„Dass sich Abgeordnete der Unionsparteien im Zuge der Pandemie schamlos bereichert haben, hat viele ihrer weniger begüterten AnhängerInnen zutiefst verstört.“ Bild: Screenshot BR24
Im Maschinenraum des SPD-Wahlkampfes wird gute Arbeit geleistet, sagt der erfahrene Kampagnenmanager Volker Riegger. Ganz im Unterschied zur erstaunlichen Planlosigkeit der machtpolitisch so gut trainierten Unionsparteien. „Sie scheinen jetzt den Preis zu zahlen für die systematische Politik-und Konflikt-Entwöhnung, mit der ihnen Frau Merkel so viele Jahre lang die Macht gesichert hat“, analysiert der Professor für strategische Planung auf Fragen von Hans-Jürgen Arlt.
Der „gesellschaftliche Zusammenhalt“ wird landauf, landab beschworen: Von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in millionenschweren Forschungsprojekten, von Wahlkämpfern von Links bis Rechts, in den so genannten sozialen Medien und nicht zuletzt vom Bundespräsidenten. Die beiden Wörter signalisieren, dass etwas in Deutschland zu verkümmern droht oder bereits verkümmert ist. Gemeint ist das Denken und Handeln nicht nur für sich selbst, sondern für die und mit den Anderen. Dafür gibt es das schöne Wort Gemeinwohl, das Fundament für eine lebendige Demokratie. In zwei Urteilen innerhalb von fünf Monaten haben die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe die bisherigen wolkigen Formeln geerdet. Es sind unerhörte Töne, die vom ersten Senat im März und im August ausgestrahlt wurden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel macht es nach und gibt es vor: Weil sie mit ihrer Warnung vor einem „Linksrutsch“ ihre Stammwählerinnen und -wähler mobilisieren wolle, die von der Kür Armin Laschets eher demotiviert seien, hätten CDU/CSU die Partei Die Linke ins Wahlrennen zurückgeholt, analysiert der Sozial- und Wahlforscher Horst Kahrs im Interview mit Wolfgang Storz. Wie aussagekräftig sind überhaupt die momentanen aufgeregten medial-demoskopischen Aktivitäten?
Zwei Tage nach der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag wird das Bundesverfassungsgericht siebzig Jahre alt. Genauer gesagt: Am 28. September 1951 wurde es in Anwesenheit von Bundespräsident Theodor Heuss und Bundeskanzler Konrad Adenauer offiziell eröffnet, hatte aber der Dringlichkeit wegen schon Anfang September eine erste Entscheidung zu treffen. Ein Rückblick auf die Geschichte und Entwicklung des Gerichts ermöglicht eine kritische Gegenwartsdiagnose: Um welche Freiheiten und Freiheitsgrade geht es eigentlich, und was nehmen die Bürger:innen davon wahr und für sich in Anspruch? So stabil das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten ist, so labil erweist sich der „soziale Zusammenhalt“ gerade jener, die sich emphatisch auf ihre Grundrechte berufen.
Im August gewinnt die SPD sieben Prozent, die Union verliert acht. Kurz vor dem Finish haben sich die Verhältnisse verkehrt. Wie stabil ist das Hoch der gemerkelten SPD? Kommen Baerbock und Laschet doch noch aus der Tiefe des Wellentals? Horand Knaup und Wolfgang Storz mit interessanten Thesen — wie immer mal besser, mal schlechter begründet.
Heiß sei ab sofort der Wahlkampf, heißt es, die Urnen geraten in Sichtweite: Plakate, Fernsehspots, Trielle machen sich breit. Und ausgerechnet jetzt mehren sich die Hinweise: Die vielen Menschen draußen im Lande verstehen die zur Wahl stehenden Menschen (schon in Machtzentren zuhause oder noch am Zaun rüttelnd) gar nicht.
Wahlberechtigte, die keine Wohnung innehaben (so steht es auf der Website der Bundeswahlleitung), werden nur auf eigenen Antrag in ein Wählerverzeichnis eingetragen. […] Wenn ein Wohnungsloser in das Wählerverzeichnis eingetragen ist, kann er auch wie jeder andere Wahlberechtigte an dem Briefwahlverfahren teilnehmen.
Foto: Bianca Ackermann auf Unsplash
Ist Freiheit auch für wohnungslose, nicht sesshafte Menschen ein großes Thema? Menschen ohne festen Wohnsitz, Menschen ohne Zuhause, Menschen, die vagabundisch unterwegs sind, Nomaden der Neuzeit – Mobilität als Lebensentwurf und als Schicksal, es sind viele, die es betrifft. Mit einzelnen von ihnen bin ich im Gespräch, auch über das Thema Freiheit.
Wo gibt es Vorbilder? Die heute bereits zeigen, wie wir leben, arbeiten, wohnen, uns fortbewegen, produzieren, ohne die Natur (und uns) zu ruinieren? In vielen Städten ist dieser Wohlstands-Fortschritt, sind diese kleinen Transformationen schon zu erleben. Leider meist im Ausland, weniger bei uns.
Die „Bicycle Snake“ ist eine Brücke durch den Kopenhagener Hafen und nur für Radfahrer zugelassen. Nachts leuchtet der orangefarbene Boden. (c) Cycling Embassy of Denmark, DISSING+WEITLING. Screenshot https://www.diamantrad.com/blog/fahrradstadt-kopenhagen/
Die USA, Deutschland und die Nato sind mit ihrem Modellprojekt, in Afghanistan Demokratie und Menschenrechte mit militärischen Mitteln durchzusetzen, grausam gescheitert. Die Welt richtet sich immer weniger nach westlichen Werten. Trotzdem: War in Afghanistan alles umsonst? Sicher nicht. Denn was die westlichen Entwicklungshelfer und NGOs dort gesät haben, wird irgendwann, wenn der jetzige Alptraum vergangen ist, hoffentlich Frucht tragen. Entwicklung, Freiheit, Demokratie und Versöhnung können jedoch nur von innen wachsen.
Unter dem Titel „Erst politisch gescheitert, dann militärisch verloren“ veröffentliche die Bundeszentrale für politische Bildung im April 2016 einen Meinungsbeitrag des Friedens- und Konfliktforschers Jochen Hippler. Wir übernehmen Hipplers Analyse auf bruchstücke, weil uns deren Erklärungskraft für die heutigen tragischen Geschehnisse in Afghanistan beachtlich erscheint. Aus der Perspektive politischer Theorie könnte der Bogen noch weiter gespannt werden. Neben der Klima-Krise und der Corona-Pandemie (auch an den Zusammenbruch des realen Sozialismus wäre zu denken) ist das Afghanistan-Desaster ein weiterer Fall, der die große Frage aufwirft, weshalb modernes Regieren so sehr von Realitätsverweigerungen lebt – bis der Kollaps kommt. Jochen Hippler meinte vor fünf Jahren, die stärkste Militärmacht der Welt habe den Krieg gegen vielleicht 35.000 schlecht bewaffnete Kämpfer politisch verloren. Die Ursachen lägen in den komplexen Machtverhältnissen in der afghanischen Gesellschaft und dem mangelnden Verständnis der NATO für den Charakter des Krieges am Hindukusch. Im Folgenden seine Analyse.
Eine leicht zugängliche Orientierung über Aktualitäten auf dem Buchmarkt für politische Literatur liefert das Magazin „Andruck“, das der Deutschlandfunk montags von 19.15h bis 19.59h ausstrahlt. Die Sendungen stehen als Podcasts jederzeit zur Verfügung. Das sozialwissenschaftliche Nachrichtenportal soziopolis urteilte zurecht: „Die theoretische ‚Flughöhe‘ der Besprechungen bleibt zu Gunsten einer Orientierung an einzelnen Phänomenen, Geschehnissen oder Personen allerdings meist gering.“ Aber dass ein Massenmedium eher populär als wissenschaftlich informiert, kann keine unangenehme Überraschung sein. In der Sendung vom 23. August 2021 werden unter anderem vorgestellt: Herfried Münklers vielfach rezensiertes Buch über das „Trio infernale“: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“, Rowohlt Verlag sowie Elizabeth Kolbert: „Wir Klimawandler. Wie der Mensch die Natur der Zukunft erschafft“, Suhrkamp Verlag und Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz (Hrsg.): „Coronakratie. Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten“, Campus Verlag. Fortgesetzt wird der Blick auf den Wahlkampf: „Das Wahlprogramm als Politische Literatur – Teil 3: AfD“.
Und noch ein Klimareport, der uns mahnt, droht, zum Fürchten bringen kann … Die unaufgeregteren Kommentatoren bestreiten nichts von dem, was dort von einer unverdächtigen globalen Wissenschaftler-Gilde analysiert wurde. Aber viele Kommentare sagen auch: Es ist nichts mehr gänzlich aufzuhalten. Wir müssen uns dem stellen, was unvermeidlich ist, ohne das zu lassen, was das Schlimmste verhindert. Aber was bleibt zu tun? ‚Duck and cover‘, wie es einst in den USA hieß, um sich gegen einen Atomwaffenangriff zu schützen? Es geht eher um eine Offensive. Aber keine, die bremst, sondern unsere Stärken nutzt und dabei bekannte Fehler vermeidet.
Zur Freiheit, anders und weiter zu denken, gehört auch der Mut zu futuristischen Visionen. (Giancarlo Zema Designgroup, Pressebild)
Gehen wir davon aus, weltweit, also auch bei uns gehören die Finanzmärkte zu den drei, vier Mächten, die das Geschehen mitprägen, im Zweifel den Ausschlag geben. Dann sollten wir gerade in diesen Wahl-Monaten BlackRock, AGI und Nikolai Kondratieff mindestens genauso viel Aufmerksamkeit schenken wie Olaf Scholz, Armin Laschet und Annalena Baerbock.
Was dem Planeten hilft, nützt nicht notwendig der geistigen Gesundheit der Beschäftigten und der Qualität ihrer Arbeitsbeziehungen. Eine Möglichkeit, ökologisch Richtiges und sozial Förderliches zu realisieren, ist ein ausgefeilterer Einsatz von Technologie, der virtuelle Arbeit verbessern kann. Viele Unternehmen, die im letzten Jahr online gehen mussten, stürzten sich darauf, Videokonferenzen für alles zu nutzen. Aber andere Tools funktionieren gut für verschiedene Aufgaben. Bei LeanIn.Org, einer Organisation, die sich der Förderung der Zusammenarbeit berufsrufstätiger Frauen widmet und die schon lange vor der Pandemie die Arbeit aus der Ferne förderte, arbeiten die Teams auf Google Docs. Das ermöglicht ein gemeinsames, aber „asynchrones“ Arbeiten. Die Frauen arbeiten dort zusammen, aber in ihrer eigenen Zeit an einer Aufgabe. Meetings beginnen mit einem stillen Brainstorming mit Jamboard, einem virtuellen Whiteboard. Ziel ist es, sagt Rachel Thomas, die Chefin der Gruppe, auf verschiedene Arten zu kommunizieren, um unterschiedliche Menschen einzubeziehen – langsame und schnelle Denker, verbale und visuelle Lerner, Introvertierte und Extrovertierte.
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, sagt unser Grundgesetz im Artikel 2. In dieser Formulierung drückt sich das ganze Drama des Freiheitsverständnisses aus, um das sich die Auseinandersetzungen drehen, auch in diesem Bundestagswahlkampf. Wie Phönix aus der Asche tritt das freie Individuum auf die Weltbühne, während die politische Ordnung, das Soziale und die Kultur – Natur kommt gar nicht vor – zu Freiheitsschranken degradiert werden. Unterschlagen, völlig ausgeblendet wird dabei, dass die politische, soziale, kulturelle, natürliche Umwelt zugleich und überhaupt erst die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheiten schafft. Freiheit ist weder voraussetzungs-, noch folgenlos zu haben. Wer das ignoriert, provoziert unproduktiven und destruktiven Streit. Konflikte entstehen immer, wenn es um Freiheit geht, aber nicht notwendig so irreführende.