Das Dilemma der ARD: wenn „Unfehlbarkeit“ zum Hemmschuh wird

Screenshot: ARD-Website

Nicht nur die Despoten und Autokraten in Russland, der Türkei oder Belarus verbieten oder drangsalieren in diesen Zeiten die Medien. Auch ausgewiesene Demokratien scheuen sich nicht, Druck auf Medienredaktionen auszuüben. In Frankreich hat nach der Nationalversammlung jetzt auch der Senat dem Regierungsplan zugestimmt, die Rundfunkgebühren zu streichen. Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem, vollmundig in Sonntagsreden als Teil der DNA einer Demokratie bezeichnet, steht überall unter Legitimationsdruck, auch in Großbritannien und in Deutschland. Eines der größeren Probleme hierzulande stellt allerdings die ARD selbst dar.

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Barrierefreiheit und Teilhabe, weit ist der Weg

In meiner Heimatzeitung, im Bonner General-Anzeiger, fand ich einen vierspaltigen Korrespondentinnen-Bericht der Deutschen Presseagentur („Aufregung um Layla“) über einen „Partyhit“ mit diskriminierender, sexistischer Ballermann-Lyrik, der tagelang ein großes öffentliches Thema war.
Diskriminierend und wirklich beängstigend zugleich fand ich den Sachverhalt, den General-Anzeiger-Redakteurin Silke Elbern einige Zeit vorher beschrieb: Lediglich 30 Prozent der Haltestellen im Stadtbereich Bad Godesberg seien barrierefrei umgerüstet. Noch deutlich weniger als zum Beispiel im zentralen Teil der Stadt Bonn, wo es knapp 47 Prozent seien. Warum beängstigend? Weil nach dem geltenden Recht die Verpflichtung bestand, bis zum 1. Januar 2022 den öffentlichen Nahverkehr komplett barrierefrei zu gestalten.

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Resümee zum 9-Euro-Ticket: Licht und Schatten

In meinem Beitrag „9 Euro Ticket – ein Desaster mit Ansage“  habe ich vor der Einführung gewarnt. Begründung: Völlige Überlastung des Schienenverkehrs bis hin zu möglichen Katastrophen, die das Gegenteil von Werbung für „mehr Bahn“ bedeutet hätten. Aber meine Zwischenbilanz nach zwei Monaten lautet: Politisch überwiegt das Licht bei diesem zeitlich begrenzten Großversuch.

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Vorsicht Schlachtenbummler!  

Intromusik: terrasound.de

Auf dem Feld agieren 22 Spielerinnen, eine Schiedsrichterin und der Zufall. Drumherum fiebern 90.000 Leute im Wembley-Stadion plus viele Millionen Menschen vor Bildschirmen dem Ereignis entgegen, dass ein Ball eine weiße Linie überquert. Alles Geld, das dabei eingespielt wird, der ganze Kampf um den Sieg – „wir geben alles“ – können das Spiel nicht kleinkriegen. Das ganze Bohei um das EM-Finale in Wembley verdankt sich der Tatsache, dass der Ball rund ist: „Die Unsterblichkeit des Ballspiels beruht auf der freien Allbeweglichkeit des Balles, der gleichsam von sich aus das Überraschende tut.” (Hans-Georg Gadamer)

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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Woher weiß der Zufall, wie er es will?

„Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“1, stellt der Philosoph Odo Marquard fest und rechtfertigt damit eine gern verdrängte Störung des absichtsvollen Lebens. „Hufeisen bringen Glück, auch wenn man nicht daran glaubt.“ Für den Nobelpreisträger Niels Bohr, dem dieses Zitat zugeschrieben wird, war der Zufall in der Mikrophysik allgegenwärtig. Doch nicht nur die Wissenschaften hadern mit dem Zufall. Zufälle sind weder logisch, noch kann man ihnen für den Verlauf der Geschichte etwas Vernünftiges abgewinnen. Sie stören einfach den hegelianischen Weltgeist, passen nicht ins Konzept und halten uns ab vom Geplanten. Schließlich betreibt niemand ein Geschäft, um dann wegen einer grassierenden Infektion monatelang zu schließen. Was ist zu halten von den Störungen der Lebensentwürfe in Zeiten der Corona-Pandemie?

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Waffenstillstand fordern? Gut gemeint, nicht durchdacht

Wir haben, Herr Wittkowsky, etwa Mitte März mit Ihnen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Interview geführt. Was hat sich seither an Ihren Einschätzungen verändert? Fangen wir mit den militärischen Kräfteverhältnissen in der Ukraine an.

Andreas Wittkowsky: Russland hat den Schwerpunkt seines Angriffs in den Osten verlagert, nachdem der Blitzkrieg gescheitert ist, mit dem die ukrainische Führung in Kyiw „enthauptet“ und das Land verteidigungsunfähig gemacht werden sollte. Seitdem sind die Opfer sowohl für die Angreifer als auch die Verteidiger sehr hoch. Die ukrainischen Stellungen wurden und werden unter massivsten Artilleriebeschuss genommen, wobei die russische Armee ihre Feuerkraft voll ausspielen kann. Obwohl sich die Ukraine verbissen verteidigt, mussten sich ihre Truppen nach und nach zurückziehen.

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Zorn, der Geschichte macht

Es sieht aus wie ein schmales, schwarzes Notizbuch. Und Notizen, Beobachtungen und nachdenkliche Überlegungen sind es, die James Baldwin aufgeschrieben hat. Seinen Essay „Fremder im Dorf“ schrieb er 1955 in Leukerbad. Die Mutter seines Freundes hatte ihm ihr dortiges Chalet zur Verfügung gestellt. Mit einer Schreibmaschine im Gepäck zog der schwarze New Yorker mit Pariser Adresse in das Thermalbad: „Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hatte vor mir kein schwarzer Mann dieses kleine Dorf in der Schweiz jemals betreten.“ So beginnt Baldwin seinen Essay, der vor zehn Jahren erstmals in deutscher Übersetzung in der edition sacré in Zürich erschienen ist. Ohne Seitenzahlen und eine ISBN-Nummer. Und doch ein kleines, wertvolles Fundstück zum Thema Zorn der Schwarzen, der Minderheiten in den USA, Europa und weltweit [… in diesen Tagen, in welchen ein Papst Kanada besucht, um sich bei der indogenen Bevölkerung für seine Kirche zu entschuldigen].

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Macht hat, wer warten (lassen) kann  

Intromusik: terrasound.de

Andere warten zu lassen, sendet eine eindeutige Botschaft: Ich habe gerade Wichtigeres zu tun, du bist noch nicht dran. Wer eine solche Demonstration nötig hat, leidet offenkundig unter dem Eindruck, dass seine eigene Wichtigkeit unterschätzt wird. Da haben sich in diesen Tagen in Teheran die zwei Richtigen getroffen. Wer, wie Putin, den Papst und die Queen warten lässt, und wer, wie Erdogan, Putin warten lassen kann, muss nun wirklich der größte amtierende Herrscher seiner Zeit sein… oder eben ein ganz besonderer Vollpfosten.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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Kultur ist Luxus. Wer braucht da noch Systemrelevanz?

Deutschland wird von dringlichen Themen getrieben. Die documenta hat sich in der Top-Liste erfolgreich nach vorne geschoben. Wie sie das geschafft hat, darum müssten sich Medienwissenschaftler:innen kümmern. Ich äußere provisorisch den Verdacht, dass Medieneffekte eine vehemente Rolle gespielt haben, die die Klärung von Relevanz über Medieneffekte hinaus behindert haben. Jenseits des politischen Gewichts des „Skandals“ wurde wie erwartbar in Kassel auch wieder über die „Systemrelevanz“ von Kunst & Kultur diskutiert. Reden wir nicht über die dabei unterstellte Identität von „Kunst“ und „Kultur“. Das wird gerne in einen Topf geworfen. Ich tue das hier auch, verrühre sie aber hoffentlich nicht zu einem Brei. Die bekannte Ausgangslosung der Kunst-Kultur-Relevanz-Diskussion: „Kaum jemand bestreitet wohl, dass Kultur wesentlich ist für eine vitale Demokratie und Zivilgesellschaft.“ (mittendrin-kassel.de, ganz aktuell) Genau das möchte ich hiermit bestreiten. Nicht vehement – Emotionalisierung gibt es schon genug -, eher unbefangen begründend und zu Widerspruch animierend.

Kultur ist, wenn… 01
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„Und vor ihm her tanzt die Angst“

Collage: Andreas Galling-Stiehler

Angst vor Ansteckung, Krankheit, Tod; Angst vor der Schuld, andere anzustecken. Angst der Politik, die Kontrolle zu verlieren und nicht mehr entscheidungsfähig zu sein und vielleicht auch Angst davor, in Verdacht zu geraten, anderen Angst machen zu wollen – Angst ist im Zusammenhang mit der Pandemie ein klärungsbedürftiges Phänomen.

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Hitzeschutz: Sind Arbeiter „selbst verantwortlich“?

Foto: Ivan Radic auf wikimedia commons

Nachdem in Oregon ein Landarbeiter wegen Hitze starb, passte der US-Bundesstaat die Gesetze an. Seit dem 15. Juni 2022 gelten ausgerechnet in einem der nördlichen Bundesstaaten der USA die strengsten Regelungen für Menschen, die draussen arbeiten. Künftig müssen Arbeitgeber in Oregon ab einer Temperatur von 27 Grad (80 Grad Fahrenheit) kühles Wasser und Schattenplätze bereitstellen und zusätzliche Pausen gewähren. Arbeiter und Arbeiterinnen müssen geschult werden, wie sie Hitzeschäden vermeiden können und was im Notfall zu tun ist.

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… dann ist Herbst: Es muss j e t z t gehandelt werden

Seit Ausbruch der Covid 19- Pandemie läuft eine Debatte über den bestimmenden Einfluss im Dreiecksverhältnis

  • zwischen der Forschung im Viren- Infektionsbereich,
  • der Anwendung von Forschungsergebnissen
  • und den politisch entscheidenden Menschen in Parlamenten und Exekutive.

Im Miteinander oder Gegeneinander in und zwischen diesen drei Handlungsfeldern wird entschieden – es muss tatsächlich entschieden werden, die Lage klärt sich nicht von selbst -, ob die Pandemie ausläuft oder nicht. Und es ist eine Binse, dass solche „Lagen“ enorm viel Verwirrung stiften können. Minister Lauterbach kontra Stiko- Mertens, „Bild“ kontra Drosten, Stöhr kontra Lauterbach, Kubicki kontra Wieler etc.

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Apokalypse deluxe

Intromusik: terrasound.de

Das Modell mit Zukunft scheint der Schutzbunker am Strand zu sein, am liebsten mit Swimmingpool, Poolbar und Aquarium. Ursachen von Katastrophen ignorieren, für den Umgang mit den Folgen individuelle Lösungen suchen, wer keine findet oder sie nicht bezahlen kann, hat Pech gehabt. „Prepping“ findet immer mehr Fans, das hohe Lied der Resilienz wird nicht zufällig gesungen

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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Wo führt er hin?

Foto: fsHH auf Pixabay

Was spricht heute für das Urteil, dass die deutsche Bundesregierung in Sachen Krieg gegen die Ukraine in historischer Dimension versagt? Wer dieses Urteil teilt, kann das vortragen:
Die deutsche Politik trägt eine besondere Verantwortung für das Geschehen, hat sie doch sogar nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 als einzige in der EU mit ihrem engagierten Festhalten an dem Projekt Nord Stream 2 gegenüber Wladimir Putin klar signalisiert: Das Geschäft geht weiter. Es geht uns zwar auch um Werte, aber mehr noch um Energiepreise. Trotz dieser besonderen Verantwortung ragt die deutsche Politik bis heute, viele Wochen nach Kriegsbeginn, wiederum hervor: mit ihrer ausgeprägten Unentschiedenheit. Was kennzeichnet das Verhalten der Regierung Olaf Scholz?

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Gescheitertes Denken kommt oft vor

Gefangenendilemma (Bild: Giulia Forsythe auf wikimedia commons)

Wieder ist ein „offener Brief“ publiziert worden, der für eine Beendigung des Krieges in der Ukraine und für Verhandlungen statt Waffenlieferungen plädiert. Niemand bei Trost ist dagegen, dass dieser schreckliche Krieg so schnell wie möglich endet, und wahrscheinlich wären den meisten Beobachtern Verhandlungen lieber als Kampfhandlungen. Den Autorinnen und Autoren müsste also eine große Zustimmung entgegenschallen – aber das ist nicht der Fall. Genau besehen ist dieser [am 29. Juni 2022] auf ZEIT-online publizierte Aufruf eher ein Bewerbungsschreiben für Radiointerviews und Talkshoweinladungen (und das nicht ohne Erfolg), aber von der Sache her ist dieses Dokument ein wahrer Offenbarungseid, ein Dokument gescheiterten Denkens.

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