Hätte, hätte, Lieferkette

Bild: joelizlar auf Openclipart

Wenn Mundschutzmasken fehlen und ein Centprodukt zum Luxusartikel mutiert, der auf den Weltmärkten mit harten Bandagen erkämpft werden muss, stellt sich die Frage: Wieso hat die hiesige Medizin- und Pharmabranche keine Zellstoffproduktion zu bieten. Die rhetorische Frage kommt der Aufforderung gleich, solche dringend notwendigen Produkte und Vorprodukte doch im eigenen Land herzustellen. Um beim Zellstoff zu bleiben: Die Region um das bayrische Hof war einmal ein Zentrum dieser Produktion, aber den Großen der Branche, den Brauns und Hartmanns, waren die dort gezahlten Löhne zu hoch, also hat man das Ganze nach China verlagert. In der Debatte um eine Neuordnung der Lieferketten – das Bundeskabinett hat Anfang März 2021 einen Gesetzentwurf verabschiedet – steht ein weißer Elefant im Raum: die Verlagerungspraxis der Unternehmen. Sie ist deren Renditeerwartung geschuldet, und wer der Neuordnung das Wort redet, darf nicht verschweigen, wie er es mit dem Outsourcing hält.

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„Indianerhäuptling“ – ein schändlich diskriminierender Ausdruck?

Bild: Openclipart

„Das Überziehen des Richtigen kann zum Falschen führen!“ ist der Titel eines Aufrufs, der im linken und grünen Spektrum kursiert und sich gegen eine Tendenz richtet, die einen Höhepunkt auf dem kürzlichen Parteitag der Berliner Grünen hatte. Deren Bürgermeisterkandidatin Bettina Jarasch hatte von ihrem Kindheitswunsch „Indianerhäuptling“ gesprochen. Dies löste eine Empörungswelle bei einem Teil der Grünen aus. „Indianer“ sei ein diskriminierender, migrantenfeindlicher Ausdruck. Wie reagierte Bettina Jarasch?  Sie entschuldigte sich zutiefst für ihre Formulierung und gelobte Besserung. Das erinnert an stalinistische Unterwerfungs-Rituale.

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(N°12) Die Pandemie ist erst der Anfang

Intromusik von terrasound.de

Die UN hat 2015 einstimmig die Agenda 2030 beschlossen. Nicht viele kennen sie, noch weniger orientieren sich an ihr. Dabei ist sie der Fahrplan, nach dem sich die Weltgesellschaft wegen Pandemien, Klimakatastrophe und sozialer Spaltung aus eigener Kraft umkrempeln soll. Mit einschneidenden Folgen für den Alltag eines jeden.
Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch mit Thomas Weber, dem Mister Nachhaltigkeit im Berliner Regierungsviertel, über das Notwendige und fast Unmögliche.

Ein 1jähriges Kind seiner Zeit feiert Geburtstag

Dich hat niemand gefragt, du hast hier nichts zu sagen, so wird unaufgefordertes Dazwischenreden zurecht- und zurückgewiesen. Bruchstücke, das Blog für konstruktive Radikalität, redet seit genau einem Jahr ungefragt dazwischen. Es war ein Corona-Krisenjahr; wenn niemand etwas Genaues weiß, haben alle etwas zu sagen, bruchstücke auch. Erst einmal sagen wir danke, unseren Autor:innen, unseren Leser:innen und Hörer:innen; und dann versprechen wir uns als Team, die Wundertüte, die dieses Blog sein will, weiter zu füllen – jede Autorin auf ihre, jeder Autor auf seine Weise. „Immer steht irgendjemand mit wirren Haaren auf und weiß, wie die Welt zu richten ist“, sagt Peter Fuchs mit skeptischer Vernunft. Wir stimmen ihm zu, schon weil wir mehrheitlich keine wirren Haare haben, aber wir halten es auch mit Georg Christoph Lichtenberg: “Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.” Mit dieser Haltung gingen wir an den Start. Heute sind wir 166 Beiträge, 30 Podcasts und 211 Kommentare weiter. Als Geburtstagsständchen wünschen wir uns das Kinderlied „Wir werden immer größer, jeden Tag ein Stück. Große bleiben gleich groß oder schrumpfen ein. Wir werden immer größer.“

(N°11) Zwischen Absturz und Chance

Intromusik von terrasound.de

Die offene K-Frage der Union, die Schein-Chance der Grünen und das Verharren der Sozialdemokratie – sechs Monate vor der Bundestagswahl scheint das Rennen völlig offen. Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch mit der Meinungsforscherin Yvonne Schroth von der Forschungsgruppe Wahlen.

Wo leidet welche Kultur?

Privatkonzert: Alcaeus spielt Sappho vor. Mit Sicherheitsabstand. Bild von Lawrence Alma-Tadeus.
Kultur, wenn auch kitschige. (Wikimedia Commons)

Kann die „Kultur“ sich wieder dem Publikum öffnen? Augenscheinlich scheibchenweise. Ich habe bereits das Folkwang Museum besucht. Mit „Zeitfensterticket“ (einer der gut 1000 Neologismen der Corona-Ära), Kontaktformularabgabe, immerhin nur mit respirationsfreundlicher OP-Maske bewehrt. Dass die Kultur unter Corona leidet, höre, lese und sehe ich gefühlt dutzendfach an jedem Tag, langsam sich steigernd seit einem Jahr. Allein das müsste mich skeptisch machen.

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(KW12) Die Illusion von Perfektion in der Krise

Intromusik von terrasound.de

Warum sind wir nicht auch Weltmeister im Impfen? Warum kann in Großbritannien Boris Johnson einen strengen Lockdown durchsetzen, so streng, dass Karl Lauterbach und Lothar Wieler davon nicht einmal zu träumen wagen?
Horand Knaup und Wolfgang Storz streiten, warum die Politik so überfordert erscheint und ob sie in einer Demokratie tatsächlich für alles zuständig ist.

Fundstücke der Woche:
1. Schulen dösen im digitalen Niemandsland
2. Umgang mit NGOs im Mittelmeer

Das alte machtpolitische Spiel, hoffnungslos überholt

Würde das Gefüge Brüssel – Nationalstaaten – Regionen – Städte digitalisiert als komplexes Modell zur Verfügung stehen, könnte sich – frei nach dem Dauerbrennerzitat „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (siehe Mathias Greffrath)- Künstliche Intelligenz als wirkungsvolles Werkzeug erweisen. (Bild: Ursula Herrmann /Foto: Jo Wüllner)

Mehr oder weniger Brüssel? Die Frage kann so nicht beantwortet werden.
Ob mehr oder weniger Brüssel richtig, wünschenswert, zukunftsträchtig ist, hängt doch in erster Linie davon ab, ob Brüssel funktioniert und in zweiter Linie, ob es als funktionierend wahrgenommen wird. (Was “funktionieren” heißt, lasse ich gut positivistisch hier beiseite; der Text würde wuchern.)
Fakt ist (ich erspare uns Umfragedetails): Brüssel wird auf lange Rückschau hin als nicht funktionierend wahrgenommen. Und aktuell (Corona) wird es als chaotisch bis katastrophal bewertet. Daher nutze ich Corona als analytischen Hintergrund für einen sehr anderen Vorschlag. Hat die EU nun Chaos in Sachen Corona produziert? Mit Sicherheit. Ist sie “schuldig”?

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Angela geht. Kommt Annalena?

Annalena Baerbock (MdB, Bundesvorsitzende, Bündnis 90/Die Grünen) Foto: Stephan Roehl
by Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0/ wikimedia commons

Volker Riegger, erfahrener Wahlstratege, Wahlforscher und Wissenschaftler, hat einen Albtraum: Bundeskanzlerin Merkel. Im bruchstücke-Interview erläutert er, worin er reelle Chancen für einen Machtwechsel sieht, wie die “Schlaftabletten” Söder und Laschet politisch zu schlagen sind. Mit dem Wissen des Insiders analysiert er in einem klaren Blick zurück (die rot unterlegten Passagen des Interviews), woran Schröder und Lafontaine gescheitert sind und was die SPD von heute aus diesem Scheitern lernen kann.

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Heimatgefühle oder Zweckverband?

Das „Spiel ohne Grenzen“, dieser sympathisch-zivile Weg, den Deutschen vor Augen zu führen, dass Bürger:innen anderer europäischer Staaten leibhaftig existieren, war schon Thema von „Erzählt uns Europa!“ Lorenz Lorenz Meyer hätte ebenso gut an Hans-Joachim Kulenkampffs europäische Rateshow „Einer wird gewinnen“ (EWG) erinnern können. Und wer per Interrailticket wochenlang europaweit unterwegs war, konnte manchmal auf einen interessanten Typ Mensch treffen, von dessen Existenz die eigene Stadt ihm bzw. ihr keine blasse Vorstellung gegeben hat. Solche Rucksacktouristen haben während ihrer wochenlangen Reisen keine profunde Kenntnis europäischer Kulturen erworben, aber ihre Erlebnisse und Erfahrungen waren möglicherweise der Anfang einer intensiven Beschäftigung mit dem einen oder anderen europäischen Land.
Mag sein, dass dies politische Belanglosigkeiten sind, aber ich halte sie für bedeutend, weil sie Ausgangspunkte eines guten Europagefühls sind.

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Bericht aus Lesbos

Mein Entschluss zu diesem siebenwöchigen Einsatz im Flüchtlingslager Kara Tepe, Insel Lesbos, Beginn in diesem Januar 2021, entstand aus Wut und Enttäuschung über die in meinen Augen menschenverachtende europäische Flüchtlingspolitik, die an den Außengrenzen unseres Kontinents und insbesondere im Mittelmeer ein Massengrab für Menschen in Not geschaffen hat. Den Menschen, die diese mörderische Grenze überwunden haben und nun in gefängnisähnlichen Verhältnissen auf eine neue Chance für ihr Leben warten, zumindest symbolische Solidarität zu zeigen, war der Antrieb für meine Reise.
Lina, die Koordinatorin des Ärzte-Teams, führte mich zusammen mit einem der Dolmetscher zu Beginn einmal durch das Lager. Hier leben derzeit mehr als 7.000 Menschen in Zelten direkt am Meer. Nach offiziellen Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) sind davon 72 Prozent aus Afghanistan, neun aus der Demokratischen Republik Kongo, sieben aus Syrien, vier aus Somalia und zwei Prozent aus dem Irak.  23 Prozent der Geflüchteten sind Frauen, 37 Prozent Kinder und von diesen sind 70 Prozent jünger als 12 Jahre und vier Prozent von ihnen sind unbegleitet.

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Die Türkei, Europa und die Menschenrechte

Während der Tagung des Europäischen Rates am 25./26. März 2021 soll ein Bericht der EU-Kommission über die Beziehungen der EU und der Türke vorgestellt werden. Vor diesem Hintergrund veranstaltet das KulturForum TürkeiDeutschland am 23. März (11h) eine Pressekonferenz am Maxim Gorki Theater in Berlin vor „Silivri.prison of thoughts“ von Can Dündar (einer stilisierten Zelle des Gefängnisses, in dem Ahmet Altan, Can Dündar, Osman Kavala, Peter Steudtner, Deniz Yücel und viele andere inhaftiert waren und sind).

Es sprechen: Celal Baslangic (Arti-TV), Gabriele Bischoff (MdEP, SPD), Sevim Dağdelen (MdB, Die Linke), Can Dündar (Journalist), Aslı Erdoğan (Schriftstellerin), Christian Mihr (Reporter ohne Grenzen), Cem Özdemir (MdB, Die Grünen), Ziya Pir (ehem. Abgeordneter der HDP),Frank Schwabe (MdB, SPD), Peter Steudtner (Menschenrechtstrainer), Sibel Yigitalp (ehem. Abgeordnete der HDP), Astrid Vehstedt (PEN-Zentrum Deutschland).
Die Pressekonferenz wird per Video aufgezeichnet und über die Internetseiten bzw. Social Media Kanäle des KulturForums sowie des Gorki-Theaters zeitnah ausgestrahlt werden.

Bundespressekonferenz zum Einschlafen (sekundäre Produktionsempfehlung)

Man merkt schnell, dass man sich entspannt zurücklehnen kann, wenn ER spricht, denn darauf ist Verlass, dass er sicherlich keine unerwarteten oder überraschenden Aussagen machen wird. Grafik: Eva Streit

Ich bin  eigentlich ein  guter Schläfer.  Normalerweise reicht mir eine halbe Seite eines trockenen Buches  (meistens Geschichtsbände) und ich bin weg.  Während der endlos gleichen, unstrukturierten und  screenlastigen Tage dieser Pandemiezeit kann es aber mal vorkommen, dass  ich keine Ruhe finde. Dann greife ich inzwischen zielsicher zu meiner Geheimwaffe – der Bundespressekonferenz. Ganz  im Sinne  einer  sekundäreren Produktion, wie sie Michel de Certau beschrieben hat, benutze ich die  Bpk-Aufzeichnungen  nicht zur Informationsbeschaffung,  sondern als Audiolandschaft, die es mir  ermöglicht, absolute  Ruhe und Gemütlichkeit zu finden und einzuschlafen. Warum funktioniert das so gut?

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Politisch Engagierte werden Wahlergebnisse nie begreifen

Das bruchstücke-Team hat einzeln gedacht, getrennt geschrieben
und die Bruchstücke übereinander gelegt,
dieses (erste) Mal zu den Landtagswahlen des 14. März 2021 (Foto: Fabian Arlt)

Mit Erfolg und Untreue

Bruchstück 1 Marie-Luise Anna Dreyer – wir alle nennen sie „Malu“ – und Winfried Kretschmann gehören zu den deutschen Politiker*innen, die eine sympathische Ausstrahlung haben. Das ist nicht selbstverständlich. Friedrich Merz wirkt nicht sympathisch, Saskia Esken und Markus Söder auch nicht, Angela Merkel nur so irgendwie. Und diese beiden Sympathischen haben zudem keine größeren Fehler (Skandale, Fehlentscheidungen) aufzuweisen. In unserer Gegenwart ist das bereits mehr als die halbe Miete, werden heute doch mehrheitlich Politiker*innen nicht an Visionen, Programmen oder Zukunftsprojekten gemessen. Sondern daran, ob sie aus der Rolle fallen oder nicht, ob sie verbindlich oder arrogant wirken; wie würden denn heute wohl schroffe Politiker vom Typ Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß ankommen.

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Mein Europa

Camillo Felgen und die strengen Schiedsrichter beim Spiel Ohne Grenzen
(Foto: WDR Mediathek)

Vor richtigen Schiedsrichtern sind alle Europäer gleich. Die ersten Erfahrungen mit europäischer Integration habe ich Mitte der 60er Jahre gemacht, an Samstagnachmittagen, am Schwarzweißfernseher. Dort moderierten der Luxemburger Camillo Felgen und der Deutsche Frank Elstner das Spiel ohne Grenzen, eine Spielshow, in der europäische Städte zunächst auf nationaler, dann europäischer Ebene in groß angelegten Geschicklichkeitswettbewerben gegeneinander antraten. Die Teilnehmer*innen waren grotesk kostümiert, mit überdimensionalen Masken, wie von tschechischen Animationsfilmern inszeniert. Sie mussten hüpfen, rennen, klettern, über glitschige Rampen auf- und absteigen, sich über Wasserbecken hangeln. Und sie scheiterten, scheiterten, scheiterten, immer wieder. Sie rutschten aus, fielen von der Stange, auf vorbereitete Luftkissen oder ins Wasser, bis irgendwann ein Team mit mehr Glück als Geschick die gestellte Aufgabe erfüllte. Dann ging der Moderator aufs Spielfeld, half einer atemlosen Teilnehmerin aus ihrem monumentalen Kostüm, holte sich eine erste Reaktion und gratulierte oder tröstete.

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