(N°7) Ein Jahr Pandemie: Wie angeschlagen ist unsere Psyche?

Foto: J. Rotter|Intromusik von terrasound.de

Die meisten schränken sich ein, strengen sich an. Aber: Wo ist der Lohn? Die Infektionszahlen sinken im Schneckentempo, die Massenimpfung verzögert sich. Zermürbend. Was hilft der angeschlagenen Psyche?
Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch mit Leonhard Schilbach, Psychotherapeut und Psychiater.

Von der Katastrophe zum Mythos

„Eines der tragenden Fundamente jedes modernen Staates ist sein Bildungssystem. Niemand müsste das besser wissen als die Deutschen.“
„Bildung gilt als Allheilmittel für fast alle gesellschaftlichen Missstände.“

Zwischen diesen Feststellungen liegt ein halbes Jahrhundert. Mit den ersten beiden Sätzen leitete der Altphilologe Georg Picht in der Mitte der 1960er Jahre „Die deutsche Bildungskatastrophe“ ein, eine Artikelserie im damaligen protestantisch-bildungsbürgerlichen Leitmedium „Christ und Welt“. Er schockte die behäbige, reformunwillige Adenauer-und Erhard-Republik, forderte die Verdoppelung der Abiturientenzahlen, Mittelpunktschulen im ländlichen Raum, um den „katholischen Mädchen“ eine Chance zu geben, eine Kehrtwendung im Lehrerberuf. Mit dem Hinweis auf das Allheilmittel Bildung beginnt Aladin El-Mafaalanis Erfolgs-Buch seine Betrachtung des heutigen deutschen Bildungssystems. Er macht aus der Katastrophe von einst einen Mythos: nach fünfzig Jahren „Reförmchen“ herrschten nach wie vor Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Schule und durch die Schule.

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Denkblockaden und Sprechverbote der Kurzschluss-Moral

Bild: torstensimon auf pixabay

Sich empören zu können, ist wichtig. Weil es ohne Empörung keinen wirksamen Aufstand gegen zynische Machtanmaßung und dreiste Privilegien gibt. Empörung mobilisiert, auch weil sie eine starke Lustkomponente hat. Ohne die Lust sich zu empören, hätten wir wohl viel schlimmere politisch-gesellschaftliche Verhältnisse auf diesem Planeten. Moralische Empörung kann allerdings auch zum Gegenteil führen, zum gesellschaftlich Schlechteren. Empörung wird problematisch, wenn sie im Kurzschluss, im Reflex und ohne Abwägung der Zusammenhänge losbricht. Ich will diese Kurzschluss-Moral an zwei aktuellen Beispielen der Corona-Politik darstellen, an der Impf-Priorisierung und am Immunitätsausweis.

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Für ein (linkes) deutsches Publikum geht es hier hart zur Sache

Der „Karneval der Kulturen“ ist ein Straßenfest in Berlin-Kreuzberg, das seit 1996 jährlich um das Pfingstwochenende herum gefeiert wird. (Foto: MSchnitzler2000/ wikimedia commons)

Was verbindet die viel beschworene französische Laizität, diese strikte Trennung von Staat und Religion, mit dem deutschen Multikulturalismus und dem italienischen Machismo aus katholischer Tradition? Die italienische Philosophin, Bloggerin und Autorin Cinzia Sciuto verweist alle drei Themen in den Bereich des Glaubens und räumt mit starken Thesen linke Gewissheiten vom Tisch, für die Themen wie Identität, Religion oder radikaler Islamismus gern als „rechtslastig“ gelten und ausgeklammert werden.

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Mit höherem Mindestlohn gegen Rechtspopulismus?

Am 1. Mai 2019 in Hamburg (Foto: wikimedia commons)

Da in linksliberalen Kreisen in den USA, wie in Deutschland, Themen rund um Identitäten klassische soziale Fragen verdrängten, spielte die folgende Forderung von Joe Biden im dortigen Wahlkampf kaum eine Rolle, sie wurde auch bei uns kaum wahrgenommen: Er will in einem großen Schritt den nationalen Mindestlohn auf 15 Dollar erhöhen. Kann ein solches politisches Signal der Anerkennung gerade der prekären Arbeit gegen Rechtspopulismus helfen? Auch in Deutschland?

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(KW3) Abgang Trump, Antritt Laschet — Hat der Rechtspopulismus den Zenit überschritten?

Intromusik von terrasound.de

Wie rechtspopulistisch ist Friedrich Merz? Wird die AfD von der neuen Laschet-CDU profitieren oder verliert der Rechtspopulismus national wie international seine Anziehungskraft?
Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch.

Fundstücke der Woche:
1. Die Reichsten schaden dem Klima am meisten
2. Australiens Premierminister hält an Kohleförderung fest
3. „Die Pandemie ist kein Weltkrieg“
4. Die italienische Mafia liebt Deutschland

Die sieben parteipolitischen Hürden für Armin Laschet

Fotos: Pedelcs / CC BY-SA 3.0 und Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 / wikimedia commons

Es war eine Zäsur an diesem 16. Januar 2021, einem Samstag. Doch anders als geplant. Vorgesehen war ein Aufbruch nach über 18 Jahren Angela Merkel als Parteivorsitzende und einem Zwei-Jahres-Intermezzo von Annegret Kramp-Karrenbauer. Drei Männer standen im Ring, einer, der 59jährige Armin Laschet, obsiegte schließlich mit 52,8 zu 47,2 Prozent gegen Friedrich Merz. Doch war es wirklich die erhoffte Befreiung? Vieles spricht dagegen.

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Muss der Computer das Erbe des Buches demolieren?

Bild: Geralt auf Pixabay

Es geht um die Verteidigung des Kerns der Bibliotheken: das ungestörte monologische Arbeiten mit einer großen und geordneten Sammlung an Büchern und digitalen Medien. Ich habe ein ziemlich starkes Interesse daran, dass dieser Kern nicht aufgegeben wird. Manche aktuellen Tendenzen blockieren oder vernichten die Entwicklungspotenziale dieses Kerns; sie fördern die schädliche Neigung, einzuebnen und zu verflachen. Dann könnte in der Zukunft kein eigensinnig Anderes und Neues entstehen.

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Avocado oder Advokat – mit menschlicher und maschineller Übersetzung interkulturell unterwegs

Bild: Geralt auf Pixabay

Kenntnisse von Fremdsprachen sind global, aber auch innerhalb Europas die Bedingung der Möglichkeit sich zu verständigen. Deshalb überrascht es nicht, wie wenig der Tourismus  zum kulturellen Zusammenhalt in Europa beigetragen hat. Urlauber können ein Land besuchen, ohne Zugang zu den Menschen außerhalb der touristischen Zentren zu finden. Aber auch die Intellektuellen, die „europäische Werte“ in Konzepte gegossen haben, fanden keinen (nennenswerten) Zugang zur Lebenswelt großer Teile der Bevölkerungen. Können maschinelle Übersetzungen daran etwas ändern? Eignet sich der Computer nicht nur als Arbeits- und Unterhaltungs-, sondern auch als universale Verständigungsmaschine?

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Ein Kaffeehausspieler führt die Revolution an

In seiner „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ schreibt der französische Philosoph Michel Serres (1930-2019):

„Ohne dass wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren [des 20. Jahrhunderts] trennt, ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum. […] Mit einem anderen Kopf ausgestattet, erkennen sie anders, als ihre Eltern es noch taten. Sie schreiben anders. Nachdem ich voller Bewunderung gesehen habe, wie sie, schneller als ich mit meinen steifen Fingern es je vermöchte, mit ihren beiden Daumen SMS verschicken, habe ich sie mit der größten Zuneigung, die ein Großvater zum Ausdruck bringen kann, auf die Namen Däumelinchen und Kleiner Däumling getauft.“

M. Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Suhrkamp 2013, S. 15

Zunächst an den Beispielen des Schachcomputers, der Übersetzungsmaschine und der Bibliothek – weitere werden folgen –  frage ich in einer Serie von Beiträgen: Wie fordern Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) unsere personale Autonomie und unsere Lebenswelt heraus? Eine bruchstücke-Serie mit „Nachrichten aus dem artifiziellen Leben“.

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Rucht: Unter den gegebenen Umständen ist die Parteigründung ein Fehler

„Urmel aus dem Eis“ stand Pate beim Schulstreik in Augsburg am 1. März 2020
(Foto: Anomaler Circus/ wikimedia commons)

Aktivisten der Klima-Bewegung Fridays for Future (FFF) haben vorerst in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Partei Klimaliste gegründet. Der Grund: Die Initiatoren trauen den Grünen nicht mehr, es gehe alles zu langsam und nur halbherzig voran in Sachen Klimaschutz. Im Stadtrat von Erlangen hat die Klimaliste sogar schon zwei Mandate errungen. Kritisch im Blick hat sie vor allem die sehr wirtschaftsnachgiebigen Grünen wie Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, und Tarek Al-Wazir, Vize-Ministerpräsident in Hessen. Die nächsten Pläne: Die Partei will bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz antreten und eventuell auch zur Bundestagswahl. Im bruchstücke-Interview sieht der Bewegungsforscher Dieter Rucht nur „magere Erfolgsaussichten“ für eine weitere grüne Partei.

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(N°6) Zwischen Verdrängung, Ignoranz und Triage – Was Covid-19 mit unserer Gesellschaft macht

Foto: J. Rotter | Intromusik: terrasound.de

Pandemie, Lockdown, Existenzängste – was und wie viel hält die Gesellschaft noch aus? Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch mit dem Psychotherapeuten und Psychiatrie-Professor Leonhard Schilbach.

Auf bruchstücke dazu auch „Ein Porträt der nächsten Pandemie

Grobes Versagen der Verantwortlichen? Grober Unfug der Unverantwortlichen

Bild: Geralt auf Pixabay

Dieses Land ist nicht in Ordnung. Jetzt brach vor geschlagenen zwölf Monaten die Pandemie aus und mein 93jähriger Vater (Risikogruppe hoch zehn) ist immer noch nicht geimpft. Was soll das denn? Welcher Konsument wird da nicht ungeduldig. Zurecht. 
Die Konsumenten, sie steigen massenweise in Skilifte, fliegen in Risikogebiete, böllern zum Jahreswechsel, überprüfen jede Schutzvorschrift, wie sie sich am besten umgehen lässt – und sind politikverdrossen. Neurologin Frauke Zipp, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, sagt in der „Welt“, was ist, und spricht über das „grobe Versagen der Verantwortlichen“. Warum nicht schon im Sommer mehr Impfstoff auf Risiko bestellt worden sei.

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Wenn Demokratie die Selbstbeherrschung verliert

Dreifach beherrschtes Selbst © Andreas Galling-Stiehler 2020

(Liebes-)Verlust und Misslingen greifen unser Selbstwertgefühl an, sie schlagen unserer Selbstliebe Narben. Etwa so setzt Sigmund Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ an, um unsere düsteren Gefühle zu ergründen. Hundert Jahre danach scheinen die düsteren Gefühle in eins zu gehen mit der politischen Agenda. Die Freud-Preisträgerin Ute Frevert spricht in ihrem Buch „Mächtige Gefühle“ von organisierter Gefühlsarbeit, die Gefühle von Bürgerinnen und Bürgern zu formen und kontrollieren versucht. Eine solche „Gefühlspolitik“ betrifft nicht nur die vielen Einzelnen, sie gehört auch „in die Sphäre der Staatskunst, der Medien oder des Kommerzes“, so Frevert. Nun macht der Kommerz eine Pause und die Medien geben der Staatskunst eine Bühne für ihre Auftritte in Dauerschleife, als sei Gefühlsarbeit kein geteiltes Geschäft mehr. Die Exekutive scheint den Bürger*innen unvermittelt gegenüber zu stehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt als personifizierte Staatskunst die Gefühle vor und der Souverän fühlt sie nach – so das desolate (Selbst-)Bild im Winter.

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Schreib das auf, Kisch!

Im Pandemie-Sommer 2020 wurden in Kreuzberg 14-tägliche Protestkundgebungen auf der Straße ins Leben gerufen. Projekte, Initiativen, Hausgemeinschaften, einzelne Betroffene demonstrieren gegen den Ausverkauf der Kieze. (Foto: Arno Petersen)

Das ist der erste Eindruck: Geraten Geld und Kultur aneinander, ist klar, wer wegen Aussichtslosigkeit sich anpasst oder ganz aufgibt. Unsere Gesellschafts- und Rechtsordnung will, dass das Geschäft blüht, auch wenn Kultur und Natur dabei verwüstet werden. Solange sie sich willig in Kitsch und Konsens verwandeln lässt, hat die Kultur vom Kommerz wenig zu befürchten. Linke Buchhandlungen hingegen sollten darauf achten, dem Geld nicht in die Quere zu kommen, selbst dann nicht, wenn sie wie Kisch & Co in Berlin-Kreuzberg eine kulturelle Institution sind. Genauer hingeschaut, geht es um Konkreteres: Das „Volle Breitseite“-Bündnis, das sich gegen die Räumungsklage eines Luxemburger Immobilienfonds gebildet hat, kämpft auch für ein Gewerbemietrecht analog zum Mietrecht für Wohnungen.

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