Grobes Versagen der Verantwortlichen? Grober Unfug der Unverantwortlichen

Bild: Geralt auf Pixabay

Dieses Land ist nicht in Ordnung. Jetzt brach vor geschlagenen zwölf Monaten die Pandemie aus und mein 93jähriger Vater (Risikogruppe hoch zehn) ist immer noch nicht geimpft. Was soll das denn? Welcher Konsument wird da nicht ungeduldig. Zurecht. 
Die Konsumenten, sie steigen massenweise in Skilifte, fliegen in Risikogebiete, böllern zum Jahreswechsel, überprüfen jede Schutzvorschrift, wie sie sich am besten umgehen lässt – und sind politikverdrossen. Neurologin Frauke Zipp, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, sagt in der „Welt“, was ist, und spricht über das „grobe Versagen der Verantwortlichen“. Warum nicht schon im Sommer mehr Impfstoff auf Risiko bestellt worden sei.

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Wenn Demokratie die Selbstbeherrschung verliert

Dreifach beherrschtes Selbst © Andreas Galling-Stiehler 2020

(Liebes-)Verlust und Misslingen greifen unser Selbstwertgefühl an, sie schlagen unserer Selbstliebe Narben. Etwa so setzt Sigmund Freud 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ an, um unsere düsteren Gefühle zu ergründen. Hundert Jahre danach scheinen die düsteren Gefühle in eins zu gehen mit der politischen Agenda. Die Freud-Preisträgerin Ute Frevert spricht in ihrem Buch „Mächtige Gefühle“ von organisierter Gefühlsarbeit, die Gefühle von Bürgerinnen und Bürgern zu formen und kontrollieren versucht. Eine solche „Gefühlspolitik“ betrifft nicht nur die vielen Einzelnen, sie gehört auch „in die Sphäre der Staatskunst, der Medien oder des Kommerzes“, so Frevert. Nun macht der Kommerz eine Pause und die Medien geben der Staatskunst eine Bühne für ihre Auftritte in Dauerschleife, als sei Gefühlsarbeit kein geteiltes Geschäft mehr. Die Exekutive scheint den Bürger*innen unvermittelt gegenüber zu stehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel stellt als personifizierte Staatskunst die Gefühle vor und der Souverän fühlt sie nach – so das desolate (Selbst-)Bild im Winter.

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Schreib das auf, Kisch!

Im Pandemie-Sommer 2020 wurden in Kreuzberg 14-tägliche Protestkundgebungen auf der Straße ins Leben gerufen. Projekte, Initiativen, Hausgemeinschaften, einzelne Betroffene demonstrieren gegen den Ausverkauf der Kieze. (Foto: Arno Petersen)

Das ist der erste Eindruck: Geraten Geld und Kultur aneinander, ist klar, wer wegen Aussichtslosigkeit sich anpasst oder ganz aufgibt. Unsere Gesellschafts- und Rechtsordnung will, dass das Geschäft blüht, auch wenn Kultur und Natur dabei verwüstet werden. Solange sie sich willig in Kitsch und Konsens verwandeln lässt, hat die Kultur vom Kommerz wenig zu befürchten. Linke Buchhandlungen hingegen sollten darauf achten, dem Geld nicht in die Quere zu kommen, selbst dann nicht, wenn sie wie Kisch & Co in Berlin-Kreuzberg eine kulturelle Institution sind. Genauer hingeschaut, geht es um Konkreteres: Das „Volle Breitseite“-Bündnis, das sich gegen die Räumungsklage eines Luxemburger Immobilienfonds gebildet hat, kämpft auch für ein Gewerbemietrecht analog zum Mietrecht für Wohnungen.

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Auch wenn die Aktionen aufhören, die Proteststimmung bleibt

Ängste vor wirtschaftlichem Abstieg, Misstrauen gegenüber politischen und anderen Eliten sowie kulturelle Desorientierung bilden nach Auffassung des Bewegungsforschers Dieter Rucht die Tiefenströmungen der Querdenker-Proteste. Deshalb seien sie anschlussfähig für Rechtsextremismus. „In einer akuten Krise mit der Erfahrung eines drastischen Kontrollverlustes verstärken diese Strömungen die Neigung, eine generalisierte Unzufriedenheit auszuleben“ sagt Rucht im Bruchstücke-Interview. Für diese Unzufriedenheit sei Corona nur das Thema, das sich gerade anbiete. Prof. Dr. Dieter Rucht ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und Senior Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

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Nicht zynisch laufen lassen, sondern humanitäre Lösungen suchen

August 2018: Demonstration der Seebrücke München für die Entkriminalisierung der Seenotrettung, sichere und legale Fluchtwege, sowie eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern (Foto: Rufus/ wikimedia commons)

Warum ist es nicht möglich, zehntausend Migranten aus dem Lager Moria in der EU zu verteilen und unter menschenwürdigen Bedingungen unterzubringen? Warum gibt es keine systematische Rettung von Ertrinkenden im Mittelmeer? Warum können im Falle neuer Kampfhandlungen in der syrischen Provinz Idlib nicht einige Hunderttausend besonders gefährdete Menschen direkt und sicher in der EU untergebracht werden?
Praktisch wäre das machbar für eine so reiche und starke EU – und sogar für Deutschland allein. Das Problem ist kein sachliches, also fehlender technisch-ökonomischer Möglichkeiten, sondern es ist ein politisches. Es fehlt der politische Konsens für solche Maßnahmen.
Meine These: Ein solcher Konsens wäre möglich. Die Bedingung: Eine grundsätzliche, ehrliche Einigung in der Migrationsfrage! Also nach dem Prinzip eines historischen Kompromisses, der lange hält und der die zentralen Anliegen der Konfliktseiten berücksichtigt. Statt zynischem Laufen-Lassen offensives Suchen nach humanitären Lösungen, darauf kommt es an.

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(N°5) Ich, Olaf Scholz

Ein Portät des SPD-Kanzlerkandidaten als Hörstück, gesprochen von Jana Gebauer. Als Lesestück, geschrieben von Wolfgang Storz, steht es hier.

„Manche freilich…“

Bild: Ntametrine/ wikimedia commons

Cher ami,

hier meine coronakonformen herzlichen Weihnachtsgrüße und die Empfehlung für einen  angemessenen leisen Übertritt ins nächste Jahr. Wir werden vermutlich alle 2020 markant in Erinnerung halten. Nicht weil, wie Arminius Laschet glaubt, dieses Weihnachten das schlimmste Fest seit Kriegszeiten wird. Mir fällt es schwer, die Kriegserlebnisse meiner Eltern und Großeltern zu vergleichen mit den beklagenswerten Ereignissen in meinem Leben oder in diesem Jahr. Aber das Corona-Jahr ist immerhin ein Jahr der Vergleiche oder besser: des Vergleichens.

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„Das Wunder hat, fast über Nacht, soziale Marktwirtschaft vollbracht“

CDU-Bundesgeschäftsstelle Lizenz: KAS/ACDP 10-025:389 CC-BY-SA 3.0 DE/ wikimedia commons

Gerade erteilte die EU-Kommission dem Corona-Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer die „bedingte Marktzulassung“. Bereits Anfang Dezember klotzte die formell unabhängige Propagandazentrale „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit ganzseitigen Inseraten in den großen deutschen Tageszeitungen mit dem rustikal-grobianischen Slogan „Impfstoff. Made in sozialer Marktwirtschaft – also mit „Freiheit und Wettbewerb… Sie sorgen dafür, dass Forscher und Unternehmen innovative Produkte entwickeln“. Fehlt da nicht eine Kleinigkeit?

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Das Auto als Waffe der Leistungsgesellschaft

„Die derzeit populären Sport Utility Vehicles sind randvoll aufgeladen mit Ideologie. Sie sind die Ikonen des neoliberalen Zeitalters, des hemmungslosen Egozentrismus, des grenzenlosen Hedonismus. ‚No Future!‘ vereint den Weltkriegsbunker mit der ‚Gated Community‘ mit den neuzeitlichen zivilen Lifestyle Panzerfahrzeugen, deren Ursprünge ohnehin im militärischen Bereich liegen“, erläutert das Künstlerpaar Folke Köbberling und Martin Kaltwasser seine Skulptur „SUV 2008“ aus Fundholz http://www.martinkaltwasser.de/suv-2008.html

Stellt BMW seine SUV-Werbung in Frage? „Wir werden Ihr Schreiben daher zum Anlass nehmen, die Aussagen in unserer Werbung entsprechend zu prüfen“, teilt der „Leiter Markt Deutschland“ der BMW Group den Autoren eines offenen Briefes mit, in dem ein Zusammenhang gesehen wird zwischen schwersten innerstädtischen Unfällen und der aggressiven Werbung für SUVs.

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(KW51) Deutschland im Krisenmodus — doch kein Vorbild?

Foto: Julie Ricard auf Unsplash (bearbeitet) | Intromusik von terrasound.de

Die Krise verschärft sich auch wegen alter Defizite: Verschlafene Digitalisierung, heruntergekommene Schulen, Mangel an PflegerInnen — nirgends Grund zur Selbstzufriedenheit.
Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch.

Fundstücke der Woche:
1. Coronamassenausbruch in Alten- und Pflegeheimen
2. Mafiafreies Olivenöl
3. Horst Seehofer versagt (nicht nur hier)

Das ist das letzte „Thema der Woche“ für dieses Jahr, aber nicht das letzte Bruchstück: Hören, Lesen, Kommentieren und Antworten auf „Die offene Frage“ gehen an den Weihnachtstagen und zwischen den Jahren weiter.
Wir wünschen entspannte Feiertage und einen guten Rutsch raus aus 2020.

Krise als Chance – wohlfeile Lebensberatung oder echte politische Option

Um die Zeitung Le Monde als Morgenlektüre zu genießen, muss man gut französisch können. Um das Berliner Journal für Soziologie zu lesen, muss man Deutsch und Soziologisch verstehen. Soziologisch ist relativ schwer und selten lustig, aber das Juristische, Medizinische und Betriebswirtschaftliche sind auch nicht leicht und amüsant schon gar nicht. Wer willens und bereit ist, sich Soziologisch anzutun, dem seien die gesellschaftstheoretischen „Deutungsversuche“ der gegenwärtigen Krisensituation von Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa empfohlen. Die drei Soziologie-Professoren, originelle Denker und eloquente Formulierer, haben ein paar Jahre lang an der Universität Jena zusammengearbeitet und auch dort schon gut und gerne mit- und gegeneinander diskutiert; der Suhrkamp-Band „Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte“ aus dem Jahr 2009 belegt es. Stephan Lessenich arbeitet inzwischen in München, im Streit-Gespräch sind die drei geblieben, aktuell zum Thema Corona-Krise. Im Folgenden jeweils ein Blitzlicht aus ihren Aufsätzen und die Links zu den Volltexten.

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(N°4) Roosevelt und der New Deal — ein Musterbeispiel für heute?

Intromusik von terrasound.de

Voraussetzungen einer sozial-ökologischen Umwälzung: Wie wird eine Aufbruchstimmung erzeugt — mit tiefen Konflikten? Progressive Regierung und außerparlamentarische Bewegung — befördern oder behindern sie sich? Wie wichtig sind Großprojekte, die den Alltag verbessern?

Ein Gespräch mit Steffen Lehndorff über den New Deal von Franklin Roosevelt und Lehren für heute.

Von „Stalin Delano Roosevelt“ lernen

Great Depression bread line: Eine Schlange von Bedürftigen vor einer Nahrungsmittelausgabe. Franklin Delano Roosevelt Memorial, Washington D.C.
(Foto: Stefan Fussan/ wikimedia commons)

Das Büchlein „New Deal heißt Mut zum Konflikt“ kommt mit einem gewaltigen Thema daher. Ein Thema, das in unsere Zeit passt, obwohl es aus den 1930er Jahren stammt. Spätestens seit etwa fünf Jahren haben wir mit der Migrationsfrage, der Klimakrise und jetzt der Corona-Pandemie ein Trio existenzieller Problemberge, welche die bisher eingeübte Politik der Trippelschritte als unangemessen erscheinen lassen. Und plötzlich das, wegen Corona: In radikaler Abkehr einer dogmatisch-rigiden Sparpolitik werden hohe Schulden und Investitionen des Staates geadelt. Was so lange als nicht machbar galt, geht eben doch. Das eigentliche Thema dieser Flugschrift.  

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(KW50) Geld allein reicht nicht…

Intromusik von terrasound.de

Merkel, die Deutschen und die Pandemie – Anatomie einer schwierigen Dreiecksbeziehung.
Horand Knaup und Wolfgang Storz im Gespräch.

Fundstücke der Woche:
1. Oxfam
2. Wirecard Untersuchungsausschuss
3. Leistungsniveau von Grundschülern
4. Blockade der Rundfunkbeitragserhöhung

Mehr zum Thema auf bruchstuecke: „Corona-Bekämpfung durch allgemeine Depression?“ & „Humanitäre Kompromisse statt Polarisierung der Empörten“

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