Thesen zu einer neuen Russland-Politik der Sozialdemokratie

Egon Bahr, Ibrahim Böhne und Willy Brandt am 27. Januar 1990 auf dem SPD-Parteitag in Erfurt (Foto: Heinz Hirndorf auf wikimedia commons)

Die SPD (und mit ihr weitgehend das politische Spektrum der Linken) war und ist teilweise auch noch heute in den tradierten Vorstellungen ihrer durchaus erfolgreichen Entspannungs- und Friedenspolitik befangen, wie sie vor allem von Willy Brandt und Egon Bahr konzipiert und repräsentiert wurde. Diese Politik hat seit rund drei Jahrzehnten keine realen Grundlagen mehr. Es ist notwendig, sich mit der gesellschaftspolitischen Konstellation in Russland und mit den polit-ökonomischen Bedingungen des Oligarchen-Kapitalismus (Crony Capitalism oder auch Cronyism) auseinander zu setzen. Dazu fünf Thesen.

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Putin geht es um weit mehr als die Unterwerfung der Ukraine  

Herr Wittkowsky, Sie haben sich intensiv mit der Frage der Nationalstaatsbildung in der Ukraine beschäftigt. Haben Sie erwartet, dass das nationale Bewusstsein sogar so stark ist, dass sich zig Millionen BürgerInnen der Ukraine unter Einsatz ihres Lebens gegen ein übermächtiges feindliches und offenbar zum Teil brutales, kriegsverbrecherisches Militär für die Freiheit ihres Landes einsetzen?

Andreas Wittkowsky: Ja. Auch wenn wir uns das in unserer post-heroischen Nachkriegskultur oft nicht vorstellen können. Denn die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen: Hier geht es ums Ganze. Um Freiheit, Selbstbestimmung, um ein Leben in Würde und Frieden. Unser eigenes Bekenntnis zu den „europäischen Werten“ kommt uns oft recht locker über die Lippen in der Erwartung, selbst niemals dafür kämpfen zu müssen. Ein Großteil der Ukrainer ist bereit, hierfür ihr Leben einzusetzen. Weder wollen sie vom immer diktatorischer regierten Russland Wladimir Putins „befreit“ werden, noch in einem Vasallenstaat von seinen Gnaden leben.

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„Wir beten jetzt alle“

20. März 2022. Am Wochenende konnten wir endlich mal wieder raus, obwohl am Sonntag Gefechtslärm von Bodenkämpfen zu hören war, nicht wie sonst von Raketenangriffen. Unsere Tochter Sofia konnte in einem Park in der Nähe mit anderen Kindern spielen und toben. Sonst trifft sie sich nur mit Kindern von Nachbarn in unserem Haus, um Zeit miteinander zu verbringen und am Computer zu spielen, obwohl mir das nicht so gefällt.

Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven.
Das erste Gespräch hat den Titel „Die Sirenen heulen meist nur nachts„.

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Stunde der Helden, Tage der Toten

Bild: debeste.de | Intromusik: terrasound.de

Der Konflikt hat seine eigenen Gesetze, sie gelten im Kindergarten genau so wie in der großen Politik. Konflikte, die man laufen lässt, eskalieren, bis es Sieger und Verlierer geben muss, bis die Gewalt explodiert. Mit dem Krieg kommen die Tage der Toten, Feiglinge und Verräter werden entlarvt, die Stunde der Helden schlägt. Für den ganzen Wahnsinn fehlen die Worte – aber nicht das Wissen darüber, wie er entsteht.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

Weitere Folgen von ‚Auch das noch!‚ zum Hören gibt es hier, wer nachlesen möchte, findet hier einen monatlichen Rückblick.

Zeitenwenden im Gestaltwandel der Moderne

Foto: Fabian Arlt

Theoretisch – leider nur sehr theoretisch – könnte die Ampel in Regierungsverantwortung mit über 30jähriger Verspätung endlich jenen „Gestaltwandel der Moderne“ (Ulrich Beck) einleiten, von dem die Zukunftsdebatten in Westdeutschland gehandelt haben, bevor sie abrupt vom Triumph der „Kapitalistischen Demokratien des Westens (KDW)“ (Claus Offe) am Ende des kalten Krieges abgewürgt wurden. Es waren namhafte Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, wie aber auch erfahrene Praktiker und Praktikerinnen in unterschiedlichen Bereichen, u.a. den Gewerkschaften, den Kirchen, sozialen und kulturellen Einrichtungen, vereinzelt auch UnternehmerInnen und ManagerInnen, die sich Gedanken über mögliche Wege in eine „andere Moderne“ machten. Denn längst waren nicht nur „Grenzen des Wachstums“ sichtbar geworden, sondern das westliche Entwicklungsmodell schien an einem Punkt angelangt, an dem sich die Tendenzen der Vergangenheit nicht mehr in die Zukunft verlängern ließen: nur noch Utopien schienen realistisch (Oskar Negt).

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Russlands Krieg mischt Frankreichs Wahlkampf auf

Putins Krieg in der Ukraine löst in Frankreich Unruhe, Entsetzen, Ängste und Katerstimmung aus: Vier Wochen vor der ersten Runde um die Präsidentschaft scharen sich Bürgerinnen und Bürger, die auf jeden Fall wählen wollen, um Emmanuel Macron, den „président sortant“, den scheidenden Präsidenten. Die konservative Kandidatin Valérie Pécresse und der rechtsradikale Eric Zemmour rutschen in der Wählergunst spürbar bis dramatisch ab. Und erstmals überspringt der alternde Volkstribun der Linken, der zum dritten Mal kandidierende Jean-Luc Mélenchon der Partei die „Unbeugsamen“, die zehn Prozent Hürde.
Was ist seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine zwischen Paris und Marseille geschehen? Was spiegeln die monatlichen Umfragen? Wie reagieren die bisherigen Putinbewunderer von der Rechtsaußen Marine le Pen bis zum Republikaner Francois Fillon auf die Bomben und Raketen, auf die vielen Toten und Verletzten, auf die Millionen flüchtender Frauen und Kinder?

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„Die Sirenen heulen meist nur nachts“

Heute, Donnerstag, 17. März 2022, war ein ziemlich ruhiger Tag. Es gab kaum Luftalarm, zumindest bei uns hier. Die Sirenen heulen meist in der Nacht, dann kommen die russischen Raketen und Bombenflugzeuge. Als unser Präsident per Video zum Deutschen Bundestag sprechen wollte, musste das verschoben werden, weil es russische Raketenangriffe im Zentrum gab und wohl eine Leitung beschädigt wurde. Bei uns ging der Alltag halbwegs normal weiter. Wir mussten uns nicht in Sicherheit bringen. Mein Vater, der mit meiner Mutter im Norden lebt, rief trotzdem an, um zu hören, ob wir Drei noch leben.

Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rand der ukrainischen Hauptstadt. In einem Skype-Gespräch mit Ludwig Greven schildert sie ihren Kriegsalltag in ihrer von Vernichtung bedrohten Heimat. Greven gibt Inhalte des Gesprächs hier wieder. „Ich werde am Wochenende wieder mit ihr skypen – wenn sie dann noch leben und es noch funktioniert.“

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Schienenbrücke aus der Ukraine  

Flüchtlingshilfe am Berliner Hauptbahnhof, 5. März 2022 (Zwei Fotos: Leonhard Lenz auf wikimedia commons)

Wenn die Nato aus guten Gründen keine Flugverbotszone errichten will, um die Ukrainer vor dem russischen Terrorbombardement zu schützen, sollten wenigstens Kinder, Frauen und Alte gesichert aus dem Land geholt werden. Jeder wird sich an die Bilder erinnern: Als die Taliban vor einem halben Jahr Afghanistan zurück eroberten und die USA, die Nato und auch die Bundeswehr die Menschen Hals über Kopf nach 20 Jahren Krieg ihrem Schicksal überließen, retteten sie immerhin einige Tausend mit einer Luftbrücke aus Kabul.

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Die Innenstadt, geht sie kaputt oder neue Wege  

Photo by freestocks on Unsplash

Es war der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der mal wieder Alarm schlug. „Das Sterben der Innenstädte ist in vollem Gang“, notierte er in einem Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihren SPD-Stellvertreter Olaf Scholz. Unterschrieben hatten auch die Kollegen aus Schorndorf und Schwäbisch-Gmünd. Das war vor knapp einem Jahr. Die zweite Welle der Pandemie, der damit verbundene Lockdown und der Umsatzeinbruch für Gastronomen, Kulturszene und Handel hatte die Stadtoberen aufgerüttelt. „Uns erreichen verzweifelte Briefe von Gewerbetreibenden und Kulturschaffenden“, berichteten die drei Schwaben, mahnten, „tote Stadtzentren rütteln an den Grundfesten unseres Gemeinwesens“ und forderten einen „Marshall-Plan für die Innenstädte“.

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Zeiten der Demagogie, der falschen Erzählungen, der Lügen  

Bild: Matryx auf Pixabay

Nicht umsonst lautet ein bekanntes Sprichwort: „Das erste Opfer in einem Krieg ist immer die Wahrheit!“ Kriegszeiten sind Zeiten der Desinformation, der falschen Erzählungen, der verdrehten Worte, aus denen sich propagandistisches und politisches Kapital schlagen lässt. Vulgo: Zeiten der Lüge. Und zwar auf allen Seiten.

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Willkommen in Absurdistan  

Intromusik: terrasound.de

Am zehnten Tag seines Angriffskrieges gegen die Ukraine besuchte Putin eine Flugschule der Aeroflot. Bei Tee und eingefrorener Freundlichkeit plauderte er über Kriegsrecht, Flugverbotszonen und katastrophale Konsequenzen für die ganze Welt. Die anlässlich des Weltfrauentages zu Komparsinnen degradierten Frauen lächelten. „Jenny Jenny, Wolkenreiter, lächelt einfach immer weiter, so wie alle Flugbegleiter“ (AnnenMayKantereit).

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

Weitere Folgen von ‚Auch das noch!‚ zum Hören gibt es hier, wer nachlesen möchte, findet hier einen monatlichen Rückblick.

Der Krieg in den Netzwerken

Alice Lex-Nerlinger: Feldgrau schafft Dividende, 1931.
Neue Nationalgalerie Berlin (Foto: Fabian Arlt)

Der Krieg in der Ukraine, ein eindeutiger Verstoß gegen das Völkerrecht, der unzählige unschuldige Opfer fordert, findet nicht nur am Boden statt, sondern auch in den Netzwerken, den sozialen, aber auch denen von Information, Finanz und Politik. Der Versuch einer Zwischenbilanz der Netzwerk-Konflikte hat zwei Aspekte zu berücksichtigen: auf der einen Seite Volatilität und Elastizität und auf der anderen die schiere Größe der Plattformen sowie den damit verbundenen Netzwerkeffekt. Schauen wir näher hin.

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Der Ukrainekrieg – Anfang vom Ende der Ära Putin

Über Russlands/Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine mit all seinen jetzt schon verheerenden Folgen herrschen tiefe Verzweiflung und Ohnmacht. Daher sind die Forderungen von Präsident Selensky und aus der ukrainischen Zivilgesellschaft, die NATO solle eine Flugverbotszone einrichten, um wenigstens den Beschuss des Landes durch die russische Luftstreitkräfte zu beenden, nachvollziehbar. Dennoch wäre es falsch, weil hochgefährlich, diesen Forderungen nachzugeben.

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Atomkraftwerke sind nicht zu verteidigen

Stele am Eingang der Stadt Enerhodar (Foto: 2019, Wladoff auf wikimedia commons)

In der Nacht vom 3. auf den 4. März ist es tatsächlich passiert. Erstmals ereignete sich eine militärische Auseinandersetzung auf dem Gelände einer Atomanlage. Schauplatz des Geschehens war das Atomkraftwerk Saporischschja, am Standort Enerhodar im Südosten der Ukraine gelegen. Mit sechs Reaktoren alter sowjetischer Bauart ist es nominell das größte AKW in Europa. Außerdem wird der im Werk angefallene hochradioaktive Atommüll an Ort und Stelle gelagert. Entsprechend massiv ist das strahlende Inventar, das sich dort befindet. Schon zwei bis drei Tage zuvor hatte die russische Armee die Einnahme von Enerhodar gemeldet. Ihre Truppen hatten in der Region aus militärischer Sicht die Kontrolle übernommen und alle wichtigen Knotenpunkte besetzt. Doch zunächst verzichteten sie darauf, das Rathaus des Atomdorfs zu stürmen oder das AKW zu besetzen.

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