Der Ampelkanzler, ein zielstrebiger Zauderer

Die Charakterisierung war treffend und gilt heute mehr denn je. „Scholz“, schrieb der Spiegel im November 2007, „ist ein gutes Beispiel dafür, welche Umwege man in der Politik manchmal gehen muss, um dort zu landen, wo man hinpasst.“ Oder, um es im Fall von Olaf Scholz zu präzisieren, um dort zu landen, wo man hinzupassen glaubt.

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General Corona kommt, aber Micha hat den Farbfilm vergessen

Bild:  https://www.spiegel.de/geschichte/werbung-a-947886.html

Das Militär macht, dazu ist es da, was ihm befohlen wird, und zwar zackzack. Zwischenrufer, Bedenkenträger, Neinsager, alle nicht zu gebrauchen. Wird der Abschiedswunsch einer Bundeskanzlerin zum Befehl, spielt die Militärkapelle auch Lieder der anarchistisch angehauchten „Godmother of Punk“ Nina Hagen. Wird der Einstiegswunsch der neuen Regierung zum Befehl, das Impfchaos endlich in den Griff zu bekommen, tritt ein General an.

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Flüchtlingspolitik geht nur gemeinsam

Das Drama an der belarussischen Grenze lehrt: Humanitäre Alleingänge helfen so wenig wie eine Abschottungspolitik. Diesmal hat es die EU recht gut gemeistert. Die Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 lastet bis heute auf der Europäischen Union. Die anhaltenden dramatischen Bilder von frierenden, hungernden, verzweifelten Menschen im Feindesland zwischen Belarus und Polen erinnerten sofort daran.

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Nur wenige wollen wegen des Klimas ihr Verhalten ändern

Die meisten Menschen in den wohlhabenden Industrieländern halten die Klimakrise für höchst besorgniserregend und einen Wandel hin zu mehr Klimaschutz für sehr wichtig. Sie beurteilen dabei ihren eigenen Beitrag als überragend, ihre Regierung in Klimadingen als wenig kompetent und möchten an ihren Lebensgewohnheiten wenig bis nichts ändern.

Foto: Jörg Farys/BUND auf Flickr CC BY-NC 2.0
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Die Ampel und ihr Lustprinzip

Foto: Paul Lovis Wagner/ campact auf flickr CC BY-NC 2.0

Doch, das gibt es wirklich in dem Koalitionsvertrag von SPD, Bündnisgrünen und FDP: das Lustprinzip. Zweimal taucht es auf und jedes Mal klingt es wie eine tapfere Selbstermutigung: Auf Seite acht heißt es: „Wir haben Lust auf Neues und werden technologische, digitale, soziale und nachhaltige Innovationskraft befördern.“ Zehn Seiten weiter sind die Anforderungen an die drei „so unterschiedlichen Parteien“ (Präambel) noch weiter gestiegen: „Wir haben Lust auf Zukunft und den Mut zu Veränderungen, sind offen für Neues und werden neue technologische, digitale und nachhaltige Innovationskraft entfachen“. Befördern oder Entfachen? Letzteres setzt eigene Ideen oder gar „Missionen“ (das Wort taucht im Vertrag einmal auf) voraus. Lassen sie sich auf den 177 Seiten finden? Oder versuchen die drei Parteien, die keine Wunschpartner sind, nur uneingelöste Programmentwürfe oder gescheiterte Gesetzesvorschläge aus der Ära Angela Merkels doch zu realisieren?

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Demonstrationen gegen die Herrschaft des Rechts

Bild: geralt auf Pixabay

Das Engagement für die Freiheit ist vielgestaltig – wie die Freiheit selbst. Über eine dieser Gestalten aktiver Bürger:innen, die sich neuerdings zeigen, kann eine politische Demokratie nicht froh sein. So hatte sich vor gut einem Jahr eine Menschenmenge an der Siegessäule in Berlin versammelt, zu der neben den Trägern von Kaiserreichs-Flaggen auch ein Demonstrant mit dem Schild gehörte, das Corona und den Reichstagsbrand gleichstellte mit der Botschaft „Herrschende schaffen sich einen Vorwand für Unterdrückung und Verfolgung“.
„Grimm und Hohn in vielen Gesichtern“ und das „Sendungsbewusstsein, das nur darauf wartete, einem Maskenträger zu begegnen“, notierte ein Journalist. 1 Die sich Empörenden sahen sich im Besitz der „Wahrheit“, die neben der „Freiheit“ den prominentesten Schlachtruf bildete. Ältere Herrschaften, die man in einer baden-württembergischen Kleinstadt im Bioladen treffen könnte, weigerten sich mit Journalisten seriöser Zeitungen auch nur zu reden. Solche Demonstrierenden haben sich aus der Bürgergesellschaft verabschiedet und nehmen eine Sonderstellung ein, die ihnen die Aufmerksamkeit der Medien sichert. Nun ist aber die Bereitschaft, sich über die Wirklichkeit zu verständigen und die eigenen Vorstellungen nicht absolut zu setzen, eine wichtige praktische Tugend von Demokrat:innen.

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Wer rettet Willy Brandt vor diesen Leuten?

Wer rettet Willy Brandt vor diesen Leuten? „Mehr Fortschritt wagen“ — das haben die neuen Koalitionäre über ihr ordentlich-mutloses Programm geschrieben. Damit lassen sie ihre künftigen Regierungssprecher und sonstigen Propagandisten in Berlin durch alle journalistischen Hinterzimmer ziehen mit der Botschaft: Habt Ihr das verstanden? Ist doch raffiniert-klasse! Toll-dezente Anspielung auf den großen Willy Brandt mit seinem „Mehr Demokratie wagen“, damals 1969 — ja, kapiert? Und wir, die Scholz-Truppe, sind doch mindestens so klasse wie der damals! Und weil diese politischen Bänkelsänger von Hinterzimmer zu Hinterzimmer ziehen, um allen diese Deutung einzuträufeln, deshalb steht genau diese Deutung auch im Leitartikel („Ein revolutionäres Programm“) der FAZ und anderswo. Also: Wer kann wie dieser Anmaßung wehren? Wer rettet Willy Brandt vor diesen Leuten?

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Merkel geht, Scholz kommt, die Medien bleiben

Bernd Gäbler (rechts) und Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung

„Gedanken beim Warten auf die Ampel“ hat Bernd Gäbler, ehemaliger Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts und seit 2011 Professor für Journalismus und Krisenkommunikation in Bielefeld, bei der Verleihung des Otto Brenner Preises für kritischen Journalismus 2021 vorgetragen. bruchstuecke dokumentiert die Langfassung der Rede, die in einer gekürzten Version als „Input zum Einstieg“ am 22. November auf der Veranstaltung in Berlin gehalten wurde. Gäbler zieht fünf Lektionen aus der “Zwischenzeit” seit dem Wahltag des 26. September, darunter diese: Die Union – vielleicht sogar das Bürgertum – weiß im Moment gar nicht mehr, wer und was sie (oder es) eigentlich ist.

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Der blasse Herr Bartsch oder Das politische Lazarett Linkspartei

Foto: Martin Heinlein auf Flickr CC VON 2.0

Bei diesen Ergebnissen zeugt die folgende Frage nicht von Panik, sie ist angemessen: Ist die Partei Die Linke dem Untergang geweiht? Bei der Bundestagswahl hat sie sich, im Vergleich 2017, fast halbiert; und damals schon war das Ergebnis (9,2 Prozent) zwar ordentlich, aber nicht berauschend. Zumal das 2021er Ergebnis noch desaströser ist, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn in ihm spiegelt sich die Verfassung einer Partei, die kein Erbarmen mit sich hat.

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Mächtige von morgen: Ministerlisten der Ampelkoalition

Am Dienstag, 22. November 2021, kursieren Ministerlisten der künftigen Bundesregierung durch die Medien: Eine, die alle, selbst Kreiszeitungen, verbreiten, und eine andere, die offenbar nur wenige kennen. bruchstuecke hat beide und zeigt beide – eine Einladung zum Vergleich mit den zukünftigen Tatsachen.

Diese Liste ist seit heute überall zu besichtigen. Eine andere, die auch die Parlamentarischen Staatssekretär:innen umfasst, folgt nach dem “Weiterlesen”
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Die Arbeit-anti-Kapital Rhetorik, ein traditionslinkes Dilemma

Foto: Martin Heinlein auf Flickr CC VON 2.0

Nach dem katastrophalen Wahlergebnis der Partei Die Linke bei der deutschen Bundestagswahl im September 2021 setzen die großen Abgesänge auf linke Politik ein – oft mit oberflächlichen, schiefen Texten. Davon hebt sich die Argumentation von Horst Kahrs in dem bruchstücke-Podcast „Die Linke vor dem Absturz“ erfreulich ab, und trotzdem denke ich, dass noch gründlicher gebohrt werden sollte. Die Probleme der Traditionslinken, von der Die Linke ein Unterfall ist, sind älter und liegen sehr tief. Sie hören bei dem politisierten Sprachgebrauch, der Arbeit und Kapital einander gegenüberstellt, bestimmt nicht auf, aber sie beginnen damit.

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Das Tabu in Glasgow: Die Wachstums- und Verschleisswirtschaft

Screenshot aus der SRF-Sendung “Stunde der Philosophie mit Harald Welzer und Barbara Bleisch

Der Studiogast lächelte leicht verwundert. Dann sagte er: «Jedes sechsjährige Kind begreift, dass man nicht ewig wachsen kann.» Das war in der Sternstunde Philosophie im Fernsehen SRF Mitte Oktober. Die Moderatorin hatte den Gast gefragt (in Minute 29), was er denn nur gegen das Wirtschaftswachstum habe. Mit dem Hinweis auf das sechsjährige Kind gab sie sich natürlich nicht geschlagen. Es gebe doch auch «qualitatives statt quantitatives Wachstum», gab sie zu bedenken. Sie spielte eine «Expertin» ein, die keck behauptete, moderne «Häuser, die Energie produzieren», seien ein Beispiel für derlei «qualitatives Wachstum». Denn «Innovation» sei doch auch Wachstum – «qualitatives Wachstum» eben. Da lächelte der Studiogast nun schon fast mitleidig.

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Tübingen legt sich mit McDonald’s an

Die Tübinger Neckarfront 2016 aus einer (wenig) idyllischen Perspektive. © Boris Palmer auf Facebook

So ziemlich jedes Einweggeschirr wird in Tübingen ab nächstem Jahr besteuert. Dem Burger-Riesen McDonald’s schmeckt das gar nicht. Einweg wird in der süddeutschen Stadt künftig deutlich teurer. Ab 2022 werden für To-Go-Becher, Pommes-Frites-Schalen und anderes Einweggeschirr 50 Cent, für Einwegbesteck, Glace-Löffel oder Trinkhalme 20 Cent Steuern fällig, die der ausgebende Handel bezahlen muss. Die Universitätsstadt am Neckar will damit Littering (Vermüllung) verhindern und einen grossen Schritt in Richtung Mehrweg gehen.
«Die Wegwerfkultur in den Städten lebt davon, dass die Städte mit Millionenaufwand den Müll beseitigen. Damit ist in Tübingen jetzt Schluss: Wer Müll produziert, muss dafür bezahlen», zitiert der «Reutlinger Generalanzeiger»  den streitbaren Oberbürgermeister Boris Palmer, der schon öfter mit innovativen Ansätzen für Aufsehen gesorgt hat.

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Der sanfte Herr Habeck als Machthaber

Foto: weldert auf pixabay

Es lohnt, das schon Anfang 2021 publizierte Buch Robert Habecks zu lesen, hat er doch nach der Wahl machtpolitisch vermutlich deutlich mehr zu sagen als seine bisherige Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, der abzuheben nicht vergönnt war. Was verrät der Autor über sein künftiges Handeln als Regierender?

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„Meine Herren und Damen“

Am Nachmittag des 19. Februar 1919 herrschte plötzlich Stille im Saal des Weimarer Nationaltheaters. Als erste frei gewählte Frau stand die Sozialdemokratin Marie Juchacz, geborene Gohlke, vor der Nationalversammlung und hielt vier Minuten lang eine Rede: nicht über Haushaltsfragen, wie die Tagesordnung es vorsah, sondern über das Ende der Frauenfrage durch das im Revolutionsnovember vom Rat der Volksbeauftragten verfügte Wahlrecht für alle über 20-jährige Frauen und Männer. „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als freie und gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf“, begann die 39-Jährige. Sie redete nicht über Geld und den Haushalt, sondern über die Frau in der Politik, über ihre Weiblichkeit. Sie appellierte an die Siegermächte, die „Hungerblockade“ aufzugeben und die Kriegsgefangenen nach Hause zu schicken. Marie Juchacz, im knöchellangen, dunklen Kleid, löste mit ihrer Anredeformel „meine Herren und Damen“ im Saal „Heiterkeit“ aus, wie das Protokoll vermerkt. Die angeheiterten Männer hielten nicht einmal vier Minuten Höflichkeit durch.

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bruchstücke