Heimatgefühle oder Zweckverband?

Das „Spiel ohne Grenzen“, dieser sympathisch-zivile Weg, den Deutschen vor Augen zu führen, dass Bürger:innen anderer europäischer Staaten leibhaftig existieren, war schon Thema von „Erzählt uns Europa!“ Lorenz Lorenz Meyer hätte ebenso gut an Hans-Joachim Kulenkampffs europäische Rateshow „Einer wird gewinnen“ (EWG) erinnern können. Und wer per Interrailticket wochenlang europaweit unterwegs war, konnte manchmal auf einen interessanten Typ Mensch treffen, von dessen Existenz die eigene Stadt ihm bzw. ihr keine blasse Vorstellung gegeben hat. Solche Rucksacktouristen haben während ihrer wochenlangen Reisen keine profunde Kenntnis europäischer Kulturen erworben, aber ihre Erlebnisse und Erfahrungen waren möglicherweise der Anfang einer intensiven Beschäftigung mit dem einen oder anderen europäischen Land.
Mag sein, dass dies politische Belanglosigkeiten sind, aber ich halte sie für bedeutend, weil sie Ausgangspunkte eines guten Europagefühls sind.

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Bericht aus Lesbos

Mein Entschluss zu diesem siebenwöchigen Einsatz im Flüchtlingslager Kara Tepe, Insel Lesbos, Beginn in diesem Januar 2021, entstand aus Wut und Enttäuschung über die in meinen Augen menschenverachtende europäische Flüchtlingspolitik, die an den Außengrenzen unseres Kontinents und insbesondere im Mittelmeer ein Massengrab für Menschen in Not geschaffen hat. Den Menschen, die diese mörderische Grenze überwunden haben und nun in gefängnisähnlichen Verhältnissen auf eine neue Chance für ihr Leben warten, zumindest symbolische Solidarität zu zeigen, war der Antrieb für meine Reise.
Lina, die Koordinatorin des Ärzte-Teams, führte mich zusammen mit einem der Dolmetscher zu Beginn einmal durch das Lager. Hier leben derzeit mehr als 7.000 Menschen in Zelten direkt am Meer. Nach offiziellen Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR) sind davon 72 Prozent aus Afghanistan, neun aus der Demokratischen Republik Kongo, sieben aus Syrien, vier aus Somalia und zwei Prozent aus dem Irak.  23 Prozent der Geflüchteten sind Frauen, 37 Prozent Kinder und von diesen sind 70 Prozent jünger als 12 Jahre und vier Prozent von ihnen sind unbegleitet.

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Die Türkei, Europa und die Menschenrechte

Während der Tagung des Europäischen Rates am 25./26. März 2021 soll ein Bericht der EU-Kommission über die Beziehungen der EU und der Türke vorgestellt werden. Vor diesem Hintergrund veranstaltet das KulturForum TürkeiDeutschland am 23. März (11h) eine Pressekonferenz am Maxim Gorki Theater in Berlin vor „Silivri.prison of thoughts“ von Can Dündar (einer stilisierten Zelle des Gefängnisses, in dem Ahmet Altan, Can Dündar, Osman Kavala, Peter Steudtner, Deniz Yücel und viele andere inhaftiert waren und sind).

Es sprechen: Celal Baslangic (Arti-TV), Gabriele Bischoff (MdEP, SPD), Sevim Dağdelen (MdB, Die Linke), Can Dündar (Journalist), Aslı Erdoğan (Schriftstellerin), Christian Mihr (Reporter ohne Grenzen), Cem Özdemir (MdB, Die Grünen), Ziya Pir (ehem. Abgeordneter der HDP),Frank Schwabe (MdB, SPD), Peter Steudtner (Menschenrechtstrainer), Sibel Yigitalp (ehem. Abgeordnete der HDP), Astrid Vehstedt (PEN-Zentrum Deutschland).
Die Pressekonferenz wird per Video aufgezeichnet und über die Internetseiten bzw. Social Media Kanäle des KulturForums sowie des Gorki-Theaters zeitnah ausgestrahlt werden.

Bundespressekonferenz zum Einschlafen (sekundäre Produktionsempfehlung)

Man merkt schnell, dass man sich entspannt zurücklehnen kann, wenn ER spricht, denn darauf ist Verlass, dass er sicherlich keine unerwarteten oder überraschenden Aussagen machen wird. Grafik: Eva Streit

Ich bin  eigentlich ein  guter Schläfer.  Normalerweise reicht mir eine halbe Seite eines trockenen Buches  (meistens Geschichtsbände) und ich bin weg.  Während der endlos gleichen, unstrukturierten und  screenlastigen Tage dieser Pandemiezeit kann es aber mal vorkommen, dass  ich keine Ruhe finde. Dann greife ich inzwischen zielsicher zu meiner Geheimwaffe – der Bundespressekonferenz. Ganz  im Sinne  einer  sekundäreren Produktion, wie sie Michel de Certau beschrieben hat, benutze ich die  Bpk-Aufzeichnungen  nicht zur Informationsbeschaffung,  sondern als Audiolandschaft, die es mir  ermöglicht, absolute  Ruhe und Gemütlichkeit zu finden und einzuschlafen. Warum funktioniert das so gut?

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Politisch Engagierte werden Wahlergebnisse nie begreifen

Das bruchstücke-Team hat einzeln gedacht, getrennt geschrieben
und die Bruchstücke übereinander gelegt,
dieses (erste) Mal zu den Landtagswahlen des 14. März 2021 (Foto: Fabian Arlt)

Mit Erfolg und Untreue

Bruchstück 1 Marie-Luise Anna Dreyer – wir alle nennen sie „Malu“ – und Winfried Kretschmann gehören zu den deutschen Politiker*innen, die eine sympathische Ausstrahlung haben. Das ist nicht selbstverständlich. Friedrich Merz wirkt nicht sympathisch, Saskia Esken und Markus Söder auch nicht, Angela Merkel nur so irgendwie. Und diese beiden Sympathischen haben zudem keine größeren Fehler (Skandale, Fehlentscheidungen) aufzuweisen. In unserer Gegenwart ist das bereits mehr als die halbe Miete, werden heute doch mehrheitlich Politiker*innen nicht an Visionen, Programmen oder Zukunftsprojekten gemessen. Sondern daran, ob sie aus der Rolle fallen oder nicht, ob sie verbindlich oder arrogant wirken; wie würden denn heute wohl schroffe Politiker vom Typ Helmut Schmidt und Franz-Josef Strauß ankommen.

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Mein Europa

Camillo Felgen und die strengen Schiedsrichter beim Spiel Ohne Grenzen
(Foto: WDR Mediathek)

Vor richtigen Schiedsrichtern sind alle Europäer gleich. Die ersten Erfahrungen mit europäischer Integration habe ich Mitte der 60er Jahre gemacht, an Samstagnachmittagen, am Schwarzweißfernseher. Dort moderierten der Luxemburger Camillo Felgen und der Deutsche Frank Elstner das Spiel ohne Grenzen, eine Spielshow, in der europäische Städte zunächst auf nationaler, dann europäischer Ebene in groß angelegten Geschicklichkeitswettbewerben gegeneinander antraten. Die Teilnehmer*innen waren grotesk kostümiert, mit überdimensionalen Masken, wie von tschechischen Animationsfilmern inszeniert. Sie mussten hüpfen, rennen, klettern, über glitschige Rampen auf- und absteigen, sich über Wasserbecken hangeln. Und sie scheiterten, scheiterten, scheiterten, immer wieder. Sie rutschten aus, fielen von der Stange, auf vorbereitete Luftkissen oder ins Wasser, bis irgendwann ein Team mit mehr Glück als Geschick die gestellte Aufgabe erfüllte. Dann ging der Moderator aufs Spielfeld, half einer atemlosen Teilnehmerin aus ihrem monumentalen Kostüm, holte sich eine erste Reaktion und gratulierte oder tröstete.

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Der Wahlnachtbericht: „Sie kennen mich“

Rund 11 Millionen Bürgerinnen und Bürger waren zur Wahl ihrer Landesregierung aufgerufen. In der Altersgruppe der 30-44jährigen war etwa ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner von Baden-Württemberg und ein knappes Fünftel von Rheinland-Pfalz aufgrund fehlender deutscher Staatsbürgerschaft ausgeschlossen.
Die Wahlen waren ein Probelauf für Wahlkämpfe unter Bedingungen der Pandemie. Die Ergebnisse verstärken seit längerem sichtbare Trends: Die Orientierung der Wählerinnen und Wähler an Personen statt an Parteien und deren Programmen nimmt deutlich zu; die Bürgerinnen und Bürger setzen verstärkt auf das Vertrauen in das erwartbare Handeln von Persönlichkeiten (vor allem: Amtsinhaberinnen und Amtsinhaber), deren Sympathie, Führungsstärke, Kompetenz und Glaubwürdigkeit. Persönlichkeiten spielten schon immer eine Rolle, aber ihre Zugkraft für eine Partei hat in den letzten Jahren zugenommen (Dreyer, Kretschmann, Ramelow, Tschentscher, Weil …).
Die Transformation des Parteiensystems hält an: starke Parteien (mit gut über 30% der Stimmen) gibt es nur noch mit starken Persönlichkeiten; daher stellt sich verstärkt die Frage der Nachfolge: gelingt der Übergang zu einer vergleichbar starken Person oder droht der Absturz wieder unter die15%-Marke?
Der vollständige, 30seitige Wahlnachtbericht ist hier zu finden. Im Folgenden einige Auszüge.

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(N°10) Wen(n) Grollbürger (nicht) wählen

Intromusik von terrasound.de

Wie beeinflussen die Korruptionsfälle der Union die Wahlen?
Horand Knaup und Wolfgang Storz sprechen mit der Wahlforscherin Jana Faus über fragile politische Lagen, Ermüdungserscheinungen, wachsenden Zorn, Krisenbewältigung und Wahlen ohne Merkel, aber mit Covid19.

Computer, Brandbeschleuniger und Werkzeug nachhaltigen Wandels

Bild: worker auf Openclipart

Homo sapiens hat die Hand durch das Werkzeug verstärkt, das Werkzeug zur Maschine entwickelt, seine Sinne durch Sensoren erweitert; zunehmend überlässt er nun die geistige Arbeit den Computeralgorithmen, die bereits die organisierenden, kreativen, musischen Tätigkeiten übernehmen.
Durch diese sozio-technische Evolution stieg in Jahrtausenden die Macht der Gattung über die Bedingungen des Überlebens in einer feindlichen Umgebung. Das Leben wurde sicherer und komfortabler – aber die Verfügung des einzelnen Exemplars Mensch über die Bedingungen seines Lebens schrumpft. Wenn homo sapiens von seinen Werkzeugen, seinen Gesten, seinen Muskeln, seinen Gedächtnisleistungen und seiner Fantasie befreit wird – was bleibt dann von ihm? Steht er am Ende seiner Laufbahn – oder hat er noch die Freiheit, sapiens zu bleiben?

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Die Union kreiselt in die Krise

Bild: https://karrierebibel.de/nebentaetigkeit/

Die Unionsparteien haben ein Problem. Sie haben mehrere Probleme, aber ein sehr zentrales hat sich jetzt jäh in den Vordergrund geschoben. Und andere, dramatischere, so ist absehbar, werden sich daraus ergeben.  Es geht ums Geld, um Zuverdienste und Nebengeschäfte, es geht um Moral, es geht um Verantwortung – und es geht natürlich auch um die Wahlen in diesem Jahr.

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Europa – was sonst

„Die Idee eines vereinigten Europa wird niemals untergehen.“

Statement des „Vaters“ des Stammes der Crimsons, einer militärisch organisierten Gruppe, die im Jahr 2074 versucht, Waffenstillstandsverhandlungen zwischen verfeindeten Stämmen in einem nach einem globalen Blackout zerfallenen Europa zu bewerkstelligen. In der auf das Statement folgenden Szene wird der Mann von Abtrünnigen seines eigenen Stammes erschossen. Quelle: „Tribes of Europa“, einer in Deutschland produzierten, viel diskutierten Serie auf Netflix aus dem Frühjahr 2021.
WAS IST EUROPA?

Das Kap Finisterre, hier eine Feuerstelle zum Verbrennen der Pilgerkleidung am Ende des Jakobsweges, einst das Ende der Welt, seit rund 500 Jahren transatlantische Absprungsstelle zu anderen Kontinenten.
Foto: Reiner Beeck auf wikipedia
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Erzählt uns Europa!

Dies ist die zweite offene Frage auf den bruchstücken. Lorenz Lorenz-Meyer leitet sie ein.

Die Zahl der Zurückweisungen, die der europäische Gedanke in den letzten Jahren erfahren hat, ist groß. Das beginnt nicht erst mit dem Brexit. Elf Jahre zuvor hatte eine Allianz aus Nationalisten und Linken in Frankreich und den Niederlanden den zukunftsweisenden Entwurf einer EU-Verfassung in Referenden zurückgewiesen. Und immer wieder, wenn es um gelebten europäischen Zusammenhalt geht, wie bei der Eurokrise ab 2010 oder dem Zustrom von Flüchtlingen aus Krisenherden ab 2015, erweisen sich nationalstaatliche Egoismen als stärker.

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(KW9) Respekt, ein Mann will Kanzler werden

Intromusik von terrasound.de

„In einer Gesellschaft des Respekts ist eine Politik des Respekts erforderlich.“ Olaf Scholz hat den Traum vom Einzug ins Kanzleramt nicht aufgegeben – auch wenn Rot-Rot-Grün in immer weitere Ferne rückt. Horand Knaup und Wolfgang Storz stellen sich die Frage: Hat der Mann eine Chance?

Fundstücke der Woche:
1. Der sinkende Stern des Jens Spahn
2. Schmarotzeralarm in Stuttgart

Mehr zum Thema Olaf Scholz: Siehe auch bruchstuecke-edition #3 „Ich, Olaf Scholz“

Mehr zum Thema Politiker-/Parteienentwicklung: „Alleiner kannst du gar nicht sein – Unsere Volksvertreter zwischen Macht, Sucht und Angst“ & ein Gespräch mit einem der Autoren (Horand Knaup) über das Buch &
eine Analyse der SPD im Bundestagswahlkampf 2017

AfD, die deutsche Trump-Partei

Ein Erinnerungsfoto an harmlosere AfD-Zeiten: Konrad Adam (links), Frauke Petry und Bernd Lucke als gewählte Sprecher auf dem AfD-Gründungsparteitag 2013 in Berlin. Alle drei Personen sind inzwischen mit mehr oder weniger Getöse aus der AfD ausgetreten, die der Verfassungsschutz jetzt als rechtsextremistischen Verdachtsfall bundesweit beobachten will. (Foto: Mathesar/ wikipedia commons)

Diese zwei Sätze gelten, sagt der Wahl- und Demokratieforscher Horst Kahrs im bruchstücke-Interview. „Der erste: Nicht jeder, der AfD wählt, ist ein Nazi. Der zweite: Nazis wählen heute bevorzugt AfD.“ Die Frage müsse deshalb lauten, warum Menschen eine Partei wählen, von der sie wissen, zumindest wissen können, dass sich in ihr Nazis tummeln, dass sie fremdenfeindliche Positionen vertritt, dass sie sich gegen Grundsäulen unseres demokratischen Systems stellt. Die AfD klein zu halten, sei eine Alltagsaufgabe, nicht nur eine politische Herausforderung.

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