Kirchen rangieren heute am unteren Ende der gesellschaftlichen Vertrauensskala. Das jüdische Flüchtlingskind in der Krippe und die damit verbundene Botschaft der Bibel lassen zwangsläufig daran denken, in welchem Gegensatz die feudal, hierarchisch und abgehoben verfassten und präsentierten Kirchen dazu stehen. Befreit könnten die Kirchen unbeschwert Mächtige in Politik und Wirtschaft kritisieren, gerechte Besteuerung verlangen, Reichen Hilfe abtrotzen und deren Unterstützung für die Armen fordern, Obdachlosen Wohnung geben, auch in kirchlichen Hütten und Palästen, Hungernde nähren, Durstende tränken.
Graffiti an der Wand der ehemaligen US-Botschaft in Teheran (Foto, 2015: Pawel Ryszawa auf wikimedia commons)
Es wundert mich schon, dass der Titel der Veranstaltung „Iran frohlockt“ auf einige offenbar provozierend gewirkt hati. Provokation oder Diskriminierung lagen nicht in meiner Absicht. Es versteht sich von selbst, dass mit „Iran“ nicht die teils unzufriedene, teils entmutigte, teils offen rebellierende Bevölkerung gemeint ist, sondern das Teheraner Regime: der Revolutionsführer Khamenei und seine klerikale Kaste, die Regierung Raïsi, das Scheinparlament Madschles, die Revolutionsgarden IRGC, der Wächter- und der Expertenrat, nicht zu vergessen die Atomenergiekommission. Kann man das missverstehen? Anscheinend ja – wenn man es missverstehen will.
Das Böse. Ein beunruhigendes Wort, das die meisten Akademiker:innen selten verwenden, es sei denn, sie studieren, wie andere Menschen es verwenden. Wir fürchten Nietzsches Abgrund: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Es ist unbestritten, dass das Denken in Begriffen von Gut und Böse eine Voraussetzung, oft ein Vorspiel dafür ist, um böse zu werden. Doch gerade wegen dieses Teufelskreises und seiner schrecklichen Auswirkungen sollten wir lange und sorgfältig in den Abgrund blicken. Das Folgende ist mein hoffnungsvoller Versuch, dem Bösen ins Auge zu schauen und es zu verstehen, wobei ich mich auf das Massaker vom 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg konzentriere.
Der Triggersatz – jenseits der vielen geradezu tragisch komischen Einlassungen der Angeklagten Andrea Tandler vor Gericht – fiel vor Monaten in einem Statement der Anwältin vor den Kameras des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Deren Mandantin habe sich, so sagte die Frau, eine Existenz aufbauen wollen. Ansonsten würden alle Anschuldigungen zurückgewiesen. Die Geschichte der Maskenbetrügerin Andrea Tandler eignete sich für eine filmische Miniserie genauso wie als Erzählung über das Versprechen eines für alle möglichen Reichtums.
Stolperstein für Elfriede Maria Scholz in Dresden (Foto, 2013: Paulae auf wikimedia commons)
Erich Maria Remarque wurde mit „Im Westen nichts Neues“ berühmt. Weniger bekannt ist seine Schwester Elfriede Scholz, die wegen »Wehrkraftzersetzung« vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und vor 80 Jahren, am 16. Dezember 1943, hingerichtet wurde. Eine Erinnerung.
„Matrix der Arbeit“ nennen sich die sieben Bände der umfassenden „Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit“, die das gleichnamige Institut, finanziert und geleitet von Horst Neumann, im September 2023 herausgebracht hat. Der Name „Geschichte und Zukunft der Arbeit“ geht zurück auf eine Konferenz des Jahres1999 und einen Sammelband mit diesem Titel, den Jürgen Kocka und Claus Offe mit den Referaten dieser Tagung publizierten. Jürgen Kocka ist auch ein entscheidender Ideengeber für das Projekt „Matrix der Arbeit“. Das Werk hat eine zentrale Botschaft: Die fortwährende Produktivitätsexplosion in der Geschichte der Arbeit mündet in ein Ende der Knappheit an Gütern und Dienstleistungen und eröffnet die Chance „auf das Ende von Kriegen, Patriarchat, Armut und für ein lokales und globales Miteinander“ (Bd. 1, S. 12).
Ein Bundeskanzler, ein Finanz-, ein Wirtschaftsminister und ein (Haushalts-)Loch (Foto links, bearbeitet: Sandro Halank auf wikimedia commons)
Beim Klimaschutz noch weiter zu entschleunigen, kann nicht die Konsequenz des aktuellen Urteils des Bundesverfassungsgerichts sein. Die Entschleierung der versuchten Täuschung bei den öffentlichen Finanzen könnte aus der Sicht ökologischer Ehrlichkeit auch etwas Heilsames haben. Nach der Karlsruher Entscheidung vom 15. November 2023 zur fehlenden Verfassungskonformität der Umwidmung von Corona-Sondermitteln in Klimaschutz- und Transformationsmittel herrscht im bundesdeutschen Politikbetrieb Ratlosigkeit. Mit der Zurückweisung der – im Übrigen miserabel begründeten – „Mittelumbuchung“ des Bundesfinanzministeriums von „Corona“ auf „Klima und Transformation“ hat das Bundesverfassungsgericht in keiner Weise die klimapolitischen Handlungsnotwendigkeiten infrage gestellt. Karlsruhe verlangt mehr Klimaschutz, nicht weniger.
Der Krieg zwischen Israel und der Hamas wirft zwei fundamentale Fragen auf, denen man nicht ausweichen kann: 1. Ist das Vorgehen der Hamas Terrorismus und somit die Hamas eine terroristische Organisation oder ist sie Teil eines Befreiungskampfes des unterdrückten palästinensischen Volkes? 2. Ist das Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen Mittel und Ausdruck einer kolonialistischen Eroberung oder einer Verteidigung des eigenen Staats und der eigenen Bevölkerung gegen die Bedrohung seiner Existenz? Für die Beantwortung kommt man ohne eine Kontextualisierung nicht aus, aber sie darf einige Schlüsselereignisse des Konflikts nicht unterschlagen.
Nein, so haben wir uns Dekolonisierung nicht vorgestellt (Foto: Spokesperson unit of ZAKA photographer auf wikimedia commons)
„Sie sind Präsident, kein Politiker. Davon verstehen Sie nichts. Halten Sie sich da raus!“ Barsch herrschte Benjamin Netanjahu, Israels Regierungschef, Roman Herzog, den deutschen Bundespräsidenten, an. Herzog blieb gleichmütig, ließ die Tirade scheinbar ungerührt an sich abprallen. Als verstünde er kein Englisch. Der Dolmetscher übersetzte etwas weichgezeichnet. Was hatte Herzog verbrochen, dass er sich eine solche Suada einhandelte? Das Existenzrecht Israels in Frage gestellt? Die besondere deutsche Verantwortung für diesen Staat? Die Hauptstadt Jerusalem? Nichts von alledem. Er hatte schlicht gefragt, wie der Israeli die Lebenssituation der Palästinenser im Westjordanland einschätze. Das reichte, um sein Gegenüber explodieren zu lassen. Was dort drüben geschah, war nicht für die Augen der Weltöffentlichkeit geeignet, nicht für prominente Beobachter, erst recht nicht für deutsche. Kein Thema!
Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem »Kruzifix-Beschluss«. die Verfassungswidrigkeit von Kreuzen in öffentlichen Räumen des Staates festgestellt hat, gehören sie weiterhin vielerorts zum Inventar. Eine andauernde Missachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung, die bislang ohne Konsequenzen blieb. Ralf Feldmann, streitbarer Richter im Ruhestand, fragt, „wie kommt es eigentlich, dass Teile der Politik über Parteigrenzen hinweg – aber auch Akteure der Justiz – die Letztentscheidungs-Kompetenz des Verfassungsgerichts nicht anerkennen und sich damit über das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung hinwegsetzen?“ Ralf Feldmann ist das, was man einen umtriebigen Menschen nennt. Er hat Jura, Geschichte und Politik studiert, danach promoviert. Ab 1976 arbeitete er als Richter in Bochum, zunächst am Land-, später am Amtsgericht. Ein engagierter Jurist, der nicht nur Urteile sprach, sondern sich auch um den Zustand der Justiz sorgt, beispielsweise um die Frage, welchen Wert haben Verfassungsgerichtsurteile, wenn sie selbst von der Justiz ignoriert werden?
Chancengleichheit und gleichwertige Lebensverhältnisse: Das sind große Versprechen im deutschen Grundgesetz. Für die Kinder zwischen zwei und sechs Jahren bleiben sie uneingelöst, obwohl die Drei-bis Sechsjährigen seit 1996 und die unter Dreijährigen seit zehn Jahren einen Rechtsanspruch auf Bildung, Betreuung und Erziehung in einer Kindertagesstätte haben. Hunderttausenden von berufstätigen Eltern, insbesondere aber alleinerziehenden Müttern fehlt diese Unterstützung, so dass sie gegen ihre eigenen Wünsche nur eingeschränkt erwerbstätig sein können. Mehrere aktuelle wissenschaftliche Studien liegen dazu jetzt vor. Sie sollten die Gesellschaft aufrütteln, gerade auch vor dem Hintergrund der diesjährigen Ergebnisse der PISA-Studie („Deutsche Schüler schlecht wie nie„).
Die nun ausgeschiedene Moderatorin Anne Will war „erschüttert“, weil Vizekanzler Robert Habeck ein Scheitern der Ampel wegen offener Haushaltsfragen nicht ausschließen wollte. (Ausschnitt aus der Sendung am 3. 12.2023: Habeck: „Ich bin ganz optimistisch, dass wir auf gutem Weg sind, uns zu einigen.“ Will hakte nach: „Heißt aber nicht, dass Sie sicher sind, dass Sie sich einigen?“. Habeck: „Ich kann nicht für alle sprechen, aber ich wiederhole, dass ich glaube, dass wir gut vorankommen.“ Will: „Ich bin erschüttert Herr Habeck, Sie sagen uns damit, dass es sein kann, dass es nicht klappt.“) Gegenfrage: Aus welchen anderen Gründen als wegen offener Haushaltsfragen sollte ein Koalition ihre Fahnen einrollen?
Als ich früher bei der SPD über die Notwendigkeit einer wertegeleiteten Politik sprach, erwiderte eine junge Genossin: „Wir können Wahlen nur mit der Kernbotschaft gewinnen: mehr netto vom brutto.“ Damit werden die Triumphe Margaret Thatchers komplett. 1981 sagte sie: „Economics are the means; the object is to change the soul.“ Wenn wir voraussetzen, dass Menschen nur von materiellen Eigeninteressen getrieben werden, hat der Neoliberalismus unsere Seelen verändert. Denn Menschen werden nicht nur vom Fressen angetrieben, sondern ebenso von Moral – auch wenn das Fressen zuerst kommt. Damit die Menschen aber von Werten überzeugt werden, müssen diese Werte klar artikuliert und glaubwürdig vertreten werden. Die Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, auf denen auch die Grundwerte der SPD beruhen, sind in verschiedenen religiösen Traditionen zu finden, doch erst die Aufklärer haben sie klar und übergreifend formuliert. Inzwischen ist die Aufklärung aber zum Objekt der Verachtung geworden. War sie nicht das Zeitalter der Menschenrechte, gleichzeitig auch der Sklaverei und des Kolonialismus?