UNO: Unterschlagene Wirklichkeiten und das Veto als Waffe

UNO-Architektur (Foto: Jörg Perter auf Pixabay)

Wer den ersten 35 RednerInnen bei der am Dienstag eröffneten UNO-Generalversammlung in New York zuhörte, konnte meinen, die 33 Männer und zwei Frauen lebten in verschiedenen Welten. Bei den Auftritten von Bundeskanzler Olaf Scholz und anderer Regierungschefs aus den Mitgliedsländern von NATO und EU sowie mit ihnen verbündeter Staaten wie Japan oder der Schweiz war Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine das beherrschende Thema. Andere aktuelle Kriege – etwa im Jemen oder in den vom NATO-Mitglied Türkei bekämpften Kurdengebieten in Syrien und im Irak – kamen in diesen Reden überhaupt nicht zur Sprache. Die vor allem den globalen Süden betreffenden Krisen,  Katastrophen und Bedrohungen wie Hunger, Klimawandel, gestiegene Energiepreise, Umweltzerstörung und die Folgen der Corona-Pandemie wurden, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.

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Revolutionäre Konservative

Offiziell verkündete heute, Mittwoch, 21. September 2022, der grüne Wirtschaftsminister der blaßrot-rosagrün-liberalen Bundesregierung, der Energiekonzern Uniper werde verstaatlicht. Alexander Dobrindt, Vorsitzender der rechtsorientierten CSU-Landesgruppe, wettert. Nicht gegen die Verstaatlichung, sondern gegen den unfähigen grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck, verstaatliche er doch Uniper erst heute, nicht bereits im Juni, spätestens Juli!

Und vor wenigen Wochen auch noch das: Der konservative Deutsche Beamtenbund (DBB) ließ, wie in den letzten Jahren, auch diesen Sommer die Bürger und Bürgerinnen repräsentativ ausgewählt fragen, was sie vom öffentlichen Dienst halten. Das Ergebnis 2022: Nur noch 29 Prozent der Bürger meinen, der Staat könne seine Aufgaben erfüllen — zwei Drittel halten ihn für „überfordert“. Ulrich Silberbach, Vorsitzender des Beamtenbundes, sagt: Jetzt sei das „Kind endgültig in den Brunnen gefallen“. Denn: In den beiden Vorjahren hatten noch 45 (2021) und 56 Prozent (2020) Vertrauen, dass der Staat seine Aufgaben, ob Schutz des Klimas oder der sozialen Gerechtigkeit erfüllen könne. Und was fordert Silberbach, der Vorsitzende aller deutschen konservativen Beamten und natürlich auch Beamtinnen und diversen Beamt:innen? Er fordert: 360.000 zusätzliche Stellen für den öffentlichen Dienst, damit er für Krisen besser als bisher gewappnet sei. Mit anderen Worten: Der Staat muss richtig stark werden. Und wer trägt die Verantwortung für die Misere? Silberbach: Die vergangenen Regierungen hätten den öffentlichen Dienst „kaputt- und krankgespart“. Damit kann er nur die damals inner- und außerhalb von FDP und CDU/CSU amtierenden Marktradikalen meinen.

Verstaatlichungen, starker Staat, die Politik der Marktradikalen heftig kritisieren — das Programm von CSU und deutschem Beamtenbund. Sagte da jemand, etwa Frau Wagenknecht, die Linke sei heute unentbehrlicher denn je?

Plädoyer für den guten Ruf des Zorns

Foto: Sander Sammy auf Unsplash

Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den »Zorn Gottes« oder wir haben das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten häufig Begriffe wie Wut und Empörung an die Stelle des Zorns. Wut und Empörung – so etwas wie die mutlosen Schwestern des Zorns?

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Vom Tahrir Platz bis zum Zuccotti Park: Platzproteste zehn Jahre danach

Die Namen haben sich ins Gedächtnis eingegraben: Tahrir, Gezi, Syntagma, Zuccotti oder Majdan. Zwischen 2011 und 2014 besetzten erst kleinere, dann immer größere Gruppen von Menschen zentrale, öffentliche Plätze und protestierten gegen korrupte Machthaber und kriminelle Banker, gegen gefälschte Wahlen, für demokratische Beteiligung, Brot und Würde. Gerade ein Jahrzehnt ist dieser oft als „Siegeszug der Demokratisierung“ gefeierte Aufbruch, im Nahen Osten auch „arabischer Frühling“ genannt, her. Ist etwas geblieben? Gibt es ein Nachleben oder eher ein autoritäres und gewaltsames Nachbeben, in dem Militärs und Diktatoren jede demokratische Bewegung ersticken?

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Stürzte Helmut Schmidt über einen Heiermann?  

20. April 1982, SPD-Parteitag in der Olympiahalle in München
(Foto: Harald Hoffmann auf wikimedia commons)

Am Samstag den 17. September jährt sich zum vierzigsten Mal der Tag, an dem eine rein sozialdemokratische Bundesregierung in Deutschland regierte. Das gab es vorher noch nie. Anschließend auch nicht. Es war eine kurze Regierungszeit, nämlich bis sich am 1. Oktober 1982 offiziell und im Parlament eine Mehrheit um den neuen Bundeskanzler Helmut Kohl geschart hatte. Aber immerhin: ein rein sozialdemokratisches Kabinett. Also ein Kabinett aus lauter Köchen ohne Kellner.

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„Vergesellschaftung“ sagt etwas Dummes und verschweigt Wesentliches

„Kann die Eigentumsfrage zum Kern eines progressiven politischen Projekts werden, das unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen nachhaltig organisiert und mobilisiert“, fragen die Veranstalter der Konferenz „Vergesellschaftung: Strategien für eine demokratische Wirtschaft“ (7.-9. 10. 2022 in Berlin). Wir sollten von Demokratisierung des Vermögens, nicht von Vergesellschaftung des Eigentums sprechen, weil „Vergesellschaftung“ etwas Dummes sagt und Wesentliches verschweigt.

Welchen Sinn hat Eigentum? Eigentum gibt es, um Zugriffe anderer abzuwehren. Es zieht eine Mauer, innerhalb herrscht das Verfügungsrecht, die Freiheit, als Eigentümer:in nach Gutdünken zu schalten und zu walten (inklusive der Möglichkeit, das Nutzungsrecht zu verkaufen). Verfügungsrechte werden oft politisch eingeschränkt; zum Beispiel gibt es ein Baurecht und ein Verkehrsrecht, mit Grundstücken und Fahrzeugen können auch die Eigentümer nicht einfach machen, was sie wollen – aber immer noch mehr, als es der Allgemeinheit und dem Planeten gut tut. „Eigentum verpflichtet“, steht im Grundgesetz, „zu nichts“ ergänzen die Marktgesetze.
Der entscheidende Punkt ist der Ausgangspunkt, nämlich dass Eigentum überhaupt nur als eine soziale Einrichtung existiert. Alles Eigentum ist gesellschaftlich, es braucht nicht erst vergesellschaftet zu werden. Wer trotzdem so redet, fällt auf eine klassische bürgerliche Einbildung herein, auf diese Robinsonaden, die suggerieren, Privatheit sei ein außergesellschaftlicher Zustand.
Eine bürgerlich-liberale Borniertheit ist es auch, zwischen persönlichen Habseligkeiten und großen Vermögen keinen Unterschied anerkennen zu wollen. Große Vermögen, Immobilien, Produktions- und Finanzmittel, kommen auch jetzt in ganz unterschiedlichen Eigentumsformen vor, als private, genossenschaftliche, gemeinnützige, öffentlich-rechtliche, staatliche etc.; keine dieser Formen, schon gar nicht die Verstaatlichung, diese Lektion mussten wir lernen, geht automatisch mit Demokratisierung einher. Die spannende Frage lautet, wie über die Verwendung von Vermögen entschieden wird. Entscheiden kleine Götter wie Elon Musk, Eigentümerfamilien, Oligarchen, Machtzirkel, Vorstandsbüros, Vereinsklüngel oder gibt es demokratische Entscheidungsprozesse. Demokratisierung von Vermögen kann der Kern eines progressiven politischen Projekts sein, wahrscheinlich ist es sogar das politische Projekt.

Das Ich fotografiert am liebsten sich

Bild: Dieterich01 auf Pixabay

Balance von Freizeit und Arbeit, der perfekte, ausgeglichene und „achtsame“ Geist – Berge von Ratgeberliteratur, ganze Industrien von Fitnessstudios, Wellnessfarmen, Yoga-Schulen und Lebensberatern beuten diese Manie der Selbstperfektionierung aus, die enorme Energien bindet und den Einzelnen in ein endloses Rennen um Vollkommenheit schickt. Die digitalen „sozialen“ Medien befeuern diesen Trend durch visuelle Dauerpräsenz, die Auflösung der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem und einem kontinuierlichen Strom von Kommunikation, dem sich kaum einer entziehen kann.

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Die Kanzel-Kultur der Ampelkoalition

Bild: OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Sie nehme „natürlich wahr, dass die Menschen sich von dieser Regierung wünschen, dass wir noch mehr noch klarer kommunizieren, dass wir auch noch besser erklären“. Katharina Dröge, Co-Fraktionschefin der Bundestagsgrünen, schaffte es Ende April in einem Deutschlandfunk-Interview, das Wort „erklären“ gleich fünf Mal in einer einzigen Antwort unterzubringen. Das dürfte frequenzmäßig Rekord sein. Denn dass „Politik“ – schneidig ohne Artikel – mehr „erklären“ müsse, hörte man zwar schon länger gelegentlich. Nun aber ist das „Erklären“ scheinbar allgegenwärtig. Oft sprechen jüngere grüne Abgeordnete davon, wie wichtig das für „die Menschen“ oder gar „die Menschen da draußen“ sei. Und wer den Wirtschaftsminister Robert Habeck beobachtet, spürt irgendwann, dass es hier um mehr geht als nur eine modische Floskel, nämlich um einen politischen Modus.

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Sex, Drugs and Education

Intromusik: terrasound.de

Bildung als Massenveranstaltung war den Eliten immer verdächtig. Für Frauen waren Hochschulen jahrhundertelang Sperrgebiet. Das alte Gespenst der Überakademisierung geistert wieder durch die Lande. Machen wir es doch wie die Glaubensgemeinschaft der Amischen, die ein Leben führen nach dem Motto „ungebildet ist unverdorben“. „We don’t need no education“, Schluss mit den emanzipatorischen Faxen!

P. S. Erst einmal Schluss ist auch mit dem Auchdasnoch-Podcast. Nach einem Jahr nimmt sich Joe Kerr eine Auszeit und wird später gelegentlich wieder zum Mikrofon greifen. Thank you for travelling with us zu Bruchstücken des gewöhnlichen Wahnsinns!

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

Weitere Folgen von ‚Auch das noch!‚ zum Hören gibt es hier, wer nachlesen möchte, findet hier einen monatlichen Rückblick.

Der synodale Weg: Verdrängungskunst und Demütigungsbereitschaft

Die vierte Synodalversammlung des Synodalen Weges der katholischen Kirche in Deutschland ist am 10. September 2022 in Frankfurt am Main zu Ende gegangen. Der »Synodale Weg« soll den gläubigen Laien mehr Mitsprache in der Kirchen-Hierarchie ermöglichen. „Trotz harscher Kritik aus dem Vatikan wollten die deutschen Katholiken ihren Reformprozess Synodaler Weg fortsetzen“, schreibt die Aachener Zeitung. Doch schon zum Auftakt „herrschten Fassungslosigkeit, gewaltige Enttäuschung, Tränen flossen: ein grundlegender Text zur kirchlichen Sexualmoral scheiterte bei der Abstimmung an der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit der Bischöfe. Der Text, der eine Liberalisierung der kirchlichen Sexualmoral anstrebte, stieß zwar in der allgemeinen Abstimmung auf 82 Prozent Zustimmung. Aber nur 33 Bischöfe stimmten für den Text bei 21 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen.“

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Grundeinkommen: Wichtige Fragen sind längst beantwortet

Bild: Lightfoof for chicago auf wikimedia commons

«Willst du wissen, ob das Grundeinkommen faul macht?» Diese Frage stellen die Initianten, die aus der Stadt Zürich ein Testlabor fürs bedingungslose Grundeinkommen machen wollen. Am 25. September wird über das Pilotprojekt abgestimmt. Gelder für ihre Kampagne sammelten die Initianten per Crowdfunding, mit dem Versprechen: «Dein Beitrag macht es möglich, dass wir endlich wissen werden, ob Grundeinkommen in einer Gesellschaft funktionieren kann oder nicht.» Der Artikel erschien zuerst auf Infosperber.

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„Wir fühlen uns nun alle als Ukrainer“  

Natalia lebt mit ihrer Tochter und ihrem Mann in der ukrainischen Hauptstadt. In loser Folge berichtet sie im Gespräch mit Ludwig Greven über den Alltag im Krieg.
Ich bin unserer ukrainischen Armee unendlich dankbar. Denn ich habe wieder mein normales Leben, wenn auch unter schwierigen Bedingungen. Ich kann zur Arbeit zu gehen, Geschäfte und Cafés besuchen, in Parks gehen und meine Eltern besuchen. All das war zu Beginn des Krieges undenkbar, als die russische Armee Kyjiw belagerte und mit Raketen beschoss.

Bild: geralt auf Pixabay
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„Beim RBB gab es ein Organversagen“  

Trotz der fristlosen Kündigung der RBB-Intendantin Patricia Schlesinger droht die Krise beim RBB die ARD und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt in Verruf zu bringen. Forderungen nach einer Reform der Aufsichtsgremien werden lauter. Diemut Roether, verantwortliche Redakteurin des Evangelischen Pressedienstes (epd), sprach mit dem Medienwissenschaftler Otfried Jarren über das Versagen der Aufsicht beim RBB und darüber, wie die Aufsicht in der ARD und beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk organisiert werden müsste. Bruchstücke dankt, das Interview übernehmen zu können, das vor dem Hintergrund des Aufruhrs um eine vorgeschlagene Interims-Intendantin umso erhellender ist .

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Der Sozialstaat hat wesentliche Aufgaben ordentlich gelöst  

Eine Vielzahl von Ankündigungen und Deutungen besagt: Im Winter zieht eine schwere Rezession herauf: Stagnierendes beziehungsweise rückläufiges Wachstum während wenigstens zweier Quartale im Vergleich zu vorausgegangenen Zeitabschnitten; also dünner werdende Orderbücher, schrumpfende Aufträge, schrumpfende Produktionen, fallende Auslastung, ungenutzte Arbeitskraft, fallende Beitragszahlungen und Steuern. All das käme zu explodierenden Energiekosten, hoher Inflation, steigenden Zinsen und Kriegsangst hinzu. Fallen Land und Leute in die Vergangenheit zurück? Einige Hinweise auf Fortschritte.

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Unfehlbare, nicht nur auf Sendung, auch an der Regierung

Foto: Armin Kübelbeck auf wikimedia commons

Jüngst durften wir hier eine sehr interessante Analyse von Dieter Pienkny über den mentalen Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks veröffentlichen. Pienkny ist Journalist, war sehr viele Jahre — entsandt vom DGB — stellvertretender Vorsitzender des rbb-Rundfunkrats und ist seit einigen Wochen aufgrund anhaltender Rücktritte nun Vorsitzender des rbb-Rundfunkrates. In seiner Analyse, basierend auf einer mehr als 20jährigen Kontrolltätigkeit in Sachen öffentlich-rechtlichen Rundfunks kommt er zu diesem Schluss: „Die ARD, und damit meine ich Chefredakteure, Programmdirektoren o.ä, die ich in all den Jahren erlebte, pflegen ihr Unfehlbarkeitsdogma in Programmfragen und wedeln die Meinungen der Gremien als lästige Einmischung weg. … Die ARD-Oberen sind in vielen Bereichen kritik- und beratungsresistent, ihnen fehlt schlichtweg eine Fehlerkultur.“ Dieses fest verankerte vatikanische Dogma der Unfehlbarkeit hat die Grenzen der ARD überschritten und die Bundesregierung erreicht.

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bruchstücke