„So was haben wir noch nie gesehen!“ DOCH

Nachdem die spontane Betroffenheit angesichts der Bilder aus Bad Neuenahr, Bad Münstereifel und Euskirchen verflogen ist, stellt sich erst Bitternis ein. Und dann der Zorn. Denn nichts an dem Ereignis, an den Bildern, am Ausmaß der Schäden, am Leid der Menschen ist wirklich überraschend. Seit Jahren sehen wir mit wohligem Gruseln die Bilder aus unserer Nachbarschaft, aus Südfrankreich, Norditalien und der Schweiz: Starkregen, reißende Bäche, Erdrutsche, purzelnde Autos, Opferzahlen und Milliardenschäden. Ja, haben wir wirklich geglaubt, all das würde uns nicht betreffen?

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Glückliche Jäger, frohe Sammlerinnen

Getriebene Gewinnjäger, gestresste Geldverdienerinnen „im krankhaften Klammergriff der Arbeit“
Bild: geralt auf Pixabay

Haben Menschen viele Jahrtausende lang als Jäger und Sammlerinnen weitaus glücklicher gelebt als die Kontoinhaber:innen und Online-Shopper:innen zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Oder geht es uns Heutigen trotz sozialer Klüfte und ökologischer Krisen wesentlich besser als unseren unzivilisierten Vorfahren?
Beiseite gelassen, dass es ziemlich daneben ist, auf solche Fragen brauchbare Antworten zu erwarten – Erzählmuster lassen sich erkennen: In den Freudengesängen über Wachstum und Wohlstand kommen ur- und frühzeitliche Menschen nur als mühselige, beladene und kurzlebige vor. Klagelieder über tiefe Ungerechtigkeiten und drohende Untergänge der Moderne haben dagegen häufig eine Schlussstrophe, die das einfache, unbeschwerte, nachhaltige Dasein längst vergangener Zeiten bejubelt. „Sie nannten es Arbeit. Eine andere Geschichte der Menschheit“, geschrieben von dem Sozialanthropologen James Suzman, gehört zur zweiten Fraktion. Davon unabhängig: Das Buch ist ungewöhnlich und anregend, weil es Biologisches und Soziales progressiv verbindet, nicht reaktionär wie viele andere, Rassisten an der Spitze.

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(N° 17) Rassismus in der Fankurve

Bild: links: Alexander Heflik, rechts: Erwin Kostedde | Intromusik: terrasound.de

Ein Gespräch über Fussball, Rassismus damals und heute, den ersten schwarzen deutschen Nationalspieler — Wolfgang Storz interviewt Alexander Heflik, Autor einer Biografie über Erwin Kostedde, der in 219 Bundesligaspielen 98 Tore erzielte und in den 1970er Jahren drei Mal in der Nationalelf spielte.

Erwin Kostedde – Deutschlands erster schwarzer Nationalspieler
von Alexander Heflik

Verlag : ‎  Die Werkstatt; 1st edition (14 May 2021)
Sprache ‏: ‎Deutsch
Seitenzahl : 208 Seiten
Hardcover ‏: ‎ 19,90€
E-Book : 16,99€

Gewalt gegen Frauen: Deutsche Täter sind in den Medien nur Einzelfälle

Ob Redaktionen so etwas selbst merken? Wenn nicht, klärt sie eine Studie der Otto Brenner Stiftung, erarbeitet von der Mainzer Kommunikationswissenschaftlerin Christine E. Meltzer, darüber auf: In der medialen Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen macht es einen Unterschied, ob es sich um deutsche oder nichtdeutsche Tatverdächtige handelt.
„Statistisch gesehen ist die gefährlichste Person für eine Frau in Deutschland […] ein deutscher Mann.“ Berichten Medien über Gewalt gegen Frauen, ausgeübt von nichtdeutschen Tätern, werden auffällig häufiger präventive politische Maßnahmen gefordert und die Gewalttaten eher strukturell eingeordnet. In der Konsequenz werde der Eindruck erweckt, „dass das Problem nur im Kontext von nichtdeutschen Tätern gelöst werden muss oder kann“, während man es bei deutschen Tätern mit Einzelfällen zu tun habe, für die es keinen politischen Handlungsbedarf gebe.

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Kapitalismus ohne Konsum ist wie Musik ohne Ton

Als Erfinderin des Massenkonsums und als Quelle breiten Wohlstands wird die kapitalistische Wirtschaftsweise von ihren Anhängern gelobt. Von ihren Kritikern wird ihr seit Karl Marx vorgeworfen, sie mache aus dem Menschen „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“, das wenig mehr zu verlieren habe als seine Ketten. Freiheiten, Fortschritte  und optionsreiche Lebensqualitäten sehen die einen, die anderen nehmen vor allem soziale Krisen und ökologische Katastrophen wahr. Werner Plumpe beschreibt Vergangenheit und Zukunft des Kapitalismus als „die Geschichte einer andauernden Revolution“ und seine Analyse gibt klugen Anhängern gegenüber simplen Anklägern recht, aber auch realitätstüchtiger Kritik gegenüber einseitiger Rechtfertigung.

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„Den meisten Menschen fehlt der Wegweiser“

Screenshot Spiegel-Online 06.07.2021, 13h

Mit Hilfe ihrer Öffentlichkeit informiert sich eine Gesellschaft über sich selbst. Diese Aufgabe übernimmt nicht alleine, aber vorrangig der Journalismus. Der Spiegel und sein Onlineportal gehören zum Premium-Journalismus Deutschlands. Andere, (noch) stärker auf Boulevardthemen ausgerichtete Nachrichten-Portale sind beispielsweise bild.de, focus.de, t-online.de Welches öffentliche Bild vermittelt die Spiegel-Redaktion am Dienstag, 6. Juli 2021, 13h? Mit welcher Themenauswahl erfüllt sie ihre Informations- und Orientierungsfunktion? Von oben nach unten und von links nach rechts durchgescrollt, sieht so – in Dachzeile plus Überschrift verdichtet – die Spiegel-Welt aus, in der wir leben.

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Eine Wirtschaft des Phantasierens, Ausprobierens und Abenteurertums

Der Historiker Werner Plumpe hat vor zwei Jahren ein Buch veröffentlicht, das uns hilft, die Gegenwart und ihre Potenziale besser zu verstehen. Das kalte Herz“ stellt die  immense Dynamik des kapitalistischen Wirtschaftssystems dar. Dessen Aufstieg fand in den Niederlanden und in England seit dem 17. Jahrhundert statt. Insbesondere in den Niederlanden funktionierte die evolutionäre Schrittfolge „Variation“, „Selektion“ und „Restabilisierung“ bereits nach eigenen Regeln. Es entwickelt sich eine Wirtschaft des Ausprobierens, Versuchens und gelegentlich des Abenteurertums.

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Aus dem Chuchichäschtli geplaudert

Screenshot Blick-Online vom 15. Juni 2021

Der Unterhaltungswert der Schweizer Öffentlichkeit rangiert nur knapp hinter der Mannschaftsstärke ihrer Volkswirtschaft, die gerade zur wettbewerbsfähigsten der Welt gekürt wurde. Die eidgenössische Fußballnationalmannschaft, „Nati“ genannt, steht, anders als die deutsche, im Viertelfinale der Europameisterschaft; hineingezittert ins Achtelfinale hatten sich beide. In einem offenen Brief an die Nation, an alle „lieben Schweizerinnen und Schweizer“, leistete Nati-Trainer Vladimir Petkovic vor dem „Spiel der letzten Chance“ gegen die Türkei und nach der 0:3 Niederlage gegen Italien eine Art Rütli-Schwur: „Wir wollten Euch eine magische Nacht schenken. Euch stolz machen auf uns und auf unsere Schweiz. Wir wollten Euch nach den vielen Entbehrungen der langen Zeit der Pandemie glücklich machen mit einem Sieg gegen Italien.“ In den Tagen zuvor kannten die Schweizer Medien vor allem ein Thema, die Figaro-Affäre. Die Tage danach sprechen für sich selbst.

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Boulevardfernsehen contra „Kinderprinz“

Der Anspruch ist nach Art des Hauses sehr selbstbewusst formuliert. Überall, wo etwas passiert, will „Bild“ für uns alle bald live dabei sein. Nicht mehr nur in der gedruckten Boulevard-Gazette „Bild“, nicht mehr nur im Netz auf „bild.de“, sondern spätestens im September, pünktlich zur Bundestagswahl in der Glotze. Mit einem eigenen TV-Kanal will der Boulevard-Spezialist den Deutschen ins Wohnzimmer und den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten auf die Pelle rücken.

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Politik und Idiotik in der beispiellosen Nachhaltigkeitskrise

„Hört auf die Menschen, nicht auf die Verursacher“ – und wenn die Verursacher auch Menschen sind? (Photo by ey on Unsplash)

Wir leben in einer historisch präzedenzlosen Krise, können in vorher nie dagewesener Art global darüber kommunizieren und wissen so präzise wie nie zuvor, was zu passieren droht. Warum lässt der radikale Wandel trotzdem so lange auf sich warten? Ein Gespräch zwischen Selma Weber und Thomas Weber über digitale Wissensexplosionen, (Klima)Krisen und politische Handlungsdringlichkeiten.
Thomas Weber arbeitet als Ressortkoordinator „Nachhaltigkeit“ im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Er ist auch bruchstücke-Autor und spricht hier nicht in seiner amtlichen Funktion, sondern vertritt seine persönlichen Ansichten.

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Tiefe Spuren einer Parallelgesellschaft – das kirchliche Arbeitsrecht

Screenshot von der Caritas-Website

Ein einheitlicher, allgemeinverbindlicher Pflege-Tarifvertrag ist am Widerstand der kirchlichen Träger Caritas und Diakonie gescheitert. Die katholische Caritas erklärte, man wolle sich nicht von einer „Minderheit“ einen Tarifvertrag aufzwingen lassen. In der zuständigen Arbeitsrechtlichen Kommission auf evangelischer Seite ließ man die Arbeitnehmerseite erst gar nicht zu Wort kommen: der Antrag auf Abstimmung wurde abgelehnt. Anfangs war die Empörung über diese Haltung groß, auch in den beiden Großkirchen meldeten sich Kritiker:innen zu Wort. Bei aller Kritik und Empörung: Dass die Kirchen hier ein so wichtiges Projekt mit einem einfachen Nein schlicht zum Scheitern bringen konnten, ist schon keine Thema mehr. Oder doch?

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Es wird heiß, sehr heiß

Die Zahl der Schnee-Tage ist in Deutschland seit 1951 um die Hälfte zurückgegangen. (Foto: Fabian Arlt)

Hatte sie nicht 16 Jahre lang die Verantwortung für das Land inne? War sie nicht vier Wahlperioden lang Bundeskanzlerin? „Was wir bisher tun, reicht schlichtweg nicht aus“, beschwor Angela Merkel vor kurzem bei der Jubiläumskonferenz des „Rats für Nachhaltige Entwicklung“. Und selbstkritisch merkte sie an: „Wir müssen uns fragen, warum wir so sehr im Heute und für das Heute leben.“ Und dann schob sie hinterher: „Wir leben weltweit auf Kosten jüngerer und künftiger Generationen. Das ist einfach die bedrückende Wahrheit.“
So viel Selbstkritik zum Ende einer Amtszeit war selten. Aber vielleicht hatte die Kanzlerin vorab Einblick in die Klimawirkungs- und Risikoanalyse des Umweltbundesamtes erhalten, die wenige Tage später vorgestellt wurde. Denn deren Autoren hatten auf vielen hundert Seiten einigermaßen Dramatisches zu berichten.

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Statt Benzinpreisdiskussion: Neun Thesen zu Klimapolitik, CO2-Budget und Lastenausgleich

Die CO2-Uhr des Berliner MCC (Mercator Institute on Global Commons and Climate Change) zeigt an, wieviel CO2 in die Atmosphäre abgegeben werden darf, um die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C beziehungsweise 2°C zu begrenzen. (Screenshot 19. Juni 2021)

1 Die Vorschläge, Preise von was auch immer zu erhöhen, um den menschenverursachten Klimawandel zu stoppen, sind oberflächlich, nicht auf der Höhe der Zeit und fallen denen, die solche Vorschläge machen, zurecht auf die Füße.

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Unser aufgereger Alltag und seine konservative Tiefenströmung

Foto: aitoff auf Pixabay

„Ja, es ist richtig: Mindestlohn, Grundrente — das hat die SPD durchgesetzt. Doch was ist die Botschaft an Wähler und Wählerinnen, die sich mit harter Arbeit etwas aufbauen, sich aus ihrer proletarischen Lebenslage herausarbeiten wollen? Die Botschaft lautet doch: mehr als ‚das Mindeste‘ konnten wir für euch nicht herausholen. Das ist keine Perspektive auf bessere Zeiten.“
Horst Kahrs analysiert im Interview mit Wolfgang Storz die gesellschaftspolitische Lage in Deutschland kurz nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und gut drei Monate vor der Bundestagswahl.

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Brauchen wir eine „neue Aufklärung“?

Der Zweifel ist der Champagner des Denkens.
„Steckt nicht in aller Aufklärung, so wie sie bislang gedacht, verfochten, praktiziert wurde, ein elementarer Fundamentalismus der Rechthaberei und Indoktrination, der sie immer wieder leicht ins Gegenteil umschlagen lässt?“
Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Suhrkamp 1993, S. 249

Die Journalistin und Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, hat in einem Redebeitrag auf dem jüngsten Programmparteitag der Grünen eine kurze Rede gehalten, die sogleich großes Aufsehen erregt, aber auch Kritik ausgelöst hat. Emcke hat dort an zentraler Stelle eine direkte Linie vom Antisemitismus und der Verfolgung der Juden zur aktuellen Kritik an geistigen und politischen Eliten und an den Feststellungen der Klimaforschung gezogen. Wie der Antisemitismus seien auch Elite- und Wissenschaftsfeindlichkeit auf Lügen und Ressentiments aufgebaut.
Die Medien der, wie Emcke besonders hervorhob, privaten Plattformökonomie zerstörten die kritische Öffentlichkeit, die für die Demokratie unverzichtbar sei. Es sei an der Zeit, kritische Öffentlichkeit und ihre Träger zu bewahren, um letzten Endes die Demokratie und die Freiheit zu retten. Wohl nicht ganz zufällig maß sie dabei den öffentlich-rechtlichen Medien eine besondere Rolle zu. Meine Anmerkungen zu Carolin Emckes Parteitags-Rede zielen auf ihren Ruf nach einer „neuen Aufklärung“.

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