Was Besseres finde ich gegenwärtig nicht

Bundespressekonferenz am 31.8.1978, Bonn (Foto: CDU auf wikimedia commons)

Seit anderthalb Wochen liegt ein politischer Vertragsentwurf zwischen den drei koalitionswilligen Parteien CDU, CSU und SPD auf dem Tisch. Er besteht aus einer Sammlung von Vorhaben und dem gegenseitigen Versprechen, die aufgeschriebenen Vorhaben im Licht der Haushaltsregeln und der finanzpolitischen Möglichkeiten umzusetzen. Ein Koalitionsvertrag ist also keine Bibel und auch keine Reißbrett-Zeichnung, die nun zentimetergenau von Handwerkern realisiert werden müsste. Seit einer Woche wird der Vertragsentwurf aus verschiedenen Blickwinkeln kritisiert. Die einen sagen, der Koalitionsentwurf strahle soziale Kälte aus; andere vermissen große Reformversprechen. Am häufigsten wird an diesem Papier kritisiert, dass sich die  Vertragschließenden in vielen Teilen und Aussagen nicht sicher festgelegt hätten. Man vermisst also Gewissheiten.

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„Die mit den Waffen hungern zuletzt“

Ein „ Krieg ohne Grenzen “: Die erneute Blockade des Gazastreifens geht in den zweiten Monat. Zahlreiche internationale Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen warnen davor, dass sich Hunger ausbreitet und lebenswichtige Medikamente fehlen. Mangelernährung, Krankheiten und andere vermeidbare Leiden würden wahrscheinlich zunehmen – insbesondere unter Kindern . Die erneute Verweigerung notwendiger humanitärer Hilfe rückt damit eine besonders verheerende Methode der Kriegsführung zurück in den Fokus: das Aushungern der Zivilbevölkerung.
Der Verfassungsblog, genauer: Chefredakteur Maxim Bönnemann, hat mit Tom Dannenbaum, Professor für Völkerrecht an der Fletcher School of Law & Diplomacy (Medford, Massachusetts), einem international führenden Experten zu diesem Thema, über die verheerende Wirkung von Hunger als Kriegswaffe und die völkerrechtliche Bewertung der Lage in Gaza gesprochen. Bruchstücke übernimmt das Interview.

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Zwei Chinesen ohne Kontrabass im Donbass

Wird der russische Krieg in der Ukraine gerade zum internationalen Agententhriller – inklusive chinesischer Soldaten mitten im Donbass?
Während Peking alles abstreitet und sich als Friedensbotschafter inszeniert, fragt sich der Westen, ob es sich hier um eine militärische Eskalation oder nur um einen fatalen Navigationsfehler handelt. Fest steht: Die globale Lage ist so absurd, dass selbst James Bond absagen würde – zu wenig Logik, zu viel Realität.

Der einsame Hitler-Attentäter

Vor achtzig Jahren – am 9. April 1945 – wurde der Schreinergeselle Georg Elser im KZ Dachau ermordet. Mit einer selbstgebastelten Bombe hatte er ein Attentat auf Hitler geplant, während dieser im Münchner Bürgerbräukeller eine Rede hielt. Doch an diesem 8. November 1939 verließ der «Führer» vorzeitig den Saal und kam mit dem Leben davon. Elser wurde als »Sonderhäftling« jahrelang inhaftiert – und kurz vor Kriegsende auf Befehl der Gestapo erschossen. Wer war der Mann, der die Bombe baute, die Hitler töten sollte?

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Marine Le Pen und die „Justiztyrannei“

Place Vauban in Paris ohne Rechtsextremisten
(Foto: Jmh2o auf wikimedia commons)

Die Maske der gepflegten Bürgerlichkeit mit Kostümchen und Krawatte ist gefallen: Nach dem Urteil des französischen Strafgerichts vom 31. März in Paris mit Haft- und hohen Geldstrafen sowie dem zeitweiligen Entzug der passiven Wählbarkeit ziehen die rechtsextreme Marine Le Pen und ihre Getreuen in der Nationalversammlung, in den Medien und auf dem Place Vauban mitten in Paris gegen „das System“, das eine „Atombombe“ gezündet habe, gegen die „roten Richter“ und die „Justiztyrannei“ zu Felde. Die Kampagne des Rassemblement National (RN) und die sonntägliche Mobilisierung des „Volkszorns“ auf dem Platz Vauban sind eine beispiellose Missachtung der Gewaltenteilung, eines unabhängigen Gerichts und eines Urteils auf der Grundlage von Gesetzen des französischen Parlaments: Marine Le Pen hält sich und ihre Ambitionen, in zwei Jahren zum vierten Mal für die Präsidentschaft zu kandidieren, für wichtiger als die Achtung des Rechtsstaats.

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Ein politischer Freitod?

Foto: Jänick auf wikimedia commons

Für Sonntag, den 6. April, hat die Rechtsaußen-Partei Rassemblement National (RN) zu einer Protestkundgebung in der französischen Hauptstadt aufgerufen. Im Mittelpunkt: Marine Le Pen, der ein Pariser Strafgericht das passive Wahlrecht entzog. Als Redner sind neben Le Pen der RN-Chef Jordan Bardella sowie RN-Vizepräsident Louis Aliot angekündigt. „Die Richterin, die Le Pen verurteilt hatte, steht mittlerweile unter Polizeischutz. Sie hatte Morddrohungen erhalten, zudem wurde ihre Privatadresse im Internet veröffentlicht, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete. Die Pariser Polizei bestätigte Ermittlungen“, schreibt Zeit-Online. Am Tag nach der Urteilsverkündung veröffentlichte der Verfassungsblog (unter der CC BY-SA-4_Lizenz) eine Analyse der Rechtswissenschaftlerin Charlotte Schmitt-Leonardy, Professorin an der Universität Bielefeld. Bruchstücke übernimmt den Beitrag, der mit dem Satz schließt: „Und beruhigen wir uns: Hier hat die Justiz nicht den ‚politischen Tod‘ einer zukünftigen Präsidentschaftskandidatin zu verantworten – es war ein (leicht vermeidbarer) Freitod.“

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Israel retten – Netanjahu stoppen

Ein Bild von Benzi Brofman (Foto: Hanay auf wikimedia commons)

In Tel Aviv scheint die Sonne. Die Cafés und Restaurant sind voll. Am Strand wird Volleyball gespielt. Die ersten Menschen wagen das Bad im noch kühlen Mittelmeer. Kurz, in der Weißen Stadt – in keinem anderem Land der Welt prägt die Bauhaus-Architektur das Stadtzentrum so wie in Tel Aviv – pulsiert das Leben. Auf den ersten Blick scheint der nur 80 km entfernte Krieg fast surreal weit weg und doch ist er allgegenwärtig. Im Gespräch mit Freunden aus der Gewerkschaft zeigt sich das ganze Dilemma von Linken im heutigen Israel. Rechts und links definiert sich in Israel nicht so sehr über Wirtschafts- und Verteilungsfragen, sondern vor allem über die Haltung zu den Palästinensern. Mit einer Politik, die an Frieden mit den Palästinensern und einer auszugestaltenden Zweistaatenlösung festhält, ist zur Zeit keine Mehrheit zu gewinnen.

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Die USA, ein Doppelstaat?

Es ist ein Satz, der tiefes Erschrecken und ein ebenso tiefes Gedenken an einen großen Lehrer auslöst. „Today, we are witnessing the birth of a new dual state.“ Aziz Huq, der Jura an der Universität von Chicago lehrt, erinnert in einem kurzen, messerscharfen Essay für die Print-Ausgabe der US-Zeitschrift The Atlantic unter dem Titel „Amercia is Watching the Rise of a Dual State“ an Ernst Fraenkel und sein fundamentales Werk zur nationalsozialistischen Herrschaft: „The Dual State“ (1940), erst 1974 als „Der Doppelstaat“ in der Europäischen Verlagsanstalt auf Deutsch erschienen. „Wir sind Zeugen der Geburt eines neuen Doppelstaats“, schreibt Huq. Lange wären die USA, wenn auch nicht immer perfekt, ein Staat der Normen und demokratischen Machtteilungen (für Fraenkel war das der „Normenstaat“) gewesen. Seit seinem Amtsantritt aber setze sich Donald Trump mit seinen „executive orders“ über fundamentale Lehren des amerikanischen Verfassungswesens hinweg: so die Macht des Kongresses für bindendes Recht und Gesetz; oder Entscheidungen von unabhängigen Gerichten. Damit habe er die Grenze überschritten vom „normativen Staat“ zum „Maßnahmenstaat“ (Fraenkels Begriff für den nationalsozialistischen Parallelstaat).
Aziz Huq erwähnt auch Versuche, Richter, Wissenschaftler und Universitätsleitungen einzuschüchtern. Vieles bleibe zwar für die Mehrheit der Bevölkerung, wie es war. Die „executive orders“ berührten ihr Leben nicht: „Most people can ignore the construction of the prerogative state simply because it does not touch their lives.“ Das aber sei die eigentliche Gefahr eines „Doppelstaates“, weil die „Maßnahmen“ Dissidenten und sonstige „Sündenböcke“ träfen. „But once the prerogative state is built, as Fraenkel’s writing and experience suggest, it can swallow anyone”: Der „Maßnahmenstaat”, wenn er sich etabliert hat, verschlingt politische Freiheit und Verfassungen mit den „checks and balances“.

Das lehrte Professor Ernst Fraenkel, der 1938 aus Deutschland geflohene und 1951 zurückgekehrte jüdische Anwalt, uns Studentinnen und Studenten im Wintersemester 1962/63 am Berliner Otto-Suhr-Institut. Die Geschichte seines Buches erzählte er damals nicht: das ursprüngliche, deutsche Manuskript schmuggelte ein französischer Diplomat in seinem Gepäck nach Paris. Fraenkel schrieb es neu und zu Ende auf Englisch im Exil an der Universität, an der heute Aziz Huq lehrt. Seine Erinnerung und sein Wiederlesen fallen beklemmend aus.

Korrumpiertes Regieren entzieht sich der Kontrolle

Bild: Peggy_Marco auf Pixabay

Innerhalb von nur zwei Märztagen titelten die Washington Post und die New York Times, dass (1) Präsident Trump die Schließung des Bildungsministeriums angeordnet hat, (2) die Regierung gegen Anwält:innen vorgeht, die sie verklagen, und (3) ein Gericht vorläufig die Abschiebung eines Forschers der Georgetown University gestoppt hat. Was haben diese Ereignisse gemeinsam? Sie sind Teil eines breitgefächerten Angriffs auf Institutionen des Wissens und des Rechts – ein Angriff, bei dem Wissens- und Pressefreiheit und die Rule of Law insgesamt keine Rolle mehr spielen [berichtet Vicki C. Jackson, Laurence H. Tribe Professorin für Verfassungsrecht an der Harvard Law School, auf dem Verfassungsblog unter CC BY-SA 4.0 Lizenz und schreibt im Einzelnen:].

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Auf der verzweifelten Suche nach Zufluchtsorten

Bild, KI generiert: deeznutz1 auf Pixabay

Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Hannah Arendt. Große Autoren, die jedem sofort einfallen, wenn an das Exil während der Nazi-Zeit erinnert wird. Ihre Schicksale aus jener Zeit sind bis aufs Kleinste ausgeleuchtet. Über Hunderttausende Andere, die fliehen mussten, ist dagegen nur wenig bekannt. Dabei wollte es Wolfgang Benz, renommierter Zeithistoriker und Antisemitismus-Forscher, in seinem Buch „Exil“ nicht belassen. Sein Blick gilt nicht allein den privilegierten Exilanten. Er hat die unendliche Dimension der Schicksale jener aufgezeichnet, die Nazi-Deutschland verlassen mussten, ohne zu wissen, wer sie aufnehmen würde, wie sie leben und ihren Unterhalt verdienen könnten.

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Görliwood und sein verlorener Sohn

Screenshot: Website LEMO, Lebendiges Museum Online

Görlitz, am östlichen Rand der Republik, ist eine besonders schöne, geschichtsträchtige, auch zukunftsorientiere Stadt – und AFD-Hochburg. Hier wurde Werner Finck geboren, der Großmeister des politischen Kabaretts. Einst berühmt, heute bei vielen vergessen. Das soll sich jetzt ändern.

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Hochkonjunktur für Bellizisten?

Der Sponti- Slogan „Raus aus der Nato, rein ins Vergnügen“ riecht in diesen aufgewühlten Zeiten einer mutmaßlichen Vorkriegszeit nach Mottenpulver. Während die oft totgesagte oder als 5. Kolonne Putins verächtlich gemachte Ostermarschbewegung ihre Friedensdemonstrationen für den April plant, wird Bundesverteidigungsminister Pistorius nicht müde wird, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen. Und der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, legt nach mit der Prophezeiung, „spätestens Ende dieses Jahrzehnts dürften russische Streitkräfte in der Lage sein, einen Angriff auf die Nato durchzuführen.“ Hochkonjunktur für Bellizisten?

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Politik für morgen mit Zahlen von gestern

Die Bildungsminister:innen haben es jetzt Schwarz auf Weiß: In Deutschland werden immer weniger Kinder geboren. Der Rückgang – seit einem Höchststand vor vier Jahren mit 765 000 – ist dramatisch: Innerhalb von nur drei Jahren ist die Zahl der Geburten auf 674 000 (2024) gesunken. Aber die jüngste Konferenz der Bildungsminister beschäftigte sich mit der Unterstützung erkrankter Kinder und dem medienträchtigen Vorstoß aus Hessen zu einem angeblichen Handy-Verbot in den Schulen. Der folgenschwere Rückgang der Geburten, der die bisherigen Prognosen zum Kita-, Schul- und Lehrerbedarf einschneidend korrigiert, war dieser Konferenz keinen Kommentar wert. Auf ihrer Pressekonferenz in Berlin wurden die Ministerinnen Karin Prien (CDU), Simone Oldenburg (Linke) und Stefanie Hubig (SPD) auch nicht danach gefragt: Das Eltern, Schüler-und Lehrerschaft aufregende Thema „Handy-Verbot“ war wichtiger, obwohl es überhaupt nicht auf der Tagesordnung der Konferenz stand.

Um was geht es bei dem Rückgang der Geburten? Der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm, der der Konferenz der Kultusminister (KMK), die es seit dem Herbst 2024 in drei Unterkonferenzen gibt (Bildung, Kultur, Wissenschaft), seit Jahrzehnten immer wieder vorrechnet, dass sie mit veralteten Zahlen Politik macht, hat sich wieder einmal die neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes angesehen und daraus Schlussfolgerungen für die Kitas und die Grundschulen gezogen. Für die Grundschulen gilt ab dem Schuljahr 2026/27 ein Rechtsanspruch auf eine ganztägige Bildungsförderung. Klemm weist in seiner Studie für das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) nach, dass die KMK für 2024 immer noch von 756 000 jährlichen Geburten ausgeht: Und weiter steigenden Zahlen. Ein Irrtum, wie Klemm ausführlich belegt. Er wagt auch einen genauen Blick auf die Bevölkerungsstatistik und in die Entwicklung der Bundesländer. Vor allem in den östlichen Bundesländern (so in Brandenburg) wird sich die Lage zuspitzen, wie angesichts sinkender Schülerzahlen „wohnortnahe Grundschulangebote“ überhaupt noch zu sichern sind. Sich dieser Herausforderung zu stellen, wäre jetzt die Aufgabe der Bildungsministerkonferenz. Bei ihr liegt die Verantwortung für „gleichwertige Lebensverhältnisse“ und „das verfassungsrechtlich verbriefte Recht auf Bildung“ (Zitat aus der Gründungserklärung der BK vom 10. Oktober 2024). Vielleicht sollten sich die Ministerinnen und Minister einmal die Studie auf ihrem Handy herunterladen. Das wäre ein sinnvoller Gebrauch.

Lügen die Bilder, die Menschen oder beide

… ab 18. April in Amsterdam (Screenshot: Website World Press Photo)

Wir wechseln von der Angebotsseite der digitalen Kommunikation zurück auf die Nachfrageseite. Welche Folgen hat es für die Bürgerinnen und Bürger, wenn eine Kultur der Bilder die Kultur der Sprache und Schrift teilweise verdrängt? Zunächst ist festzuhalten: unser Bezug zur Welt ist technisch vermittelt. Wir leben in einer „Welt als Welt von Mitteln“ (Hegel), also auch in einer Welt von Bildern. Ein so vermittelter Realitätsbezug ist angewiesen auf seriöse Institutionen, wenn er nicht (be)trügerisch sein soll. Ich werde unterschiedliche Realitätsbezüge vorstellen: begründetes Misstrauen, Realitätsverlust und kontrollierten Weltbezug.

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Thesen im protestantischen Lutherton

„Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit unseres Staates schwindet, und damit schwindet auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie.“ Mit diesem wuchtigen Satz gingen Peer Steinbrück, Thomas de Mazière, Andreas Voßkuhle und Julia Jäkel – genau eine Woche, bevor der Bundestag mit verfassungsändernder Mehrheit den Weg zu milliardenschweren, historisch hohen Krediten für Verteidigung, Infrastruktur und Klimaschutz frei gemacht hat – an die Öffentlichkeit und stellten 30 Thesen  „für einen handlungsfähigen Staat“ vor.

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bruchstücke