zur Arbeit, die U-Bahnen fahren. Es gibt allerdings weiter Strombeschränkungen, weil die Russen unsere Infrastruktur angreifen und zerstören. Die meisten Raketen und Drohnen fängt zum Glück unsere Flugabwehr ab. Aber jeden Tag sterben viele vor allem junge Ukrainer in den Kämpfen im Osten und Süden.

Ich wollte unsere Tochter, die im April zehn wird, nach Deutschland schicken zu meiner Schwester in Hamburg, damit sie besseren Unterricht bekommt, weil nicht klar war, ob die Schulen hier weiter online oder in den Klassen unterrichten. Aber sie hat sich entschieden, hier zu bleiben. Die Kinder haben Bilder gemalt für unsere Soldaten und Kerzen und andere Dinge in die Schule gebracht. Das alles wurde zu unseren Verteidigern geschickt, die an der Front kämpfen, damit sie merken, dass wir alle an sie denken. Sie haben sich gefreut. Journalisten waren da und haben darüber berichtet.
Kyjv ist eine riesige Stadt. Aber seit die Russen den großen Krieg gegen uns führen, fühlen wir uns mit dem ganzen Land verbunden, auch mit den Menschen in den entfernten Städten und Dörfern.

In Deutschland fordern viele ein Ende des Kriegs, einen Stopp der Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen mit Russland. Ich bin nicht für Krieg, absolut nicht. Aber wenn diese von Russland versuchte Vernichtung unserer Nation, unserer Kultur, unserer Geschichte nicht mit einem Sieg der Ukraine endet, wäre das nicht nur eine Katastrophe für uns und für die Menschen, die weiter unter russischer Besatzung leiden müssten, die weiter getötet, gefoltert, vergewaltigt und verschleppt würden. Es wäre auch schlecht für Russland und die Russen. Sie müssen spüren, dass sie den Krieg verloren haben, so wie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur dann werden sie keine weiteren Kriege führen.

Niemand weiß, wie lange der Krieg noch dauern wird. Wir hoffen natürlich, dass er bald endet, im Frühjahr oder Sommer, und nicht noch Jahre dauert wie im Donbas. Wir werden nicht aufgeben.

An vielen Stellen werden zerstörte Häuser, Wohnungen, Schulen und Straßen wieder aufgebaut und beschädigte repariert. Wir waren bei meinen Eltern im Norden an der Grenze zu Belarus. Im vorigen Jahren konnten wir nur mit Mühe zu ihnen, weil vier Brücken auf dem Weg von den russischen Soldaten zerstört wurden. Aber jetzt kann man die Brücken wieder befahren. Wir haben auch Freunde von uns in Butcha besucht. Nach dem Terrorangriff der Russen auf die kleine Vorstadt wussten wir lange nicht, ob sie mit ihren kleinen Kindern überlebt haben. Sie haben ihre Haus Freunden aus Charkiw überlassen, deren Wohnung zerbombt wurde. Sie leben nun bei ihren Eltern. So hilft jeder dem anderen, wenn er kann.

In dem Ministerium, in dem ich arbeite, sind wir damit beschäftigt, für die Menschen in den befreiten Gebieten und dort, wo es große Zerstörungen gab, die Versorgung mit Strom, Wasser und Gas wiederherzustellen. Das ist alles sehr schwierig. Zum Glück bekommen wir Hilfe, von den baltischen Staaten, aus dem Westen und von internationalen Organisationen wie dem Roten Kreuz.

An dem Tag, an dem der Krieg endet und wir gewonnen haben, werden nicht nur wir hier eine große Party feiern. Menschen auf der ganzen Welt werden das feiern, wie am 8. Mai 1945. Darauf freue ich mich in den schrecklichen Momenten in dieser schwierigen Zeit.

Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew/ Kyjiw. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven. Das erste Gespräch hat den Titel “Die Sirenen heulen meist nur nachts“, die weiteren “Wir beten jetzt alle“, “Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten“, “Wir planen schon den Wiederaufbau der Ukraine“, “Wie können Menschen so etwas Unmenschliches tun?“, “Das quirlige Leben dieser wunderbaren Stadt fehlt“, “Warum hilft uns Deutschland nicht zu 100 Prozent?“, “Wir können den Krieg nicht beenden, das kann nur Russland“, “Es wird schwer für uns sein, weiter zu leben“, “Wir fühlen uns nun alle als Ukrainer“.

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Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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