Freiheit nicht gegen, sondern aus Vernunft  

Im Jahr 2020 jährte sich der Geburtstag des Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel zum 250. Mal. Anlass für eine Welle von Veranstaltungen und Büchern zu Hegel, neue Biographien, philosophische Standortbestimmung, aber auch viele Versuche, die Aktualität dieses neben Immanuel Kant bedeutendsten Vertreters des deutschen Idealismus und seiner Philosophie für das Verständnis der Gegenwart und ihrer Probleme neu zu bestimmen. Der Philosoph Alexander Schubert legt mit klugem Abstand zum Hype des Jubiläumsjahrs einen schmalen, aber interessanten und gut lesbaren Band zu Hegel vor, der die Aktualität des hegelschen Denkens in einer ebenso fundierten wie originellen Weise deutlich macht.

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Frankreich vor der zweiten Runde: Wer entscheidet am 24. April?

Allons enfants de la patrie! Aber welche Richtung werden die Französinnen und Franzosen am 24. April wählen, um mit ihrer Nationalhymne den “jour de gloire” zu erleben? Auf dem scharf rechten Weg steht Marine le Pen mit weit geöffneten Armen und verspricht ihrem gespaltenen und radikalisierten Volk mütterlich eine „Heilung“. Eine Abbiegung nach scharf Links führt ins Aus: Der Volkstribun Jean-Luc Mélenchon hat es trotz der beachtlichen fast 22 Prozent nicht in die Stichwahl geschafft. Und auf dem Weg mittendurch wartet ein Mann auf seine Wiederwahl, der als Hoffnungsträger vor fünf Jahren begann, dann von den gelben „Warnwesten“ mit Hass überschüttet wurde und heute mit seinem eher knappen Vorsprung von 27,5 vor le Pens 23 Prozent nicht geschlagen, aber angeschlagen in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl geht: Emmanuel Macron wird um die Zustimmung seiner Landsleute kämpfen müssen. Die Zeit ist knapp und Skepsis ist angebracht. Wie konnte das nach seinem monatelangen Umfragehoch und seiner zumindest ökonomisch leidlich positiven Bilanz passieren? Ein nüchterner Blick auf die Landkarte nach den Wahlen vom 10. April ist aufschlussreich.

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Sucht nach Inszenierung, Sehnsucht nach Authentizität

Intromusik: terrasound.de

Digital Natives sollen sich selbst verwirklichen, ohne zu wissen, was Selbst und was wirklich ist. Die Sucht nach Inszenierung und die Sehnsucht nach Authentizität passen zueinander wie Arsch auf Eimer. Die App BeReal hat Erfolg mit dem Versprechen, „authentische Momente“ zu teilen, macht aber auch nichts anderes als alle anderen sozialen Netzwerke: Anbieter anzulocken, die Nachfrage anzuheizen und die User an die Werbeindustrie zu verkaufen.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

Weitere Folgen von ‘Auch das noch!‘ zum Hören gibt es hier, wer nachlesen möchte, findet hier einen monatlichen Rückblick.

Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand  

Glaskugel aus dem Wiener Sigmund Freud Museum
(Foto: Detlef zum Winkel)

Im Ukraine-Krieg rückt die Möglichkeit eines Waffenstillstands in immer weitere Ferne. Nachdem sich die russischen Truppen aus den Gebieten nördlich von Kiew zurückziehen mussten, wird nun im Ostteil der Ukraine heftig gekämpft. Russland will dort den gesamten Donbass und möglicherweise auch die gesamte Schwarzmeerküste erobern. Mit jedem weiteren Tag wächst das Ausmaß der humanitären Katastrophe, die der Krieg anrichtet. Die Frage ist, ob es in dieser Situation gelingt, den Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien mehr Geltung zu verschaffen, als es bisher der Fall war. Damit ein Waffenstillstand eine Chance hätte, müsste man ihn allerdings erst einmal wollen.

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Braucht “unsere” Wettbewerbsfähigkeit Kriegsverbrecher als Geschäftspartner?

Januar 2022 in Berlin: Protestaktion mit einer roten Linie gegen den Bau einer neuen Gaspipeline (Foto: Leonhard Lenz auf wikimedia commons)

Eine Mehrheit von 57 Prozent der Deutschen will unverändert Gas und Öl beim Kriegsherrn Wladimir Putin einkaufen, sagt eine aktuelle repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Dass die Mehrheit gegen ein vollständiges Embargo so klar ist, das ist auch das Werk von Martin Brudermüller, Vorstandsvorsitzender der BASF, der vor kurzem in einem vielbeachteten Interview vorhersagte, ein Embargo könne den hiesigen Wohlstand zerstören. Wie ticken und argumentieren deutsche Manager in solchen Kriegszeiten, Manager, deren Konzerne seit vielen Jahren von den besonders günstigen Gaslieferungen aus der Diktatur Wladimir Putin profitieren?

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Mit Green New Deal kann man den Leuten nicht kommen, wenn ihr Job gerade verlagert wird  

Sozial-ökologische Modernisierung war das Versprechen, das die Koalition ins Amt getragen hat. Gemeint ist die rot-grüne Koalition vor bald 25 Jahren, nicht die aktuelle Ampelregierung. Sehr weit ist diese Modernisierung seither nicht gediehen. Woran lag es damals und woran liegt es heute? Als Bremser des Projekts waren einmal die Gewerkschaften ausgemacht; den Herren Schröder und Fischer galten sie als solche. Die Unternehmerverbände waren von Rot-Grün durchaus angetan. Die Außenpolitik bezüglich Russlands traf auf höchstes Lob. Den Unternehmensvorständen galt das zerfallene Sowjetimperium als günstige Gasstation, dem man obendrein noch ein paar Gaskraftwerke verkaufen konnte. Das will man heute nicht wahrhaben, ist ja auch schon so lange her. Die damals verkündete ökologische Modernisierung hat es nicht sehr weit gebracht. Womit auch?

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„Das quirlige Leben dieser wunderbaren Stadt fehlt“

Foto: nextvoyage auf Pixabay

13. April. In Kyjiw ist es jetzt ruhig, die Bewohner sind es auch, nachdem unsere Verteidigungskräfte die russischen Invasoren vertrieben haben. Es gibt noch Barrikaden auf den Straßen, aber ohne bewaffnete Posten. Der Verkehr ist noch nicht wieder wie zu Friedenszeiten. Normalerweise fahre ich mit der U-Bahn ins Büro in dem Ministerium, für das ich arbeite. Aber da die U-Bahnschächte wochenlang als Schutzräume für Familien, Frauen, Kinder und alte Menschen dienten, nehme ich jetzt erstmal das Auto. Auch mein Mann kann wieder in sein Ministerium fahren und muss wie ich nicht mehr von zuhause aus arbeiten, als ständig Fliegeralarm war und Granaten und Raketen im Zentrum einschlugen.

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Enges Verhältnis der Rechtsextremen zu Russlands Oligarchen

Bild: johnhain auf Pixabay

Jüngst aufgetauchte Dokumente zeigen, wie vertraut Europas Rechte mit Kreml-nahen Oligarchen zusammenarbeiteten. Als sich Lega-Chef Matteo Salvini im Jahr 2015 im Europäischen Parlament mit einem Putin-T-Shirt zeigte, konnte man das damals noch als spätpubertäre Bewunderung für einen «starken Mann» abbuchen. Wenn SVP-Nationalrätin Yvette Estermann den russischen Einmarsch in die Ukraine am ersten Kriegstag als «nachvollziehbar» bezeichnet, dann lässt das aufhorchen. Estermann findet es zudem «verständlich, dass Putin nicht akzeptieren kann, wenn die Nato sich der russischen Grenze nähert. Er will lediglich das eigene Volk schützen.» Wundern sollte man sich in beiden Fällen nicht: Die Nähe rechter und rechtsextremer Exponenten und Parteien zu Putins Russland ist nicht neu.

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100 Millionen Dollar, 100 Peitschenhiebe und andere Haarsträubereien

Intromusik: terrasound.de

In der Schweizer Kult-Serie „Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney“ lautet das Mantra des leicht unterbelichteten Polizisten: „Die Welt ist aus den Fugen“. Womit er recht hat: Ein Mann lässt sich 87 Mal gegen Corona impfen, ein Tempolimit würde schon am Mangel an Verkehrsschildern scheitern, in den sozialen Medien macht der Hashtag #ByeByeChanel die Runde, Amazon arbeitet an einem Intranet, das Wörter wie „Gehaltserhöhung“ und „Gewerkschaft“ automatisch sperrt…

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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Von wem fühlt sich Putin verstanden? Von Peking im Osten und Rechtsextremisten im Westen

Wer weiß schon, was in den Kremlbunker vordringt, was dort wie gewichtet, was lächerlich gemacht und was ernst genommen wird. Schon deshalb empfiehlt es sich, eilige Engführungen der politischen Debatte nicht einfach mitzumachen. Der Mainstream, dafür gibt es ihn, weiß Bescheid. Aber „Augen geradeaus“ lässt den Horizont schrumpfen. In viele Richtungen zu schauen und zu denken, kann den Realitätsgehalt der Wahrnehmungen verbessern.

Deutsches Historisches Museum, Ausstellung “X für U: Bilder, die lügen”
(Foto: Fabian Arlt)
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Blockkonfrontationen als internationale Ordnung

Foto: Eva K. auf wikimedia commons

Darf ein US-Präsident, dürfen westliche Politiker aussprechen, dass der Führer eines militärisch mächtigen Staates, der einen Vernichtungskrieg gegen ein europäisches Land führt und den gesamten freien Westen bedroht, nicht an der Macht bleiben kann? Natürlich darf er das, natürlich müssen sie es. Theodor Roosevelt [nein, Franklin D. Roosevelt. Danke für den Hinweis] hat es getan, als die USA Hitler-Deutschland den Krieg erklärten. Winston Churchill hat es schon vorher getan, als Großbritannien noch allein stand in der Verteidigung der freien Welt. Charles de Gaulle hat es aus seinem Londoner Exil ebenso getan.

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Militarisierung ist die Spitze des Patriarchats  

Der Spiegel auf Facebook

Seit das Säbelrasseln von Putin begonnen und sich in einem ebenso verlogenen wie brutalen Krieg fortgesetzt hat, sehe ich unseren Sandkasten vor mir. Das Wettrüsten der Jungs mit allerlei technischem Gerät und Plastikwaffen. Erst die Drohgebärden, die Posen und Provokationen, dann die kleinen Territorialkämpfe, die schnell heftig werden konnten. Ab und zu floss Blut, aus einer Nase, von einem Knie. Einmal gingen Zähne verloren. Ich habe mich damals wie heute in erster Linie immer zuerst eines gefragt: Wie liesse sich verhindern, dass der eine über den andern herfällt?

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„Wie können Menschen so etwas Unmenschliches tun?“  

Bild: Микола Василечкоauf wikimedia commons

Die letzten Tage waren für uns ein Wechselbad von Erleichterung und Schrecken. Für uns in Kyjiw hat sich die Situation entspannt, nachdem die russischen Truppen sich zurückgezogen haben und von unsere Armee zurückgedrängt wurden. Es ist jetzt ruhiger, es gibt kaum noch Luftalarm. Meine Schwiegermutter, die in der Nähe wohnt, hat von ihrer Wohnung aus einen anderen Blick auf die Stadt. Sie hat mehrfach gesehen, dass unser Abwehrsystem anfliegende russische Raketen zerstört hat. Die machen einen guten Job. Das ist beruhigend. Aber dann kamen die furchtbaren Nachrichten und Bilder aus Butscha.Wir haben Freunde dort. Bis zum Krieg haben wir sie oft besucht.

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Im Nachhinein sind wir klüger, aber noch lange nicht klug – oder die Schwierigkeit das Richtige zu tun

Wir wissen jetzt alle, dass Deutschland Putin in naiver und egoistischer Weise auf den Leim gegangen ist. Wie konnten wir so dumm sein, billigerem und umweltfreundlicherem russischen Gas gegenüber anderen Alternativen den Vorzug zu geben? Wie konnten wir glauben, dass enge wirtschaftliche Verflechtung Putin davon abhalten könnte, die Konfrontation mit dem Westen zu suchen? Wie konnten wir 2008 eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens ablehnen, wo diese ihnen doch einen sicheren Schutzschirm gegen die russische Aggression geboten hätte? Wie konnten die USA und das Vereinigte Königreich die Ukrainer überreden ihre Atomwaffen abzugeben, wenn Sie dann nicht gewillt sind, britische und amerikanische Soldaten für die Sicherheitsgarantien in den Krieg zu schicken? Wie konnte Deutschland solange meinen, dass es besser ist, zusammen mit Frankreich eine Verhandlungslösung zu suchen, statt der Ukraine Waffen zu liefern? Im Nachhinein ist alles einfach und klar. Aber wenn unter Ungewissheit zu entscheiden ist (hat man Gewissheit, braucht man nicht zu entscheiden), ist die Lage unübersichtlicher.

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Ein Leben im Licht von Warnlampen

Intromusik: terrasound.de

Der Pianist Oleksii Karpenko spielte vor dem Bahnhof der Weltkulturerbe-Stadt Lwiw für die Geflüchteten und spielte auch weiter, als die Sirenen heulten. Während Alarmsirenen vor tödlichen russischen Raketen und die Europäische Zentralbank vor noch mehr Inflation und noch weniger Wachstum warnen, merkt man plötzlich: Unser Alltag ist eine einzige Warnorgie. Die Warnung ist das Passepartout der Risikogesellschaft.

Geschrieben und gesprochen von Joe Kerr

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