Tödliches Terrain – eine akustische Erzählung

Der Schriftsteller Peter Weiss, 1916 in Babelsberg unweit des späteren KZ Sachsenhausen geboren, hat das Unfassbare geschildert:

„Dann, im Frühjahr 1945, sah ich den Endpunkt der Entwicklung, in der ich aufgewachsen war […] Dort vor uns, zwischen den Leichenbergen, kauerten die Gestalten der äußersten Erniedrigung, in ihren gestreiften Lumpen. Ihre Bewegungen waren unendlich langsam, sie schwankten umher, Knochenbündel, blind füreinander, in einem Schattenreich. Die Blicke dieser Augen in den skeletthaften Schädeln schienen nicht mehr zu fassen, dass die Tore geöffnet worden waren.“

Aus: Fluchtpunkt, ein autobiographischer Roman

Anlässlich des 75. Gedenkfeiertags der Befreiung des KZ Sachsenhausen entstand an und im Umfeld der Filmuniversität Babelsberg das fünfteilige Hörstück „Tödliches Terrain. Eine akustische Erzählung“. Kreatives Erinnern – gegen das Vergessen und gegen einen neuen Faschismus.

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„Die Angst vor der Katastrophe macht noch keine bessere Zukunft“

Auf dem Cover steht „Heft 1 – April 2020“. Das ist eine Irreführung. Unter dem Titel „Klima und Zivilgesellschaft“ ist dieses „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“ (FSB) gerade erst erschienen. „Herausgeber und Redaktion waren der Meinung, dass eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Thema Klimawandel aus der Perspektive der Zivilgesellschaft, wie wir sie jetzt vorlegen können, eine derartige Verzögerung rechtfertigt. Aber urteilen sie selbst“, schreibt Ansgar Klein im Editorial. Die Tonalität dieser Einladung lässt ahnen, dass sich die Redaktion ihrer Sache sicher ist. Mit Recht. Eine bessere Einführung, Übersicht, Problembeschreibung, Analysetiefe, Perspektivenauswahl, Diskursqualität zu diesem Thema aller Themen kenne ich nicht – obwohl ich der Meinung bin, dass der Begriff der Zivilgesellschaft eine operative Illusion ist.

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Tony Judt: Öffentlich Position beziehen

Die heikle Verantwortung der Intellektuellen: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre im Gespräch mit Che Guevara
(Foto: Public Domain)

Für den angelsächsischen Begriff des ‘public intellectual’ gibt es im Deutschen zwar eine unbeholfene Übersetzung, den ‘öffentlichen Intellektuellen’, aber keine wirkliche Entsprechung. Mit Ausnahme vielleicht von Jürgen Habermas und Hans-Magnus Enzensberger haben sich hier in den letzten Jahrzehnten denn auch kaum Gelehrte so in den öffentlichen Diskurs eingebracht, dass ihre Stimme im Land und über seine Grenzen hinaus Gewicht und Bedeutung hätte. Wenn wir von ‘public intellectuals’ sprechen, beziehen wir uns meist auf andere Sprach- und Kulturkreise: historisch zum Beispiel auf das rive gauche im Paris der 50er bis 70er Jahre. Oder eben auf den angelsächsischen Diskurs, der sprachbedingt einigermaßen mühelos Staaten wie die USA, Kanada und Großbritannien umfasst.

Der britische Historiker Tony Judt, der genau heute vor 10 Jahren an den Folgen der unheilbaren Krankheit ALS verstarb, wird immer wieder als Prototyp des ‘public intellectual’ gehandelt. In seinen letzten 15 Lebensjahren leitete er das von ihm gegründete Erich-Maria-Remarque-Institut für Europastudien an der New York University. Judts opus magnum, das 2005 erschienene Postwar (dt.: Geschichte Europas), ist eine breit angelegte Darstellung der europäischen Nachkriegsjahre im Schatten der Weltkriege, explizit motiviert durch den Perspektivwechsel, der sich aus dem Zerfall des Ostblocks ergab.

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„Ein Porträt der nächsten Pandemie“

Treffen der UN-Ebola-Taskforce im September 2014
(Foto: UNMEER/Simon Ruf)

In diesem Frühjahr erschien ein Buch, das für all diejenigen, die in Regierung, Parlament und Unternehmens-Etagen Verantwortung tragen, unangenehm ist. Unangenehm, weil es Monate vor Ausbruch der Covid19-Pandemie geschrieben wurde und diesem Überraschungs-Getue nach der Devise: „Das konnte ja niemand ahnen, dass ein so böses Virus so flink von Wuhan nach Flensburg und Konstanz kommen kann“ endgültig den Garaus macht.

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(N°2) Unleashing Fantasy For Transformation

Intromusik von terrasound.de

Ein Hörspiel des Unleashing Fantasy Collective über Spekulation als Methode, von und mit Corinna Dengler, Florian Döhle, Jana Gebauer und Luzie Scheinpflug

Das Booklet zum Hörspiel gibt es hier.

Manager der „Mangel-, Miss- und Kommandowirtschaft“

Um die Tränen zu trocknen, die der DDR-Wirtschaft nachgeweint werden, reicht ein einzelnes Papiertaschentuch aus – oder ist das nur die Mainstream-Perspektive westlicher Wiedervereiniger, die vor und 30 Jahren als Vereinnahmer gen Osten zogen? Die Deutsche Demokratische Republik ist Geschichte, vielleicht nicht politisch, aber ökonomisch scheint die deutsche Gegenwart mit der ostdeutschen Vergangenheit ein für allemal fertig zu sein. Ist es überhaupt bemerkenswert, wie wenig erwähnenswert die DDR-Ökonomie noch ist? Die Erzählsalons eines „Projekts zur Erkundung der DDR-Wirtschaftsgeschichte“ lassen ehemalige Kombinatsdirektoren der DDR zu Wort kommen.

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Exit, Exitus, Exodus oder was?

Flughafen München 2019 | Foto: Jürgen Schulz

„Wer rausgeht, muss auch wieder reinkommen.“ Herbert Wehners lapidare Bemerkung galt Bundestagsabgeordneten, die aus Protest gegen seine Rede zur inneren Sicherheit 1975 den Plenarsaal verließen. Ungleich schwerer erscheint das Wiederhereinkommen nach dem Lockdown des Frühjahrs 2020. Über eine Rückkehr wird unter dem Namen „Exit“ verhandelt. Politik, Journalismus und wissenschaftliche Sachverständige debattieren über eine sogenannte „Exitstrategie“. Überwiegend geht es dabei um die Rückkehr zu einer individuellen und kollektiven Vorstellung von Normalität. Warum muss dafür das Wort Exit herhalten? Ist doch bei Exit, abgesehen von der synonymen religiösen Bedeutung des Heimgangs, keine Rückkehr vorgesehen. Der lateinische Ursprung des Wortes verweist auf das Ende. Für Medizinerinnen ist der Exitus das Ende ihrer Möglichkeiten. Für die Eröffnung von Möglichkeitsräumen hingegen steht das Wort Exodus.

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Grobianische Weltanschauungen und kuscheliger Betroffenheitskult

In der Sache lohnt es sich nicht, auf die völlig missratene Polizei-Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah in der taz vom 15. Juni 2020 zurückzukommen. Die grundsätzlichen Fragen, die sich daraus ergeben, haben sich jedoch nicht erledigt. Man kann die Kolumne zum Anlass nehmen, sich zu fragen, wie solche Texte den Weg in die Zeitung finden und auf welchen intellektuellen und mentalen Voraussetzungen diese Art von Journalismus beruht.

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Mit Reparieren einfach weiterkommen

Die Freuden der Bastelecke.
Reparaturen als konstruktiver Gegenentwurf zum Wegwerfkapitalismus
(Foto: CC BY-SA 2.0 Martin Abegglen / flickr)

Die Maßnahme, mit der viel erreicht werden könnte, wäre bescheiden, einfach und leicht zu bewerkstelligen, sie öffnete ein Türchen in eine etwas andere Wirtschaft: Der Bundestag senkt den Mehrwertsteuersatz auf Reparaturen von 19 auf sieben Prozent – ist eine Steuer mit diesem Namen bei Reparaturen doch sowieso völlig fehl am Platz. Denn noch ist reparieren (lassen) unrentabel; im Gegensatz zur Verschwendung, zum Neukauf. Schweden hat bereits vor Jahren diesen Weg eingeschlagen. Die Folgen für Natur, Handwerk und den sogenannten kleinen Geldbeutel wären positiv. Negativ wäre es für den Konsumwahn, denn der würde auf Dauer gedämpft, das wäre Sinn der Sache. Weshalb die Handelskonzerne und die sie beliefernden Produzenten alles tun, um das zu verhindern, denn für sie wäre dieser neue Trend die mit Abstand schädlichste Variante. Trotz aller Widerstände tut sich was.

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Konstruktive Radikalität und utopischer Realismus – Auf der Suche nach der guten neuen Zeit

Plakat aus dem nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf des Jahres 1947 https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30229245

Ausgehend von der Corona-Krise fragen sich Ingrid Kurz-Scherf und Hans-Jürgen Arlt via Email, wie gangbare Wege gefunden werden können, die in eine politische Ökonomie der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit und der Demokratie führen. Max Horkheimers (und Antonio Gramscis) Maxime, dem sehr begründeten theoretischen Pessimismus mit einer persönlichen optimistischen Praxis zu widersprechen, könne nur der Anfang sein. Denn „wenn ‚das Gute‘ keine Grundlage in der Theorie hat, dann ist entweder die Praxis, die darauf zielt, von vorneherein zum Scheitern verurteilt, oder die Theorie ist mindestens unvollständig, vielleicht sogar falsch“. Immer wieder hilfesuchende, aber auch kritische Blicke auf die Gesellschaftstheorien von Karl Marx und Niklas Luhmann werfend, sucht der „Schriftwechsel“ nach theoretischen Anschlüssen und strategischen Orientierungen einer emanzipatorischen Praxis. Er ist zugleich eine Einladung an seine Rezipienten, ihn kommentierend und kritisierend weiter zu schreiben.  

Als edition bruchstuecke #2 steht der Text
auch als pdf zum Download zur Verfügung.

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Humanitäre Kompromisse statt Polarisierung der Empörten

Wie selten befindet sich Deutschland im Blindflug. Welcher ökonomische Donner wird dem Lock-Down-Blitz vom Frühjahr folgen? Noch sind wir im kurzen Moment der Stille zwischen Abschuss und Einschlag. In einem Jahr wird es Bundestagswahlen geben. Nicht auszuschließen, dass es die ersten echten und nicht nur herbeigeredeten Krisenwahlen der deutschen Nachkriegsgeschichte werden. Gerade in einer solchen Situation stellt sich für Verantwortliche, Aktive und auch das interessierte Publikum (das wiederum mit Akklamation oder Ablehnung indirekt Einfluss auf die Handelnden nimmt) die Frage nach der richtigen Strategie. Ich gehe davon aus, dass für Verlauf und Ergebnis der jetzigen politischen Entwicklung jenes Ping-Pong der Extreme von enormer Bedeutung ist, das nicht nur in der Corona-Auseinandersetzung wirkt, sondern das auch in dem Streit um die Migrations- und Genderfrage (und anderen sogenannten Identitätskonflikten) anhaltend prägend wirkt.
Ich stelle dem Ping-Pong der Empörten die Arbeit an einem „historischen humanitären Kompromiss“ entgegen. Sie umfasst faire und offene Debatten über all die relevanten Fragen, welche die „Gutwilligen beider Seiten“ bisher (bis zur Unversöhnlichkeit und Sprachlosigkeit) spalten. Auf moralische Selbstüberhöhung und Diffamierung anderer Meinungen und Erfahrungen sollten beide Seiten verzichten.

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Natur und Arbeit – Freunde oder Feinde?

Natur…

…schutz.
——————————————————-Fotos: Fabian Arlt

Ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit sind viel beschworene, weil gründlich verfehlte politische Ziele. Bei aller Distanz und gegenseitiger Kritik zwischen Grünen und Roten (nicht partei-, sondern gesellschaftspolitisch gemeint) fehlt es gleichwohl nicht an Hoffnungen und Beteuerungen, umweltpolitisch Engagierte und gewerkschafts- wie sozialpolitisch Aktive könnten und sollten mehr kooperieren, öfter gemeinsame Initiativen und Projekte auf den Weg bringen; Demokratie und Solidarität seien ihnen doch gleichermaßen wichtig. Aber alte Aversionen stehen neuen Allianzen im Weg, Barrieren zwischen grün und rot wurzeln tief in Geschichte und Struktur der Moderne.

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(N°1) Was soll das?

Intromusik von terrasound.de

Hans-Jürgen Arlt überlegt, warum er für die Bruchstücke schreibt

Doch lieber lesen? Den Text gibt es hier.

Gefühle triumphieren über Fakten

(Bild: Wikimedia Commons)

Die chinesische Regierung steht wegen ihres Umgangs mit den Uiguren in der Provinz Xinjiang und der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong massiv in der Kritik. Sobald jedoch von der deutschen Politik eine klarere Haltung zu diesen oder anderen Problemen verlangt wird, verweisen Gegenstimmen auf die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China. In einem Heidelberger Forschungsprojekt haben wir uns den Umgang der deutschen Presse mit China genauer angesehen und die Abhängigkeitsthese auf ihren Sachgehalt überprüft.

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