Rückkehr nach Odessa

Postkarte der UdSSR Post 1965, Serie anlässlich des 60. Jahrestages der Revolution von 1905. Reproduziertes Gemälde des Künstlers Belogo A. F. Belogo: Die Bevölkerung von Odessa begrüßt den Panzerkreuzer Potemkin.
(Foto: HOBOPOCC auf wikimedia commons)

„Ob die Franzosen wissen, dass sie einen ukrainischen Premierminister haben?“, fragte Stéphane Séjourné seinen Freund. Nur wenige Tage zuvor war der 34jährige Gabriel Attal am 9. Januar zum neuen Premierminister ernannt worden und die erste Reise, auf die er Séjourné als neuen Außenminister schickte, war die nach Kiew. Nun, neun Monaten später, fährt er selbst in die Ukraine, nach Kiew und Kurisove, fünfzig Kilometer nördlich von Odessa, der Stadt, die der große Schriftsteller Isaak Babel einmal „eine Art Marseille oder Neapel“ am Schwarzen Meer genannt hat. Attal, der jüngste und kürzeste Premierminister Frankreichs, ein Ukrainer?

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Moskau mobilisiert deutsche Ängste

Bild: CDD20 auf Pixabay

Putins Russland setze vor allem in Deutschland darauf, die in besonderem Ausmaß vorhandenen Ängste wegen unserer Hilfe für die Ukraine zu eskalieren. Die Befürchtung, in den Krieg hineingezogen zu werden, weil wir den Ukrainern helfen, sei weit verbreitet. „Diese Ängste sollen mobilisiert werden“, sagt Osteuropa-Experte Andreas Wittkowsky. „Dazu gehören auch die regelmäßigen Drohungen, Atomwaffen einzusetzen. Moskau weiß, dass sie bei den Deutschen besonders gut verfangen. Und es gibt eine erhebliche Zahl von Einflussagenten, die im Sinne von Putin-Russland diese Botschaften und Ängste hier regelmäßig verstärken — sei es aus Überzeugung, Opportunismus, Käuflichkeit oder Druck. Diese Einflussagenten sind bei der AfD und beim BSW besonders prominent vertreten“, erläutert Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz.

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Eine neue Linke kann es wieder geben

Die vom Klimawandel verursachte Naturverheerung ist die keinen Aufschub vertragende Herausforderung der Gegenwart. Jede Wahl lässt von neuem zittern, ob die Wahlberechtigten dies auch so sehen. Der geschädigten Natur widmen sie keine privilegierte Aufmerksamkeit. Entsprechend kurzatmig reagiert das politische Personal auf die veränderten Präferenzen des Wahlvolks. Die Aufmerksamkeitszyklen einer Social-Media-Demokratie sind kurz getaktet, und was gestern noch Greta-Effekt und Wind auf die Mühlen der Grünen war, ist heute heftigstem Gegenwind ausgesetzt. Die den Raubbau an der Natur beendet sehen wollen, tun gut daran, ihr Dilemma nicht bloß durch mehr TikTok lösen zu wollen. Angezeigt ist es, das politische Handeln auf der Straße und in den Parlamenten durch eine theoretische Arbeit am Begriff der Natur zu ergänzen. An diesem Begriff  fehlt es, und dieser Mangel teilt sich der ständig mit Scheitern bedrohten zweiten Aufklärung mit; so haben ihre frühen Vertreter die Ökologiebewegung einmal genannt.

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Systemkritik am Limit. Stiefmütterlich behandelter Veränderungswille

Das ausführliche Lob für Buch und Autoren stand bereits vor einiger Zeit an vielen anderen Orten, auch in der Süddeutschen Zeitung. In Kürze der Inhalt der dortigen Rezension: Die beiden Politikwissenschaftler Ulrich Brand, Universität Wien, und Markus Wissen, Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, erweiterten präzis, umfassend und kompetent jene Analysen, die sie in ihrem – in mehrere Sprachen übersetzten — Bestseller „Imperiale Lebensweise“ (Oekom Verlag, München, 2017) darlegten. Ebenso schärften sie in dem neuen Buch ihre Grundsatzkritik: Da die Logik des heutigen Kapitalismus auf unaufhörliches Wachstum ausgelegt sei, würden alle bisher angepackten Konzepte von Decarbonisierung und ökologischer Modernisierung viel zu kurz greifen — eben solange mit dieser Logik nicht gebrochen werde. Die Autoren belegten auch dies „akribisch mit guten Argumenten“, so der Autor der SZ.
Wer nicht zum ersten Mal einen längeren Text, ein Buch zu diesem Thema liest, wer eventuell auch das Buch der beiden Autoren von 2017 gelesen hat, der fragt sich: Na und? Und jetzt?

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Das Nationale, das Planetare und die öffentliche Irreführung

Wahlplakat des FPÖ-Spitzenkandidaten Herbert Kickl in den niederösterreichischen Fluten (Screenshot: twitter .com/VPiCd6259b | https://twitter.com/ColetteMSchmidt/status/1835344948872216660)

#1 Wo stehen wir? Mitten in einer deutschen Öffentlichkeit, in der sich alles um Migration dreht, besser: um deren Verhinderung. Praktische Lösungen für real existierende Probleme spielen im Wettlauf der Niedertracht nur am Rande eine Rolle; er wird von der Mechanik der Aufmerksamkeitsökonomie angetrieben: Wer kann noch lauter »Überforderung« sagen, wer noch ungerührter Forderungen wider allen Anstandes erheben? Mit Fakten kommt man in dem Lärm nicht weit, eine Zahl hier nur als Beispiel: Der Anteil der Kommunen, die sich als »überlastet« mit der Unterbringung von Geflüchteten sieht, ist von Oktober 2023 bis Mai 2024 von gut 40 auf knapp 23 Prozent zurückgegangen. Unter ostdeutschen Kommunen sind nicht einmal 8 Prozent »überlastet«. Dabei wird der parteipolitische Überbietungskampf ja gerade aus »Rücksicht« auf angenommene Haltungen »der Bevölkerung« in den derzeit wählenden Bundesländern betrieben. Wer auf rechtsstaatliche, ökonomische, demografische Argumente wert legt, ja einfach nur auf einen gesunden Menschenverstand und etwas Haltung, wird mit allen Varianten von »Ausländer raus« konfrontiert. Apropos Überforderung: Sechs von zehn Kommunen gehen laut Daten der KfW-Forschung davon aus, dass sie nur einen geringen Teil der für Klimaschutz und Anpassung benötigten Investitionen oder gar nichts davon stemmen können.

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Sozial, digital, ganz egal?

 

Bild: geralt auf Pixabay

Soziale Medien? Die falsche und unsinnige Übersetzung des englischen «social» ist selbst bei seriösen Medien nicht auszurotten. Unterdessen behauptet zwar niemand mehr, Facebook, X, Whatsapp, Youtube oder Instagram seien soziale Institutionen, die «dem Gemeinwohl dienen, die menschliche Beziehungen fördern und die wirtschaftlich Schwächeren schützen», wie es im Duden heisst und wie es dem deutschen Sprachverständnis entspricht. Trotzdem reden und schreiben selbst öffentlich-rechtliche Medien weiterhin regelmässig von «sozialen Medien». In Zeitungen wie der «NZZ» oder dem «Tages-Anzeiger» liest man immer wieder – manchmal sogar in Titeln – von «sozialen Medien» oder «sozialen Netzwerken».

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Von der Wachstums-Zwangswirtschaft befreien

Bild: geralt auf Pixabay

Um den Wachstumsimperativ zu beseitigen, müsste nach den Worten Christoph Deutschmanns das kapitalistische Eigentumsarrangement, das heißt, die Zuweisung des Eigentums über die Produktionsmittel an eine separate Klasse von Eigentümern neben den Arbeitenden, aufgehoben werden. „Wären die Arbeitenden die alleinigen Eigentümer über die Produktion, müsste die Produktion nur noch die Kosten, einschließlich der Einkommen der Arbeitenden, decken. Aber sie müsste keinen Gewinn mehr erbringen, und auch in ‚schlechten‘ Jahren mit sinkenden Umsätzen ginge die Welt nicht unter“, sagt der Tübinger Wirtschaftssoziologe im Interview mit Wolfgang Storz.

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Satire? Hartgesottener Zynismus

Bild: Ksv_gracis auf Pixabay

Wer oder was ist ein „Comedian“? Nach der Häufigkeit der Nennung des Wortes während der vergangenen Tage kommen Comedians bezogen auf ihre Bedeutung kurz hinter Trump und Kamala Harris. Noch vor Papst Franziskus. Comedians sind Leute! Leutselig sind sie deshalb aber noch lange nicht. Sie kennen das Wort leutselig noch? Wird nicht mehr häufig in den Mund genommen. Wer andere Menschen freundlichen Gesichts auf sich zukommen lässt und ebenso freundlich auf andere zugeht, der ist leutselig. Das tun Comedians nicht. Comedians sagen, sie wollten Spaß machen. So viel Spaß machen, dass der ansteckend wirkt. Auf andere, die keine Comedians sind. Der Duden beschreibt Comedians als  „humoristische Unterhaltungskünstler“. Darin stecken drei Zuschreibungen, die ich nicht teile. Comedians sind nicht humoristisch aufgelegt. Sie unterhalten auch nicht, es sei denn man ist Masochist. Und drittens hat der Duden Kunst durch Dreistigkeit ersetzt.

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Was trägt die Demokratie? Till van Rahden vermisst die Horizonte demokratischer Kultur

Foto: dontworry auf wikimedia commons

In den 1960er Jahren, als christliche Konfession noch ein gesellschaftlich relevantes Identitätsmerkmal war, als die Kirchen noch einigermaßen gefüllt waren, man aber auch bei „Mischehen“ von Katholiken und Protestanten die Nase rümpfte, trieb den Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Bockenförde die Sorge um, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt in einem freiheitlichen und säkularen Staat zu sichern sei, der sich ganz bewusst nicht auf die Gemeinschaft im Glauben, die Ordnung der Kirche und geteilte Heilserwartungen stützt. Der freiheitliche Rechtsstaat sieht sich demnach mit dem Paradox konfrontiert, dass er die Zustimmung der Bürger zu seinen Grundprinzipien nicht erzwingen kann, ohne seinen Charakter als freiheitlicher Staat zu verlieren1. Er fasste dieses Dilemma in dem als „Böckenförde-Diktum“ berühmt gewordenen Satz zusammen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

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Wir sind kein Volk

Heimat: Naturpark Erzgebirge im Vogtland (Foto: Kora27 auf wikimedia)

Mein Vogtland grüßt mit 37% AfD bei der Thüringenwahl und ich nehme es irgendwie persönlich. Vielen Dank, es ist immer schön, wenn der Ekel nachlässt. Aber aus dem Affekt heraus darf man sich nicht die Welt erklären. Das haben bedeutende Vorbilder erklärt, Brecht, Gremliza, Gysi usw. Auch die Literatur, Religion, Musik und der Sozialkundeunterricht lehren uns mit solchen unvorteilhaften Situationen umzugehen. All you need is love. Jesus und Maria, John Lennon und Madonna empfehlen ganz viel Liebe. Denn die rabaukenhaften Aufmärsche der Jungrüden und -mädel, das abschreckende Outfit, die martialischen Tattoos, der SA-Gedächtnishaarschnitt, die Zündeleien an Flüchtlingsheimen (das geht nun wirklich nicht, Landsleute), die Übergriffigkeiten gegen die Presse, der empörte Dauerton, die Strassenjagden auf Schwarze, Homos, Lesben, Punks – sind sie nicht Zeichen dafür, wie sehr die Menschen im Osten an ihrem schweren Los leiden? Dass sie Zuwendung brauchen, Anerkennung, das alte Problem der DDR, der gefürchtete Schrei nach Liebe.

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Wie viel ist 2 plus 2 vorurteilsfrei?

Bild: creozavr auf Pixabay

Den ehrenwerten Bemühungen, die Wissenschaft zu dekolonisieren, kann sich auf Dauer auch die sogenannte Königsdisziplin nicht entziehen. Nicht ganz grundlos wurden in der Mathematik eurozentrische, rassistische und suprematistische Züge entdeckt. Angelsächsische Bildungsinitiativen haben bereits Empfehlungen ausgearbeitet, die Lehrpläne zu reformieren, um ethnomathematische Aspekte stärker zu berücksichtigen. Ein bisschen populistisch nehmen alle diese Ansätze Anstoß an der als rassistisch empfundenen Vorschrift, dass Zwei plus Zwei unbedingt Vier sein müsse. Zwar wurde diese Regel zuerst im Nahen oder Fernen Osten aufgestellt. Schwer zu sagen, wer damals von wem abgeschrieben hat, die Ägypter von den Mesopotamiern oder die Perser von den Chinesen?

Bruchstücke geht vom 1. August bis zum 8. September in eine Sommerpause und wünscht
IHNEN ALLEN EINE GUTE FERIENZEIT

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Im „Staatsvolk“: Gefährliches Grollen

Linke Politik braucht ein Programm, für welche elementaren Grundsätze von sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Nachhaltigkeit und Verteidigung der Demokratie sie eintreten will, sagt Sighard Neckel im Interview mit Wolfgang Storz und benennt „die gravierendsten Fehler der politischen Linken“. Sarah Wagenknecht zählt er nicht zur Linken, auch weil ihr beim Bürgergeld, unisono mit den Konservativen und der AfD, als erstes die „Gefahr des Missbrauchs“ einfällt – „was sie vor allem dazu benutzt, die Unterstützung für die Ukraine zu untergraben. Was soll an alledem links sein?“

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„Kriegstaugliches Mindset“ per Gesetz

Bayern beschließt ein bundesweit erstes „Bundeswehrförderungsgesetz“ und verpflichtet Schulen und Hochschulen zu engerer Kooperation mit der Bundeswehr. Kritiker befürchten eine fortschreitende Militarisierung im Bildungsbereich.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Bayern rief zu einer Demonstration gegen das Bundeswehrförderungsgesetz auf.
Screenshot: Website GEW Bayern
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Olaf Scholz, Bundeskanzler 2025ff

Bild: geralt auf Pixabay

In seiner Sommerpressekonferenz wurde Bundeskanzler Olaf Scholz vor wenigen Tagen gefragt, ob er es nicht wie der US-Präsident machen und auf eine erneute Kandidatur verzichten wolle. Weshalb sollte er? 14 Monate vor der nächsten Bundestagswahl, die voraussichtlich auf den 28. September 2025 terminiert wird, einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Lage der Parteien sowie zu sich im Bund abzeichnenden Koalitionsperspektiven 2025.

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Poker zwischen Parlament und Elysee

Foto, 2018: Celette auf wikimedia commons

Das Bild, das die politisch Verantwortlichen im Palais Bourbon, dem Sitz der französischen Nationalversammlung, in diesen Sommertagen am Beginn der Olympischen Spiele abgeben, ist ein Trauerspiel. Von dem Schwung des „désistement“ (des Verzichts, der einen Sieg des Rassemblement National verhinderte), von dem sehr kurz ausgebrochenen Verständnis für ein demokratisches Miteinander, das die Wählerinnen und Wähler als Signal von unten nach oben gegeben haben, ist nichts mehr zu spüren. Dennoch häufen sich aus Gewerkschaften, Kunst, Wissenschaft und Politik die beschwörenden Appelle, aus der Kultur des désistement mehr zu machen. Nach dem eigentlichen Supersieger im zweiten Wahlgang, dem Monsieur D (ésistement) wird nun Monsieur C gesucht, der Monsieur Compromis, der Herr des Kompromisses. Wird es ein Warten auf den berühmten Herrn Godot, der niemals kam?

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bruchstücke