„S’ ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein“  

«Im Frühling würde alles anders, die Natur würde erwachen, die Vögel würden lauter singen als die Geschütze feuerten, weil die Vögel in der Nähe sangen, die Geschütze aber dort in der Ferne blieben. Nur manchmal würden die Artilleristen aus unbegreiflichem Grund, vielleicht weil sie betrunken oder müde waren, ein Geschoss zufällig auf das Dorf, auf Malaja Starogradowka, abfeuern. Einmal im Monat, nicht öfter. Das Geschoss würde dorthin fallen, wo es schon kein Leben mehr gab: auf den Friedhof oder den Kirchenvorhof oder das seit langem leerstehende Gebäude des alten Kolchosebüros.» So denkt der Bienenzüchter Sergej Sergejitsch im Donbass.

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Unsere Werte, unsere Wirtschaft und das Reich der Mitte 

Bundesaußenminister Genscher (rechts) im Gespräch mit Deng Xiaoping in der Großen Halle des Volkes am 29. Oktober 1985, dem Tag der Einweihung der Handelsförderungsstelle.
(Foto: Ulrich Wienke auf wikimedia commons)

Wenn die Vorstände der großen deutschen Konzerne sich gemeinsam äußern und mit ihnen die Vertreter der wichtigsten Industriezweige, dann geht es ums große Ganze. Riesig ist der chinesische Markt und aus den Umsatzzahlen von BASF, VW, Bosch und Siemens nicht wegzudenken. Genauso wie für die deutsche Pharmaindustrie, die Medizintechnik, die Autozulieferer und den Maschinenbau. Die in der FAZ kürzlich veröffentlichte gemeinsame Erklärung hat die Crème des deutschen Kapitalismus unterzeichnet, aus gegebenem Anlass ergänzt um die Vorstandsvorsitzende der Hamburger Hafen AG. Man macht sich große Sorgen um die öffentliche, China viel zu kritisch kommentierende Meinung in Deutschland.

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Das eigene, verzerrte Normal des alltäglichen Journalismus

In den letzten 50 Jahren hat sich die Medienwelt modernisiert und in manchem zum Guten gewandelt. Nehmen wir die Lage von Journalistinnen. Die 1970er waren das Jahrzehnt, in dem der Chefsprecher der ARD beispielsweise noch behaupten konnte, Frauen seien zu emotional, um Nachrichten zu verlesen. Noch längst ist nicht alles gut. Aber solche Zeiten sind vorbei. Auch, weil Journalistinnen zum Beispiel im Verein Pro Quote für gleiche Chancen gekämpft haben. Genau, wie es seit einigen Jahren Menschen mit Migrationsgeschichte im Zusammenschluss Neue deutsche Medienmacher*innen tun. Ihrer aller Forderung: Redaktionen müssen ein Abbild der Gesellschaft sein, über die sie berichten. Die Gratwanderung, das vorab, die dieser Text versuchen wird, ist, keine Ungleichheit gegen die andere auszuspielen. Trotzdem ist festzustellen, dass die Diversity-Diskussion einen Bereich weitestgehend ausblendet – oder sollte man sagen: eine Dimension?

Screenshot: Website neuemedienmacher.de
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Gefährliche Melange: Wo Demokraten und rechter Rand an einem Strang ziehen

Viele demokratisch gesinnte BürgerInnen wissen, es muss sich vieles ändern. Zugleich wollen sie ihren alten Alltag zurück. Gepaart mit diesem Paradox ist ein tiefes Misstrauen gegen "die da oben" und zunehmend die Überzeugung, unsere Demokratie sei unfähig, die jetzigen Probleme zu lösen. Auf dieser Grundlage gibt es eine Annäherung an die Narrative der Rechtsaußen.
Wolfgang Storz und Horand Knaup im Gespräch mit der Wahlforscherin Jana Faus.

Läuft die soziale Sicherung in eine existentielle Krise?

Es rauschte einfach an den Zuschauenden vorbei, nämlich was Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im Erwachsenen- Schulfunk „hart aber fairgerade sagte: „Das System wird ein Stück teurer.“ Ein netter Hinweis auf den Defizit-Stau in den beitragsfinanzierten Sozialsystemen.
Für die gesetzliche Krankenversicherung wird der Zusatzbeitrag um 0,3 Prozent steigen – was etwa fünf Milliarden € ausmachen wird. Die gesetzlichen Krankenkassen erhalten zwei Beiträge, den „regulären“ Beitrag in Höhe von 14, 6 v.H. vom Brutto-Entgelt, jeweils zur Hälfte von Beschäftigten und Betrieben gezahlt und einen Zusatzbeitrag. Der liegt im Schnitt bei 1,3 v.H. Da die Krankenkassen Mitte des Jahrzehnts in Defizite in Höhe von geschätzt 27 Milliarden € laufen (IGES- Forschungsinstitut Berlin) werden 0,3 Prozent Erhöhung nicht reichen.
Es kommen Beitragserhöhungen für die Rentenversicherung hinzu. 18,6 v.H. vom Brutto zahlen Beschäftigte und Betriebe paritätisch in die Rentenversicherung. Um das Rentenniveau (Relation zwischen Einkommen aus unselbständiger Arbeit und Renten) bei 48 v.H. zu halten, werden bis 2026 statt 18,6 v.H. etwa 20 v.H. erforderlich sein.
Für die Pflegeversicherung werden gegenwärtig, ebenfalls paritätisch aufgebracht, 3,05 v.H. bei den Beitragszahlenden mit Kindern verlangt, 3,4 v.H. von den kinderlosen. Ein großer Teil höherer Entgelte in der Altenpflege ab 1, September ist nicht finanziert. Also nicht da. Ab 1. September mussten Tarifentgelte gezahlt werden. Es gibt Fachleute, die sehen in der Altenpflege eine humanitäre Katastrophe heraufziehen.
Der Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung liegt im laufenden Jahr bei 2,4 v.H. – er wird 2023 auf 2,6 v.H. steigen.
Was ich aufschreibe, das ist keine Panikmache. Die soziale Sicherung läuft so, wie es aussieht, in eine existenzielle Krise.

Demokratische Initiative statt Verdrängung und Fatalismus

Rettung naht (Foto: © sira)

Am 27. November entscheidet die Basler Stimmbevölkerung, ob die Stadt bis 2030 klimagerecht wird. Das bewegt jetzt schon viel.
Vor wenigen Wochen, am 9. Oktober 2022, ist Bruno Latour gestorben, dessen Diagnosen zum Zustand der Erde wegweisend, verstörend und radikal bleiben. Zum Beispiel die Diagnose, dass die Verleugnung der Klimasituation und die Explosion der globalen Ungleichheiten miteinander verstrickt sind und dass sie von Eliten orchestriert werden, die beschlossen haben, in einer Welt ohne Realität und ohne Erde zu leben. Die einzigartige Bedeutung von Latour liegt darin, dass er solch erstickende Diagnosen verbunden hat mit dem Optimismus, den das «Terrestrische» uns auferlegt: Die Erde braucht uns nicht – wir aber sie. Das wäre die Grundlage jeder Klimapolitik. Nur eben: Wie wird diese gemacht? Und von wem? Und wie kommt man zu einem sinnvollen Klimahandeln oder gar zur «Klimagerechtigkeit»? [Aktualisierter Hinweis zum Abstimmungsergebnis: Zwei-Drittel-Ja: Kanton Basel-Stadt soll bis 2037 klimaneutral werden.]

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Höchste Zeit für zwei, drei, viele und noch mehr Ökoprojekte

Die Frage, ob unser jetziges Lebens- und Wirtschaftsmodell, dessen Alltag im Wesentlichen aus dem Herstellen, Ver/Kaufen, Konsumieren und Wegwerfen von Warenansammlungen besteht, weitergeführt werden kann, wurde vor etwa 30 bis 40 Jahren aufgeworfen. Es ist bisher beim Fragen geblieben. Ein Plädoyer für viele konkrete Projekte statt endloser Debatten über Großkonzepte.

Foto: © sira
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Putins Querfront

Screenshot: Website Valdai-Club

Das eurasische Pendant zum Weltwirtschaftsforum in Davos ist das jährliche Treffen des Valdai-Clubs in Sotschi. Sieht man im Tessin den Auftritt vieler Staatschefs, ist an der Schwarzmeerküste die Bühne für eine One Man Show bereitet. Putins neulich gehaltene Rede verdient es, sehr beachtet zu werden. Es ist keine von besonderer Raffinesse zeugende Rede, im Gegenteil; sie folgt dem plumpen, von George Orwell beschriebenen, für totalitäre Systeme typischen Muster. Aus Krieg wird Friedenssicherung, aus militärischer Aggression wird Verteidigung, aus Fakten werden Lügen. So steige sein Land im Gegensatz zum Westen nicht in einen fremden Hof ein. Die Anstiftung zum Krieg in der Ukraine…die Destabilisierung der weltweiten Lebensmittel- und Energiemärkte seien vom sogenannten Westen zu verantwortende Eskalationsschritte. Es sind die immer wiederkehrenden Redefiguren, die Putins Demagogie bedeutsam machen, denn sie sollen ihn als einen antikolonialistischen Kämpfer erscheinen lassen.

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„Der Laizismus ist kein Schwert, sondern ein Schild“

Caroline Fourest (Foto: edition Tiamat)

Beginnen wir hierzulande: Noch immer gibt es eine Fülle anachronistischer Gesetze und Subventionen, etwa bei der horrenden öffentlichen Finanzierung von Kirchentagen oder der Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, die Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten bis hin zu Kirchenredaktionen in deutschen Landes-Rundfunkanstalten. Daran wird sich auch in naher Zukunft wenig ändern. Zu stark ist der klerikale Lobbyismus, die Kirchenhörigkeit der Politik. Dabei gibt es einen klaren Verfassungsauftrag in Deutschland, die Komplizenschaft von Kirche und Staat zu beenden. Seit mehr als einhundert Jahren. Doch passiert ist bislang nichts.

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Die Wiederauferstehung des FJ Strauß in der FAZ

Als die FAZ den Artikel „Persönlichkeitsstörungen: So erkennt man Psychopathen“ veröffentlichte, dachte sie bestimmt nicht an ihren (Mit-)Herausgeber Berthold Kohler. Der räumt (drei Tage danach) in seinem Leitartikel „Braucht auch Deutschland die Bombe?“ zwar ein, dass man leicht für verrückt erklärt werden könne, wenn man Vorschläge wie die seinigen unterbreite. Er macht es trotzdem: Kohler hat erneut – und in bisher ungekannter Deutlichkeit – eine deutsche Atombombe gefordert. Also keine Teilhabe an einer europäischen, sondern eine ausdrücklich deutsche Nuklearstreitmacht, die auch wesentlich umfangreicher sein müsse als die force de frappe oder das britische Pendant. Denn sie müsse alle Varianten der Abschreckung bedienen können, gerade heute im Ukrainekrieg. Er argumentiert ganz im Sinne von FJ Strauß und beruft sich auch auf ihn.
Eine schnelle Reaktion verfasste der Energie-Fachmann Udo Leuschner in seiner Energiechronik. Auf Bruckstuecke wurde schon im Juni unter dem Titel „Atomare Propaganda“ darauf hingewiesen, wie begehrlich die FAZ „das Undenkbare“ denkt und dass man damit den Atomwaffensperrvertrag brechen würde. Eben das findet Kohler nun durchaus machbar; der Vertrag enthalte ja eine Austrittsoption. Auch zum 2+4 Vertrag äußert er sich „vieldeutig-unklar“, wie Leuschner feststellt. Kohler erklärt die Nachkriegsordnung von 1945f. komplett für obsolet und möchte sie durch eine Vorkriegsordnung ersetzen, in der Deutschland seinen berüchtigten „Sonderweg“ einschlägt. Der unvermeidlich folgenden Konfrontation mit Frankreich und Großbritannien ist er sich bewusst: Wer eine Formulierung „diesseits der Maginot-Linie“ wählt – statt diesseits des Rheins – befindet sich gedanklich in der Welt der deutschen Bestie, wie man es früher nannte. Oder er hat etwas zu sich genommen, was ihm nicht bekommen ist.

„Operation Meloni“ für Vaterland und Familie, gegen Arme und Geflüchtete

Das Kabinett Meloni (Unknown photographer auf wikimedia commons)

Die Partei Fratelli d’Italia (FdI) hat mit 26 Prozent der Stimmen die italienischen Wahlen im September 2022 gewonnen. Der Sieg ihrer jungen Vorsitzenden Giorgia Meloni – nun die Regierungschefin – wird als Zeichen einer Vorherrschaft der drei italienischen Rechtsparteien und als ein Hauch von Weiblichkeit, Jugend und Neuheit gefeiert. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Die rechte Koalition ist nach wie vor in der Minderheit, der Frauenanteil im Parlament ist geringer geworden, das Durchschnittsalter um sechs Jahre höher. Dagegen ist die senile Männermacht gewachsen und eine dreissig Jahre alte Koalition, die bereits dreimal gescheitert ist, kommt wieder an der Macht – mit Hilfe der «Operation Meloni».

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Es muss publiziert werden

Es ist ein Fundstück mit einer langen Geschichte, die erschüttert, beschämt, sprach-los macht: Nach über 60 Jahren veröffentlicht ein kleiner französischer Verlag unter dem Titel „Les chemins de l’aube“ [„Wege im Morgengrauen“] den Text des Franzosen Sylvain Vergara, der 1943 als 18jähriger in Paris verhaftet und 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert wurde. An der Geschichte seines Überlebens schrieb der junge Franzose aus einem protestantischen Pfarrhaus in Paris über zehn Jahre, warb um eine Veröffentlichung, schrieb an Gott und die Welt, so den späteren Nobelpreisträger und Buchautor Elie Wiesel („Die Nacht“), und erhielt bis auf Wiesels ermutigenden Brief aus dem Jahr 1985 („es muss publiziert werden“) nur Absagen. Bis zu seinem Tod vor dreißig Jahren.

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Innere Kolonisierung: Misshandlung von Minderheiten als Gewohnheitsrecht  

Bild: Alina Kuptsova auf Pixabay

Kolonialismus, so ist zu lesen und zu hören, beginne mit dem Griff nach billiger, leicht auszubeutender Arbeitskraft; daraus ergäbe sich die Rechtlosigkeit der kolonisierten Menschen und aus der Ausbeutung entstünden erhoffte Profite. Tatsächlich steht am Anfang von Kolonisierung jedoch die Überzeugung, dass die Objekte der Kolonisten minderen Wertes seien.

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Scholz’ Stil: „Langes Schweigen, hervorschnappendes Bestimmen“

“Basta in Slow Motion” und “Führung aus der Deckung”: Olaf Scholz und Angela Merkel, 12. März 2018
(Foto: Sandro Halank auf wikimedia commons)

Der weithin bekannte Produzent und Lieferant von politischer Führung hat jüngst aus seiner Schublade die Basta-Richtlinie gezogen und unter anderem seinen Ministern Robert Habeck und Christian Lindner unter Verweis auf Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung in Anlehnung an Artikel 65, 1 Grundgesetz geschrieben, er sei kompetent anzuordnen, dass nicht nur zwei, sondern drei Atomkraftwerke noch ein bisschen weiterlaufen sollen.
Der Rechtswissenschaftler Jannis Lennartz, Humboldt-Universität Berlin, hat diesen sehr seltenen Vorgang — Kundige wissen, zuvor habe nur Kanzler Adenauer 1956 in Sachen europäischer Integration zu diesem Instrument gegriffen — auf dem verfassungsblog akribisch-differenziert gewürdigt.

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Der DGB singt im SPD-Chor

Begleitmusik von Michael Vassiliadis
(Foto: Stefan Koch auf wikimedia commons)

Bei der Vorstellung der “Gaspreisbremse“ zeigte sich ein irritierendes Bild: Michael Vassiliadis, Chef der drittgrößten Mitgliedsorganisation im Deutschen Gewerkschaftsbund, trat als eine Art informeller Regierungssprecher vor Kameras und Mikrofone. Unter dem Motto “Sicher durch den Winter“ erläuterte der Vorsitzende der IG Bergbau-Chemie-Energie die Idee, Privathaushalten einen Monatsabschlag der Heizkostenrechnung als mageres staatliches Weihnachtsgeschenk zu erstatten. Preisbegrenzungen hingegen soll es frühestens im März oder April nächsten Jahres geben.

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