Es geschah 2012 in Ballyhea, einem kleinen irischen Dorf auf dem Weg von Limerick nach Cork. Dort lehrte uns eine alte Dame eine wichtige Lektion über eines der Kernprobleme im vereinten Europa. Jeden Sonntagmorgen zogen die rund 100 erwachsenen Dorfbewohnerinnen und -bewohner mit Traktoren und Lautsprecher ihre Hauptstraße entlang, um gegen die Rettung der bankrotten irischen Banken zu protestieren. 64 Milliarden Euro Schulden hatte die irische Staatskasse bei den anderen Staaten der Eurozone und dem Internationalen Währungsfonds dafür aufgenommen. Und stellvertretend für Hunderttausende aufgebrachter Iren demonstrierte das gesamte Dorf mit großer Beharrlichkeit gegen diesen Freikauf der Gläubigerinnen und Pleitebanker auf ihre Kosten.
Erstaunlicherweise waren die Texte mehrerer Transparente auf deutsch verfasst und richteten sich kritisch an deutsche Adressatinnen und Adressaten. Darum fragten wir bei der freundlichen älteren Dame nach, die uns zunickte. Sollten die Iren den Deutschen nicht dankbar sein, dass diese Irland mit den Notkrediten vor der Staatspleite gerettet haben? Darauf hin schaute sie uns an, als seien wir nicht ganz bei Trost. „Sie haben uns gerettet? Nein!“, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. „Irland hat Europa gerettet. Bringen Sie das in Ihre Köpfe! Irland hat sich für die Schulden der Banken verbürgt. Das hat eure Banken gerettet und die Pleitewelle gestoppt. Irland hat Europa gerettet, und jetzt sollten wir dafür belohnt werden“, forderte sie unter lautem Applaus der Umstehenden. Sie hatte Recht.
It’s the feeling, stupid! Über das neue Sciencegekasper

Im Golfstrom der Emotionalisierung werden nun auch Wissenschaftssendungen dialogisch aufgepeppt. Dass Internet-Firmen auf du und du mit mir und meinem Geldbeutel sind, habe ich akzeptiert. Dass Studierende den Dozenten mit «Hallöchen!» ansprechen: geschenkt. Sie betrachten es als ihre Pflicht, bei der Lehrperson Schwellenängste abzubauen, denn sie wirkt etwas verkrampft. Auch das Du als Verkehrsform der Internet-Piraten, die Rechte an einer Goldmine in Sierra Leone ausloben, ist ein Basso continuo auf meinem Account. Ihre Zuschriften beginnen förmlich und nehmen an Privatheit gegen Ende zu. Ich soll zum Cousin ihrer kleinen Raubzüge werden. Und die Online-Drogerie hat sich offenbar mein Geburtsdatum gemerkt. Man sagt: «Gönn dir was Schönes!» und gratuliert mit einem Gutschein für Prostatapräparate; offenbar ein altersgerechtes Angebot.
Weiterlesen →Die miserable Lage der Kindermedizin: sehenden Auges hineingeschlittert
Die miserable Lage der medizinischen Versorgung kranker Kinder wurde lange vorhergesagt und beklagt. Der Kinder-und Jugendmediziner Professor Berthold Koletzko beispielsweise reist seit Jahren durchs Land, um auf eine heraufziehende desaströse Situation aufmerksam zu machen. Es hat wenig gefruchtet.

Arbeitermangel in der Angestelltengesellschaft, „Fachkräftemangel“ genannt

(Foto: Nicolas Bouliane auf wikimedia commons)
Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf: Walter Benjamin hat das einmal geschrieben, und der Satz drängt sich auf, denkt man an das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Nur die FDP redet noch Klartext und der Chef vom Baugewerbeverband. „Wir reden zwar immer von Fachkräftemangel, tatsächlich haben wir aber in Deutschland einen Arbeitskräftemangel.“ Der Verbandschef stimmt dem FDPler zu. „Und diese Erkenntnis darf nicht erst eintreten, wenn Horden von Akademikern jahrelang warten müssen, bis sie ihr Dach repariert bekommen; da muss jetzt schnell etwas passieren.“ Geschlossene Restaurants, chaotische Zustände auf den Flughäfen, keine Chance auf einen Handwerkertermin – es herrscht Arbeitermangel in der Angestelltengesellschaft.
Weiterlesen →Schlimme Fragen, hilflose Antworten: Der IGB, Katar und die Brüsseler Korruptionsermittlungen

Der 9. Dezember 2022 ist ein historisches Datum. Zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Gewerkschaftsbewegung wurde ihr höchster Vertreter, der Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), in Brüssel von der Polizei im Rahmen von Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts verhaftet. Die Ermittler „verdächtigten einen (Golfstaat), die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen des Europäischen Parlaments zu beeinflussen…., indem er einflussreichen Persönlichkeiten im Europäischen Parlament große Geldsummen zahlte oder ihnen große Geschenke machte.“ Luca Visentini, der im November neu gewählte Generalsekretär des IGB, wurde nach zwei Tagen aus der Haft entlassen, aber der moralische Schaden ist unvorstellbar groß: Medien in aller Welt berichten, dass der IGB-Generalsekretär zusammen mit anderen verdächtigt wird, an Korruptionsbemühungen einer repressiven Petro-Monarchie beteiligt gewesen zu sein, um europäische politische Entscheidungen zu beeinflussen und das Image eines Landes zu verbessern, das weder Vereinigungsfreiheit noch Meinungsfreiheit und andere Menschenrechte zulässt.
Weiterlesen →Abkanzeln: Empörung als dominierender politischer Umgangston

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist es schwierig, abweichende Meinungen öffentlich zu vertreten. „Putintroll“ ist das gängige Schimpfwort, gemeint sind schlicht Leute, die sich für Frieden und Diplomatie einsetzen. Objekte des Zorns sind dabei weniger notorische Dissident:innen wie die seit Jahren als mediale Watschenfrau fungierende Linke Sahra Wagenknecht.
Weiterlesen →NS-kontaminierte Kriegsdenkmäler – „sinn- und traditionsstiftend“?

Im württembergischen Heidenheim steht ein Denkmal für den NS-Generalfeldmarschall Erwin Rommel; wenigstens versehen mit einer Gegen-Skulptur. Der Streit hält an: Hitlers Lieblingsgeneral — stiller Widerstandskämpfer oder gehorsamer Elite-Soldat? In fast jeder deutschen Kleinstadt gibt es Kriegs-Denkmäler, vermutlich mehr als Einhunderttausend. In vielen Städten werden jedoch Straßen umbenannt, NS-kontaminierte Denkmäler mit kritischen Erläuterungen versehen. So wird es beispielsweise in Darmstadt statt einer Hindenburg-Straße künftig eine Fritz Bauer-Straße geben. Selbstverständlichkeiten, die unerträglich lange dauern. Ein Ortsbesuch in Heidenheim.
Weiterlesen →„Es reicht nicht, Reichsbürger als Gaga-Nazis abzutun“

Die Razzia gegen die Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß hat öffentliche Aufmerksamkeit auf die „Reichsbürger“ gelenkt. Vor sechs Jahren (!) stand in einem Essay der taz, geschrieben von Daniela Keller: „Reichsbürger gibt es seit Mitte der 80er. Inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen, die viel militanter auftritt. Die Szene ist, wie die AfD oder Pegida, Ausdruck eines politischen Protests, der von rechts kommt und politisch entfremdete Normalbürger mit Neonazis im Hass auf die liberale Elite vereint. All diese Gruppen sind Anzeichen für Auflösungserscheinungen in der Mitte der Gesellschaft. Termini wie ‚Volksverräter‘ und ‚Lügenpresse‘ zeugen davon, wie tief die Gräben sind. […] Aber es reicht nicht, Reichsbürger als Gaga-Nazis abzutun. Denn was sie sagen, ist nicht so bekloppt, wie es klingt. Es stimmt ja, dass eine Demokratie, in der Wirtschaftslobbyisten Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen, zur Kulisse zu werden droht. ‚Deutschland GmbH‘, sagen Reichsbürger, ‚Postdemokratie‘ sagen Sozialwissenschaftler. […] Eine Demokratie aber, die sich nicht behauptet gegen wirtschaftliche Interessen, die Steuerflucht, Finanzspekulation und irrsinnigen Managerboni keine Grenzen setzt und nicht ernsthaft versucht, den immer größeren sozialen Unterschieden etwas entgegenzusetzen, verliert ihre Substanz.“ bruchstücke empfiehlt den Podcast „Gefährliche Melange: Wo Demokraten und rechter Rand an einem Strang ziehen“. Foto: Reichsbürger Kundgebung auf dem Markt in Wittenburg mit Rüdiger Hoffmann und Ordnern im Mai 2022 (Migebert auf wikimedia commons).
„Stumme sprechen zu Tauben“. Über Bruno Latour und die Graswurzelorganisation 350.org

Für den unermüdlich engagierten französischen Philosophen Bruno Latour wurde sein Memorandum „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“ zum Vermächtnis. Er starb 75jährig am 9. Oktober. Das Merkbuch mit 76 Punkten, das jetzt als Sonderdruck in der edition suhrkamp auf Deutsch erschienen ist, schrieb Latour zusammen mit dem 32jährigen Nikolaj Schultz von der Universität in Kopenhagen. Er mischte sich damit zu Beginn dieses Jahres in die französischen Wahlkämpfe um die Präsidentschaft und die Nationalversammlung ein, in denen Klimawandel und Klimakatastrophen, Ausstieg aus der Kohle-, Öl-und Gasproduktion, altersschwache Atomkraftwerke oder die Abkehr von der lobbystarken französischen Agrarindustrie praktisch keine Rolle spielten.
Weiterlesen →In Krisenzeiten kranken Krankenhäusern hinterher sparen

Nachdem viele Beifall geklatscht und manche gerufen haben „Bravo Karl!“, ist es an der Zeit, sich genauer anzuschauen, was als Entwurf einer Krankenhausreform vorgelegt worden ist, und was dieser Entwurf bezogen auf „Basics“ des Systems bedeutet. Für 73 Millionen Mitglieder und Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht entscheidend, was Professoren in einer Regierungskommission über Ökonomisierung und Kapitalismus im Gesundheitssystem sagen. Sondern für sie ist entscheidend, was das System für sie leistet.
Weiterlesen →Lernende Systeme für den Widerstand

Am 30. 11. 2022 hat OpenAI ChatGPT (Generative Pre-Trained Transformer) ein Chatbot System veröffentlicht, das in einem Chat-Format Fragen beantworten kann (und vieles mehr: Code von einer Code-Sprache in eine andere übersetzen, oder Code reviewen, sowie Texte zusammenfassen, etc.). Seit der Veröffentlichung hat ChatGPT über 1 Millionen Nutzer:innen innerhalb von 5 Tagen erreicht. Im Vergleich: Facebook hatte 2004 ungefähr 1 Millionen Nutzer:innen nach 10 Monaten. Twitter erreichte 1 Millionen Nutzer:innen nach 24 Monaten, Spotify nach 5 Monaten. 5 Tage für 1 Millionen Nutzer:innen ist ein außergewöhnlich hohes Wachstum.
Was ist das besondere an ChatGPT und warum wird es in einer Reihe von technologischen Innovationen wie dem iPhone oder Google gehandelt? Ein einfacher Grund: Die Ergebnisse sind erstaunlich gut. Um dies zu demonstrieren und die Fähigkeiten und Limitierungen der KI besser zu verstehen, habe ich die KI &ldquo interviewt. Besonders interessiert hat mich die Kritikfähigkeit der KI zu ihren eigenen Produktionsverhältnissen. Über die Fehler und Begrenzungen von ChatGPT gibt es hier mehr Informationen.
Einige Vorbemerkungen zum Nachdenken über Politik

Hintergrund der Vorbemerkungen ist die These, dass moderne Politik permanent eine doppelte Enttäuschung bereitet: Zum einen schürt sie die Erwartung, alles im Griff zu haben oder zumindest es wieder in den Griff zu bekommen, aber faktisch entgleitet ihr das meiste. Zum anderen erweckt sie die Erwartung, dass alle Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden können, aber faktisch fallen die politischen Sachentscheidungen in kleinen Kreisen.
Moderne Politik nenne ich die Einheit der Differenz von Konjunktiv und Indikativ – sie könnte alles, aber tatsächlich kann sie relativ wenig. Jede Idee, jedes Interesse, jede Barbarei kann in die Politik eingebracht werden. Der Krümmungsgrad von Gurken, das Tragen von Kopftüchern, der Bau von Grenzmauern, Weltraumfahrt und Völkermord, alles ist politisch entscheidbar und staatlich durchsetzbar. Aber was tut die Politik gegen Armut, Hungersnöte, Flüchtlingselend, Rassendiskriminierung, Waldsterben, Meeresverschmutzung, globale Erwärmung? Die Differenz zwischen Alleskönner und Vielesunterlasser birgt das Risiko, dass die Politik den Vorwurf erntet, weder die richtigen Dinge zu machen, noch die Dinge richtig zu machen, sozusagen „avanti dilettanti“ oder auf gut deutsch „setzen, sechs“ oder in der aktuellen Spiegel-Diagnose „Mehrheit der Deutschen mit allen Ampelministern unzufrieden„.
Tief im Soll: Bilanz der öffentlichen Kommunikation des Kanzlers

Beginnen wir mit einem Gedanken-experiment. Wie sähe die kommunikative Bilanz von Olaf Scholz als Bundeskanzler aus, wenn er seit seiner Wahl zum Bundeskanzler am 8. Dezember 2021 auf jedes öffentliche Wort verzichtet hätte? Was wüssten wir heute nicht, wenn es seine Bundestagsreden, Fernsehansprachen und Interviews nicht gegeben hätte? Die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr wären dann nur ein Sondervermögen und nicht Folge einer „Zeitenwende“. Die 200-Milliarden-Euro-Hilfen wären dann nurmehr ein Entlastungspaket in einer schwierigen Zeit und kein „Doppel-Wumms“. Und darüber hinaus? An welche Aussagen in seinen vielen Interviews erinnern wir uns noch? Oder muss man vielleicht eher fragen, ob wir mehr wüssten, wenn der Bundeskanzler uns mit seinen Reden und Antworten nicht so oft verwirrt hätte? Wie also sieht die kommunikative Bilanz des Bundeskanzlers und der von ihm geführten Bundesregierung nach einem Jahr aus? Der Versuch einer solchen Zwischenbilanz soll hier unternommen werden.
Weiterlesen →Nichts weist auf einen Kompromisswillen des Kreml hin

„Die ‚Sprache der Macht‘ ist uns Deutschen weitgehend fremd, auch weil wir nicht über die nötigen Sanktionsmechanismen verfügen. Wir brauchen sie aber“, sagt Andreas Wittkowsky im Interview mit Wolfgang Storz. „Zeitenwende“ heiße auch, sich von der unseligen deutschen Tradition zu verabschieden, die Probleme erst dann anzugehen, wenn der innen- und außenpolitische Druck zu stark werde. Bisher habe sich Deutschland trotz gegenteiligen Anspruchs nicht wirklich als Führungsmacht in Europa empfohlen.
Weiterlesen →Es nennt sich Journalismus
