„Unsere Partner haben das besserwisserische, koloniale Gehabe der reichen Länder satt.“

Svenja Schulze (Foto: Frank Gaeth auf wikimedia commons)

Es war eine weite Reise, die Parteichef Lars Klingbeil Anfang März auf sich nahm. Und manchmal war es auch ein Ritt auf der Rasierklinge. Ob beim Parlamentspräsidenten in Namibias Hauptstadt Windhuk oder bei der resoluten südafrikanischen Außenministerin in Johannesburg – Klingbeil hatte eine Menge Fragen zu beantworten. „In aller Deutlichkeit“ und nicht nur einmal, wie er hinterher bekannte, sei ihm dabei der Hinweis auf die „double standards“ des Westens und damit auch der Bundesregierung begegnet. Es ist der gleiche Vorbehalt, dem sich auch Außenministerin Annalena Baerbock oder Entwicklungskollegin Svenja Schulze bei ihren Reisen ausgesetzt sehen, in Johannesburg genauso wie in Neu-Delhi, Brasilia, Bamako oder Dakar. Es ist der immer offensiver vorgetragene Hinweis der Länder des Südens, dass der reiche Norden, wenn es um Menschenrechte, Kriegsverbrechen, Demokratie und universelle Werte überhaupt geht, häufig mit zweierlei Maß messe.

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Hyperventilierende Konformität oder Wenn wir nichts tun, machen wir nichts falsch, aber auch nichts richtig

Konform (Bild: Clker-Free-Vector-Image auf Pixabay)

Rolf Mützenich gebührt Anerkennung, die Frage aufgeworfen zu haben, ob nicht parallel zur entschlossenen Waffenhilfe an die Ukraine auch über Wege zum Einfrieren des Krieges und zu einen Waffenstillstand diskutiert werden sollte. Er ist allerdings eine Antwort schuldig geblieben, wie denn dies angesichts von Putins Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit gelingen soll. Rolf Mützenich, seit zwei Jahren bevorzugtes Ziel verletzender Kritik, war dafür erneut einen Sturm der Entrüstung, Beschimpfung und Beleidigung ausgesetzt.

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Die Rolle großer, schrecklicher Menschen, genauer: Männer, wird vernachlässigt

 Zeitungsleser:innen nach der Urteilsverkündung der Nürnberger Prozesse, 1. Oktober 1945 (Foto: Unbekannt auf wikimedia commons)

Die Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind für Antworten auf die Fragen nach Krieg und Frieden die wichtigsten. Halb Europa war von Deutschen zerstört. Die Juden in Europa nahezu vernichtet. Polen ein Trümmerhaufen. Die Nazis hatten die polnische Nation auszurotten versucht. Abermillionen auf der Flucht. In dieser Zeit wurden während der Nürnberger Prozesse weitreichende Festlegungen getroffen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert und in Anklagen formuliert. Es wurden Verbrecher verurteilt, die sich gegen die Menschheit insgesamt vergangen hatten.

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Flugkörper marsch?

Offizieller Bildtitel: „Krim-Brücke nach der Explosion 2022“
(Foto: „Abteilung für Information und Pressedienst des Präsidenten der Republik Krim“ auf wikimedia commons)

Eine hitzige Debatte gilt der Frage, ob die Ukraine Marschflugkörper aus dem Bestand der Bundeswehr erhalten soll. Es handelt sich nicht einfach um eine Neuauflage der Streitigkeiten, die um die Lieferungen der Haubitze 2000 oder des Leopard-Panzers ausgetragen wurden, obwohl die Kontrahenten und ihre Argumente die gleichen geblieben sind. Bisher konnten die Befürworter des Konzepts „Frieden schaffen mit mehr Waffen“ (Michael Roth, SPD) nämlich darauf vertrauen, dass sie sich letztlich durchsetzen würden, wenn auch „zu spät“ und „ohne ausreichende Munition“, wie Kiew nie zu mahnen vergaß. Diesmal scheint es anders zu sein. Der Bundeskanzler hat sich festgelegt. Er will den Taurus nicht hergeben.

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Dialogischer Stil, dogmatischer Inhalt

Screenshot: youtube

Als Alt-Grüner habe ich lange mit den Auftritten vieler Grünen-Politiker:innen gehadert. Niemand hat mich daher so für sich eingenommen wie Robert Habeck. Er formuliert Dilemmata, geht auf Gegenpositionen zumeist sogar freundlich ein, demonstriert Bescheidenheit und zeigt Verletzlichkeit. Vom äußeren Ton her wirkt auch seine Osteransprache 2024 so. Aber während er sonst ehrlich auf die eigentlichen Fragen und Spannungsverhältnisse kommt, übertüncht er hier die eigentlichen Fragen, betoniert Dogmen und vermeidet die Frage nach dem Ausgang des Ukraine-Krieges.

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Brandmauer oder Brandbeschleuniger? Der Entwurf des neuen CDU-Grundsatzprogramms. Teil 3: Radikal rechts

© Kostas Koufogiorgos

Die „deutsche Leitkultur“ feiert im CDU-Programmentwurf ein Fest. Der von Deutschland geforderte „Mut zu seiner Leitkultur“ ist nicht nur sprachlich eine merkwürdige Konstruktion, sondern auch inhaltlich unbestimmt und manipulativ zu nutzen. Ausdrücklich wird festgestellt, anders als im Grundsatzprogramm 2007, dass Leitkultur weit mehr umfasst als das Grundgesetz. Das „Mehr“ ist nebulös beschrieben als „das gemeinsame Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit, das durch Gesetze nicht erzwungen werden kann, aber eine unverzichtbare Voraussetzung für Zusammenhalt“ sei. Dieses Mehr verlangt auch „Verständnis für Tradition und Bräuche, des ehrenamtlichen Engagements und Vereinslebens, der deutschen Kultur und Sprache sowie unserer Geschichte„. Es sind gefährlich schwammige Formulierungen, die Tür und Tor für Abgrenzung und Ausgrenzung öffnen, statt zu Willkommenskultur und Integration.

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Brandmauer oder Brandbeschleuniger? Der Entwurf des neuen CDU-Grundsatzprogramms. Teil 2: Gewohnt konservativ

Auch andere sagen „Ja zu Deutschland“ (Screenshot AfD Kreisverband Wittenberg)

Eine knappe und pauschale Problembeschreibung steht am Beginn des CDU-Programmentwurfs. Den Problemen wird von Anfang an das stolze „Ja zu Deutschland“ (S. 6, Z. 168f.)1 entgegengestellt: „Wir sind stolz auf Deutschland. Deutschland ist unsre Heimat, die uns Zugehörigkeit und Orientierung, Vertrautheit und Geborgenheit gibt. Wir sind stolz auf unser vielfältiges kulturelles Erbe, die abwechs-lungsreiche Natur- und Kulturlandschaft, das lebendige Brauchtum.“ (S. 31, Z. 896 ff.) Heimat und Patriotismus, Kultur und Geborgenheit sind die Schlüsselwörter, sind Selbstverständnis und politisches Programm. Bemerkenswert ist, dass in den konkreten Politikbereichen offenkundige wirkliche Probleme nicht erwähnt und beschrieben sind. Die Aussagen und Forderungen des Entwurfs lassen auf eigenartige Weise offen, ob die so gezeichnete schöne Welt Zielvorstellung oder Realitätsbeschreibung ist, so dass man sich je nach Opportunität entscheiden kann.

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Brandmauer oder Brandbeschleuniger? Der Entwurf des neuen CDU-Grundsatzprogramms. Teil 1: Vorläufer

Bild, 1947: CDU auf wikimedia commons

Die CDU steht im Wahljahr 2024 – mit der Europawahl und drei Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern – besser da als konservative Parteien in vielen anderen Ländern Europas. Dort ist die rechte Mitte in sich zerstritten oder unter dem Ansturm rechtsradikaler, autoritärer und populistischer Parteien marginalisiert. Aber erstmals sehen sich auch in Deutschland die Unionsparteien von einer rechtsextremen und populistischen Partei herausgefordert, die lokal und regional nicht auf einen einmaligen Wahlerfolg begrenzt ist. In dieser Situation bereitet die CDU seit 2018, angestoßen von der damaligen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, ein neues Grundsatzprogramm vor. Die Frage ist, ob die CDU mit dem erkennbar konservativ zugespitzten Profil als demokratische Bastion gegen den Wählerzustrom zum autoritären Rechtspopulismus fungieren kann oder ob sie mit Aussagen des Programms die Drift nach Rechtsextrem befördert bzw. verbreitert.

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„Grim-Grom“ und die schwer erträglichen Hängepartien

Bild: Russische Post auf wikimedia commons

Vielleicht sitzt Wladimir Wladimirowitsch heute im Kreis seiner Getreuen, reibt sich die Hände, sagt in die Runde: Gut gemacht. Die Deutschen streiten sich. Er lässt die Füßchen vor lauter Freude ein wenig baumeln. Denn er hat die Schuhe abgestreift, die mit den high Heels für Männer, so dass er mit seinen 163 Zentimetern den Boden nicht mehr erreichen kann. Sogar die Profs kritisieren nun den Olaf, sagt er in die Runde. Professoren, fragt jemand? Ja, Professoren, antwortet Wladimir, hast Du das nicht mitbekommen? Er schüttelt den Kopf. Ein Glück, dass die bei uns nichts zu sagen haben, was? Man reicht ihm den Ausriss aus einem deutschen Blog, in welchem zu lesen ist: „Der Afghanistan-Moment in der westlichen Unterstützung der Ukraine ist erreicht.“ Man nickt in die Runde. Ja, ja. Dann werden wir unsere Ziele wohl erreichen, sickert als Botschaft in die Köpfe der Männerrunde.

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„The Zone of Interest“: Verschobene Maßstäbe

Christian Friedel (Rudolf Höß) und Sandra Hüller (Hedwig Höß)
(Foto: Raph_PH auf wikimedia commons)

„Interessengebiet“, so hieß die Sperrzone der SS rings um das Konzentrationslager Auschwitz, heute die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. „The Zone of Interest“ heißt sprachdistanziert der Film, der, mit Preisen und cineastischem Lob überschüttet, zum intellektuellen Kultfilm über den Holocaust, die planvolle Vernichtung des europäischen Judentums, gemacht werden könnte und von Teilen der Filmkritik bereits gemacht wird. Vom Sound (ausgezeichnet mit einem Oscar) bis zur Bildästhetik der knallroten Dahlie aus dem Prachtgarten der Hedwig Höß an der KZ-Mauer reicht die Begeisterung: Sekundenlang verwandelt sich die Blume der „Königin von Auschwitz“ (so Kommandant Rudolf Höß über seine Gattin) und färbt die Leinwand blutrot. Die Millionen Toten, die Vergasten, die Verscharrten, die Ausgebeuteten bleiben unsichtbar und ungenannt: In den über anderthalb Stunden fällt das Wort „Jude“ ein einziges Mal bei einer Lagebesprechung in Oranienburg. Das Verbrechen gegen die Menschheit findet statt, hinter der Mauer, die Hedwig Höß mit Wein beranken möchte.

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Die Rente, der Geldfetisch und ein Börsenneuling

Bild: geralt auf Pixabay

Die Bundesregierung, vom Verfassungsgericht aufgefordert, ihren Haushalt nicht mit weiteren Schulden zu belasten, wird sich für ihre Aktienrente pro Jahr mit mehr als 12 Milliarden verschulden, eine in zehn Jahren auf 200 Milliarden Euro anschwellende Summe. Die Ampelregierung wird Börsenneuling. Wer einem Novizen des Aktienhandels mit guten Tipps wohl will, rät ihm mit der Regel Nummer eins: Nie Geld aufnehmen, um Aktien zu kaufen! Im Privatgeschäft gilt sowas als liederlich, aber im öffentlichen Geschäft soll es künftig als clever gelten. Private Laster sind öffentliche Tugenden – eine alte, bürgerliche Weisheit. Als Christian Lindner neulich vor die Presse trat und das erwartbare Wort vom Paradigmenwechsel sprach, hat er das Schuldenmachen gleich relativiert: Aus den Renditen der angelegten Milliarden ließen sich doch die Zinsen für die aufzunehmenden Kredite locker bestreiten.

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Dialektik von Aufgeregtheit, Aktionismus und Abstumpfung

Golfstrom (Bild: RedAndr auf wikimedia commons)

Für eine Reihe von Klimafachleuten sind die Zeiten einer unkalkulierbaren Zukunft angebrochen. Akshat Rathi von Bloomberg Green sagt zu den neuesten Klimadaten: »Der Februar ist auf dem besten Weg, beispiellose Hitzerekorde zu brechen«. Die globalen Temperaturen liegen „2,03 Grad Celsius über dem vorindustriellen Basiswert von 1850 bis 1900“. Unlängst hatte eine Studie zur Atlantischen Umwälzzirkulation, die Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC), herausgefunden, dass nicht nur die Temperaturen steigen, sondern die AMOC sich als instabil erweisen könnte. Das Bundesumweltamt erwartet „Kipppunkte und kaskadische Kippdynamiken im Klimasystem“. Und Germanwatch benennt Folgen: wenn der Golfstrom dem europäischen Kontinent keine Wärme mehr zuführt, werden „etwa 58 Prozent der weltweiten Ackerflächen, die derzeit für den Weizenanbau geeignet sind, sowie 59 Prozent der Anbauflächen für Mais  unbrauchbar“. Es ist nicht schwer vorherzusagen, was mit den Preisen für Grundnahrungsmittel passieren würde.

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Realpolitik ist zu Realitätsverlust geworden

Thwaites Gletscher in der Westantarktis (Foto: NASA auf wikimedia commons)

#1 Wo stehen wir? Auf dünnem Eis. Sorry für den schlechten Witz, aber es gibt Neuigkeiten zum weltgrößten Gletscher, dem Thwaites, dessen Abschmelzen Folgen für die gesamte Welt hätte. Oder sagen wir: hat. Denn er schmilzt ja und darüber weiß man jetzt mehr als zuvor. Eine andere Studie zeigt, wie die sich durch Klimawandel häufenden Hitzetage das Risiko für Frühgeburten deutlich erhöhen und wie Maßnahmen der Klimaanpassung den Effekt wiederum kleiner halten. Auch die in so genannten Sozialen Medien mit eindringlichen Mahnungen herumgereichten Grafiken werden nicht seltener, auf denen man die roten Linien aktueller Klimadaten weit über den Rekordkurven des letzten Jahres sieht.

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Rückwärtsgewandte Familien- und Geschlechterpolitik

Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Zum Selbstbild der Deutschen gehört, dass heutzutage eine Art tolerante Koexistenz von unterschiedlichen Familienformen existiert: Neben den klassischen Kernfamilien finden sich nicht eheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-, Stief- und Regenbogenfamilien mit und ohne Migrationshintergrund, aber auch die Lebensform von Alleinerziehenden, in 9 von 10 Fällen sind es Mütter mit ihren Kindern. Auf den ersten Blick erscheint die Buntheit dieser Lebensformen als ein Zugewinn an Freiheit, selbst entscheiden zu können, wie man den Alltag mit Kindern gestaltet. Tatsache ist jedoch, dass 13 Prozent der staatlichen Familienleistungen in Deutschland an die reichsten zehn Prozent der Privathaushalte fließen, den untersten zehn Prozent der Privathaushalte in Armutslagen aber lediglich sieben Prozent der familienpolitischen Ausgaben zu Gute kommen.1

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Glückseligkeit im Jenseits, Macht im Diesseits

Gleich vorweg: Ich bin gottlos glücklich! Schon als Siebzehnjähriger habe ich den Hort der „Heiligen Kirche“ auf schnellstem Weg verlassen. Zuviel kam da zusammen: die absurde Apfelgeschichte aus dem Paradies, die kruden Erzählungen von Gottes Leihmutter Maria, vom heiligen Geist und einem doppelten Schöpfer, der aus Jesus und seinem Vater bestand; allerlei abstruse Auferstehungs- und Wundergeschichten, dazu die ständige Sünden-Drohung samt (freilich nicht mehr funktionierender) Erzeugung und Nutzbarmachung des schlechten Gewissens.

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bruchstücke