„Putinversteher“ – ein Wort der Gegenaufklärung  

Etwas und Jemanden verstehen zu können und verstehen zu wollen, ist eine Grundhaltung der Aufklärung. Im Begriff „Putinversteher“ wird das Verstehen verächtlich gemacht.
Wer aber das Verstehen verächtlich macht, versteht das Verstehen nicht. Diese Unaufgeklärtheit wird auch nicht entschuldigt oder gerechtfertigt durch den brutalen Zivilisationsbruch des russischen Angriffskrieges. Wer in der Diskussion über den Ukrainekonflikt diejenigen, die nicht der eigenen – gelegentlich obsessiven – Befindlichkeit das Wort reden, herabsetzend als „Putinversteher“ bezeichnet, kehrt selbst einer zivilisatorischen Errungenschaft den Rücken. Grundsätzlich steckt hinter dem Sprachgebrauch „Putinversteher“ kein kluger Kopf, sondern ein unaufgeklärtes bzw. die Aufklärung herabsetzendes Denken.

„Wir können den Krieg nicht beenden, das kann nur Russland“  

3. Mai 2022. In der jetzigen Phase arbeite ich sehr viel. Ich bin den ganzen Tag im Ministerium und sitze meist abends noch bis spät vor dem Computer. Bis zum Krieg war es für mich und meinen Mann, der im Umweltministerium Staatssekretär ist, mit unserer Tochter ok. Aber nun sind wir in einer neuen Realität. Mein Ministerium ist dafür verantwortlich, alle Ukrainer mit Häusern und Wohnungen zu versorgen. Das ist im Moment extrem schwierig. Wir haben Gebiete, die besetzt sind. In anderen wird gekämpft, manche sind schon befreit.

Foto: WiR_Pixs auf Pixabay
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Medienpolitik ist Demokratiepolitik – ein Praxisbeispiel  

Kurt Günther, Der Radionist (Kleinbürger am Radio), 1927. Neue Nationalgalerie Berlin (Foto: Fabian Arlt)

Kürzlich in einer medienpolitischen Fachkonferenz – alle sind sich einig: Blöd, dass sich die „normalen Menschen“ nicht für Medienpolitik interessieren. Dabei sei sie so wichtig, Medienpolitik ist Demokratiepolitik! Absolut richtig, nur in einer informierten Öffentlichkeit können Erkenntnisse gewonnen, Meinungen abgewogen und eigene Standorte gefunden werden. Alles Voraussetzungen für die Mitwirkung in einer funktionierenden Demokratie. Es ist davon auszugehen, dass diese Zusammenhänge auch den Menschen vertraut sind, die in der Rundfunkkommission der Länder sitzen. Warum lassen sie dann gerade ein zartes Pflänzchen Interesse der „normalen Menschen“ an Medienpolitik jämmerlich verdursten?

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„Sich neu erfinden“ in Geschichte und Gegenwart  

Michelangelo Merisi de Caravaggio: Das Haupt der Medusa
(Bild: wikimedia coommons)

Eine Kostprobe. Allein im Jahr 2020 haben sich neu erfunden: die Sängerin Miley Cyrus, das Musikfamilienunternehmen Kelly Family, die Automarken Opel und Landrover Defender, das Deutsche Museum Bonn und die Musikschule Höxter, die 1. Mannschaft von Blau-Weiss Hohen Neuendorf. Außerdem ein paar Ministerpräsidenten (Haseloff, Woidke, Söder).1 Der rasante Kursanstieg der Erneuerungsfloskel paart sich mit Selbstoptimierungseifer, hat aber viel zu tun mit existentiellen Zweifeln und Krisen.

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Geliebt, gehasst, gebraucht

Intromusik: terrasound.de

Guten Tag, mein Name ist Arbeit. Es gibt mich als bezahlte und als unbezahlte; für die unbezahlte hat Gott aus Adams Rippe Eva geschaffen. Das Attraktive an mir ist, dass ich zwei Seiten habe, nämlich die Leistung und den Konsum. Das scheint zugleich mein Verhängnis zu sein. Schon immer haben Leute mit Gewalt und mit ideologischen Tricks anderen die Leistungen aufgezwungen und selbst den Konsum beansprucht. Keine Revolution hat daran bisher etwas geändert.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

Weitere Folgen von ‚Auch das noch!‚ zum Hören gibt es hier, wer nachlesen möchte, findet hier einen monatlichen Rückblick.

„Nachhaltigkeit“ von Putins Gnaden  

Screenshot: Rosatom

Mehrere Sanktionspakete der Europäischen Union, der USA und Großbritanniens haben Russland bisher nicht beeindrucken können. Klar ist, dass Maßnahmen gegen Energieexporte das Land weit empfindlicher treffen würden als alles, was bisher beschlossen worden ist. Können Öl- und Kohleeinfuhren kurzfristig beendet werden? Lässt sich die Abhängigkeit von russischem Gas nicht schneller reduzieren, als Regierungen und Großkonzerne behaupten? Diese Fragen werden intensiv diskutiert. Bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit findet dagegen das Nukleargeschäft. Dabei ist es alles andere als unbedeutend, zumal die Atomlobby unablässig eine Renaissance für ihre Branche fordert. Vor allem osteuropäische EU-Staaten sind für den Betrieb ihrer Nuklearanlagen von Lieferungen aus Russland abhängig. Für diese gibt es sogar Ausnahmen von den Sanktionen.

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„Warum hilft uns Deutschland nicht zu 100 Prozent?“

27.4.2022. In Kyjiw ist jetzt Frühling, die Bäume und Blumen blühen. Ein schönes Gefühl. Als ich gestern von meinem Büro mit Kollegen nach Hause ging, regnete es. Wir sahen einen Regenbogen. Den ersten für mich in diesem Jahr. Ein Hoffnungszeichen in diesen Tagen. Manchmal gibt es noch Raketenalarm. In anderen Teilen des Landes fallen weiter russische Bomben, aber bei uns ist es ruhig. Eine alte Kollegin, die in die Westukraine geflohen war und nun zurückgekehrt ist, reagierte ganz aufgeregt auf die Sirenen und fragte uns, ob wir nicht in den Keller gehen müssten.

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Klaus von Dohnanyi: «Ich habe vor dem Krieg gewarnt»

Foto: Udo Grimberg auf wikimedia commons

Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi ist ein politisches Urgestein. Im Januar 2022 veröffentlichte er sein jüngstes Buch «Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche». Darin warnte er vor einem Krieg in der Ukraine. Am 22. April, zwei Monate nach Kriegsausbruch, interviewte ihn der Norddeutsche Rundfunk. Die Redaktion Infosperber stellt seine wichtigsten Aussagen zur Diskussion. Sie sind wörtlich zitiert und deshalb teilweise umgangssprachlich. Die Interview-Aussagen hat David Huber transkribiert. Bruchstuecke übernimmt hier den Beitrag von Infosperber inklusive der Zwischentitel.

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Der russische Hybrid: Putinistische Weltpolitik

Foto: Christoph Mukherjee

„Oder aber es passiert das Folgende“, resümiert Gerd Koenen: „Nach einer halben Niederlage oder einem ruinösen neuen Pyrrhus-Sieg in der Ukraine — Putin selbst hat es immer wieder an die Wand gemalt: eine chaotische Selbstauflösung dieses von vielerlei Kräften und Tendenzen untergründig durchwirkten Staatsmolochs. Ein Szenario, das man sich so wenig wünschen kann wie irgendeines der anderen Szenarien. Und hier endet im Moment meine Phantasie — wie die aller äußeren Beobachter, oder vermutlich auch aller Bürgerinnen und Bürger Russlands selbst, die sich (offen oder insgeheim) fragen oder bald fragen werden, wann und wie dieser Alptraum enden wird.“ Der Historiker, Schriftsteller und Publizist im Interview mit Wolfgang Storz.

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Olaf, „bitte gibt mir nur ein Oh“

Intromusik: terrasound.de

„Wer Führung bestellt, der kriegt sie auch“, brüstet sich Olaf Scholz gerne. Aber Führung ohne Kommunikation ist wie ein Konzert der Berliner Philharmoniker ohne Instrumente. Deutschland hat einen Bundeskanzler, der an chronischer öffentlicher Maulfaulheit leidet. Hin und wieder gelingt es Journalisten, ihm seine Argumente aus der Nase zu ziehen. Es ist ja nicht so, dass er keine hätte.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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„Wir“: Seiner Suggestion auf der Spur                                

Wir sind Weltmeister
(Foto: Marcello Casal Jr/ Agência Brasil, wikimedia commons)

Benutzen sprechende Menschen die Wir-Perspektive, kann dies suggestive Wirkungen haben. Die Adressat:innen fühlen sich angesprochen, beteiligt und aufgefordert, wenn es im Falle einer Krise um das Durchhalten geht („Wir sitzen alle in einem Boot“), oder bei einer Naturkatastrophe darauf ankommt, Geld zu spenden. Im Falle des Erfolgs, sind „wir“ Teil desselben („Wir sind Weltmeister“, „Wir sind Papst“). Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ist attraktiv und erzeugt sogar spontane, gegenseitige Hilfe, solange Wir erwarten können, dass die Hilfe die Hilfsbedürftigen erreicht.
Dieser Beitrag lädt die geneigten Leser:innen dazu ein, die Suggestion des Wir durch Differenzierung zu entkräften. Wir, diese temporäre Gemeinschaft, werden uns auf die Suche nach einem vereinnahmenden, abgrenzenden und handlungsfähigen Wir machen, werden Nah- und Fernhorizonte besichtigen, das Oberklassen-Wir kritisch unter die Lupe nehmen und die Problemlösungskomptenz des Generation-Wir in Frage stellen.

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Freiheit nicht gegen, sondern aus Vernunft  

Im Jahr 2020 jährte sich der Geburtstag des Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel zum 250. Mal. Anlass für eine Welle von Veranstaltungen und Büchern zu Hegel, neue Biographien, philosophische Standortbestimmung, aber auch viele Versuche, die Aktualität dieses neben Immanuel Kant bedeutendsten Vertreters des deutschen Idealismus und seiner Philosophie für das Verständnis der Gegenwart und ihrer Probleme neu zu bestimmen. Der Philosoph Alexander Schubert legt mit klugem Abstand zum Hype des Jubiläumsjahrs einen schmalen, aber interessanten und gut lesbaren Band zu Hegel vor, der die Aktualität des hegelschen Denkens in einer ebenso fundierten wie originellen Weise deutlich macht.

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Frankreich vor der zweiten Runde: Wer entscheidet am 24. April?

Allons enfants de la patrie! Aber welche Richtung werden die Französinnen und Franzosen am 24. April wählen, um mit ihrer Nationalhymne den „jour de gloire“ zu erleben? Auf dem scharf rechten Weg steht Marine le Pen mit weit geöffneten Armen und verspricht ihrem gespaltenen und radikalisierten Volk mütterlich eine „Heilung“. Eine Abbiegung nach scharf Links führt ins Aus: Der Volkstribun Jean-Luc Mélenchon hat es trotz der beachtlichen fast 22 Prozent nicht in die Stichwahl geschafft. Und auf dem Weg mittendurch wartet ein Mann auf seine Wiederwahl, der als Hoffnungsträger vor fünf Jahren begann, dann von den gelben „Warnwesten“ mit Hass überschüttet wurde und heute mit seinem eher knappen Vorsprung von 27,5 vor le Pens 23 Prozent nicht geschlagen, aber angeschlagen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl geht: Emmanuel Macron wird um die Zustimmung seiner Landsleute kämpfen müssen. Die Zeit ist knapp und Skepsis ist angebracht. Wie konnte das nach seinem monatelangen Umfragehoch und seiner zumindest ökonomisch leidlich positiven Bilanz passieren? Ein nüchterner Blick auf die Landkarte nach den Wahlen vom 10. April ist aufschlussreich.

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Sucht nach Inszenierung, Sehnsucht nach Authentizität

Intromusik: terrasound.de

Digital Natives sollen sich selbst verwirklichen, ohne zu wissen, was Selbst und was wirklich ist. Die Sucht nach Inszenierung und die Sehnsucht nach Authentizität passen zueinander wie Arsch auf Eimer. Die App BeReal hat Erfolg mit dem Versprechen, „authentische Momente“ zu teilen, macht aber auch nichts anderes als alle anderen sozialen Netzwerke: Anbieter anzulocken, die Nachfrage anzuheizen und die User an die Werbeindustrie zu verkaufen.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand  

Glaskugel aus dem Wiener Sigmund Freud Museum
(Foto: Detlef zum Winkel)

Im Ukraine-Krieg rückt die Möglichkeit eines Waffenstillstands in immer weitere Ferne. Nachdem sich die russischen Truppen aus den Gebieten nördlich von Kiew zurückziehen mussten, wird nun im Ostteil der Ukraine heftig gekämpft. Russland will dort den gesamten Donbass und möglicherweise auch die gesamte Schwarzmeerküste erobern. Mit jedem weiteren Tag wächst das Ausmaß der humanitären Katastrophe, die der Krieg anrichtet. Die Frage ist, ob es in dieser Situation gelingt, den Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien mehr Geltung zu verschaffen, als es bisher der Fall war. Damit ein Waffenstillstand eine Chance hätte, müsste man ihn allerdings erst einmal wollen.

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